Die verschollene Beute. Wolfgang Wiesmann

Die verschollene Beute - Wolfgang Wiesmann


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und es waren nicht wenige, die ihm aus Mitleid den Tod in dieser Nacht wünschten.

      Freundinnen

      Marion Thüner war stinksauer, dass ihr Chef ihr an diesem Tag, an dem so viel zu erledigen war, eine zusätzliche Aufsicht nach der fünften Stunde aufgedrückt hatte. Der Krankenstand des Lehrpersonals an der Sythener Grundschule machte die Situation immer wieder schwierig. Fehlte nur eine Vollzeitkraft, musste die Last auf die wenigen anderen verteilt werden.

      Zwei Jahre bis zur Pension und ihr Chef konnte ihr den Buckel runterrutschen. Marion schluckte die bittere Pille mit stoischer Gelassenheit nach außen und ruppigem Zorn nach innen. Um zwei Uhr stieg sie auf ihr Fahrrad und radelte den Berg hinab zum neuen Baugebiet am Melkenweg, wo sie sich aus eigener Kraft ein kleines Eigenheim geleistet hatte. Wenn nicht mit 63, wann dann?

      Am Abend des nächsten Tages erwartete sie viele Besucherinnen. Ihr Cupcake-Kurs stand auf dem Plan. Dieses Event war äußerst beliebt und für Wochen ausgebucht. Diesmal hatte sie allerdings eine Ausnahme gemacht und ihrer neuen Nachbarschaft den Vorzug gegeben. Männer waren auch willkommen, würden aber erfahrungsgemäß nicht teilnehmen.

      Sieben Damen hatten sich angemeldet. Der Kurs war nicht billig, 50 €, inklusive aller Zutaten, aber ihren Nachbarinnen hatte sie einen Freundschaftspreis berechnet. Es wurde mehr gequatscht als gebacken, aber genau in dieser Kombination lag für viele Frauen ein Glücksmoment, auch wenn nachher die Cupcake-Kreationen von den Gatten eher belächelt wurden.

      Marion hatte sich einen Spickzettel an die Pinnwand geheftet. „Karin anrufen, wegen Erzählabend“ stand darauf. Karin Poggenpohl war ihre beste Freundin. Mit den Jahren war Marion aufgefallen, dass Karin immer öfter Dinge vergaß. Dazu zählten natürlich auch Verabredungen wie zum Beispiel für den heutigen Abend in der alten Mühle Sythen zu Marcel Bressons Vortrag.

      Autofahren klappte erstaunlicherweise noch recht gut. Da steuerte ein Automatismus die Abläufe, der nicht ans Erinnern geknüpft war, sondern ans vegetative Nervensystem. Es kam vor, dass Karin losfuhr und sie unterwegs vergessen hatte, wohin sie eigentlich fahren wollte. In einem solchen Fall rief sie Marion an, beschrieb ihr die Gegend und beide klamüserten aus, wo Karin gelandet war. Ein Navi musste her, hatte Marion vorgeschlagen, aber Karin weigerte sich beständig. Sie war ein Technologiemuffel. Außerdem meinte sie, den Weg von Dülmen nach Sythen ohne Hilfe jederzeit zu schaffen. Das wäre ein gutes Zeichen und eine zuverlässige Kontrolle, dass sie nicht dement wurde.

      Karin Poggenpohl war wie Senta Berger mit natürlicher Schönheit gesegnet. Der Zahn der Zeit nagte, aber man sah es diesen Diven kaum an. Wie Marion umgab Karin sich gerne mit gut gelaunten Frauen. Marion backte Cupcakes und Karin gab Töpferkurse. Nicht das Ergebnis stand im Mittelpunkt, sondern der Spaß. Das Rezept war so einfach, wie es wirksam war. Alle Frauen sahen nach einem Cupcake- oder Töpferkurs jünger aus. Ihre Lachfalten traten zwar deutlicher hervor, aber ihre zufriedene Ausstrahlung zauberte ein Stückchen echtes Glück auf ihre Gesichter.

      Es war also kein Wunder, dass die mit 58 Jahren verwitwete Karin sich aus dem Angebot gut situierter Bewerber den besten herausgefischt hatte. Hans-Günther Kamps, genannt Hannes, war der Glückliche. Seit drei Jahren hofierte er Karin als wäre sie die Queen of Celebs. Hannes bezog gutes Geld als Montageleiter eines branchenführenden Jacuzzi-Herstellers und war in ganz Deutschland unterwegs. Wenn er zu Besuch kam, verwöhnte sie ihn mit Leckereien aus dem eigenen Garten, wozu auch die prächtigen freilaufenden Hühner gehörten. Ihr kleiner Hof zwischen Hausdülmen und Dülmen, nahe der Grenze zu Börnste, zauberte Köstlichkeiten auf den Tisch, die man sonst nur im Dorfladen in Merfeld kaufen konnte, wenn dort mal wieder gebrutzelt und gekocht wurde.

      Marion rang seit einiger Zeit mit sich, ein vertrauliches Wort mit Hannes zu sprechen. Er musste auch bemerkt haben, dass Karins Gehirn nicht mehr richtig funktionierte. Oder bildete sie sich das nur ein? Dann wäre es schlimm, Hannes darauf anzusprechen. Sollte sie erst warten, bis etwas passierte? Dann würde sie von Gewissensbissen geplagt werden. Wie man es auch drehte, kein leichtes Kapitel ihrer Freundschaft.

      Marion griff zum Telefon und wählte Karins Nummer. Besetzt. Als sie es später erneut versuchte: keine Reaktion. Nach dem dritten Anlauf beendete sie frustriert ihre Versuche. Vielleicht töpferte Karin oder hatte das Handy im Wagen liegen gelassen. Andererseits müsste sie sich langsam fertigmachen, um pünktlich um sieben Uhr in der Sythener Mühle zu sein. Sie versuchte es ein letztes Mal. Keine Antwort.

      Dabei hatte Karin sich so sehr auf den Abend mit Marcel Bresson gefreut. Schon als Schülerin hatte sie das Fach Heimatkunde geliebt und laut Ankündigung ging es um die Zeit, als ihre Großeltern gelebt hatten. Karin konnte sich gut daran erinnern, dass ihre Oma immer Schwarz getragen hatte und Marion wusste, dass damals alle Männer eine Kopfbedeckung trugen, sonntags einen Hut und sonst eine Kappe.

      Enttäuscht dekorierte Marion sieben kleine Tischkärtchen und das Sortiment an Verziermasse für die Teilnehmer ihres morgigen Cupcake-Kurses. Sie wischte einmal durch die Küche, damit alles blitzblank war, schnappte sich ihre Steppjacke und fuhr mit dem Rad zur Mühle.

      Dienst

      Jacques blinzelte mit verkrusteten Augenlidern über seine Decke, verfolgte den Schwaden seines Atems und sah Jules neben der Tür sitzen. Er kritzelte etwas auf ein loses Blatt Papier, das er mit der Handinnenfläche stabilisierte. Was zum Teufel schrieb der Hänfling da?

      Jules hatte sein Amt als Assistenz-Buchhalter auch bekommen, weil er figürlich nicht dem männlichen Cliché entsprach. Ein eher zierlich gebauter Mann pass­te besser zu Bleistift und Papier. Jules machte sich nichts aus Muskelmasse, Stechschritt und grundsolider männlicher Koketterie. Sein Wahlspruch war: Leben und leben lassen. Mit anderen Worten: Jules war keine Gefahr für niemanden, ein echt guter Diener. So sahen es die Wachposten und ließen sich die Stiefel von ihm putzen, obwohl der Kommandant das nicht abgesegnet hatte.

      Grausam, jetzt in dieser Kälte aufstehen zu müssen, dachte Jacques und wollte seine Nase wieder unter die Filzdecke stecken. Neben ihm röchelte der Deserteur, als spuckte er die letzten Fetzen Leben aus. Widerwillig raffte Jacques sich auf, stützte seine Ellenbogen an der Matratze ab und sah einen Blutfleck vor dem Bett. Friedel Winkler hatte geblutet. Das konnte ein gutes Zeichen sein. Solange Blut floss, lebte er. Andererseits, wenn das Blut nicht mehr floss, hatte sich die Wunde geschlossen und er lebte erst recht. Er stand auf und schaute nach ihm. Kein merklicher Atem. Er fühlte Winklers Puls am Handgelenk. Gleichmäßig und schnell. Jacques gab sich damit zufrieden. Er hatte einen Tag in einem Lazarett verbracht, und immer, wenn die Ärzte Wunden behandelt hatten, war die Rede von einem schnellen Puls. Also hatte Winkler Schmerzen. Besser sie erschossen ihn bald.

      Hinrichtung im Morgengrauen, wie idyllisch. Passend zum allgegenwärtigen Krieg, ging es Jacques durch den Kopf. Aber würde der Kandidat überhaupt stehen können? Wenn nicht, würden sie ihn hängen.

      Winkler schwenkte die Schulter zur Seite und heulte auf. Jacques beugte sich zu ihm. „Wasser“, hörte er ihn keuchen. „Wasser.“

      Jacques winkte Jules herbei. „Wasser“, wisperte Winkler erneut. Jules ging nach draußen und tauchte eine Kanne in den Trog mit Regenwasser, das ursprünglich zum Löschen gedacht war, falls ein Blitz einen Brand auslösen würde, aber praktisch zum Reinigen von Stiefeln und Holzschuhen genutzt wurde.

      Mit aufgequollenen Lippen trank Friedel Winkler vom Kannenrand und spuckte danach Wasser und Blut auf den Boden. Vorne im Mund fehlten ihm zwei Zähne. Die Wunden hatten sich geöffnet, Blut lief seitlich über Lippen und Kinn. Sein Gesicht wies schwere Verletzungen auf, die sich über Nacht tiefer verfärbt hatten. Besonders um die Augen entstellten ihn Schwellungen und Platzwunden. Seine Versuche, sich aufzurichten, scheiterten. Er jammerte, als seine Arme kraftlos zur Seite knickten.

      Jacques befühlte beide Oberarmknochen. Da war nichts gebrochen, aber jede Bewegung verursachte ein schmerzverzerrtes Gesicht. Jules und Jacques schauten dann verdutzt zu, wie Liam sich der Sache annahm. Er zog einmal am ausgestreckten Arm und die Gelenkkugel saß wieder in der Pfanne. Friedel krümmte sich vor Schmerzen, aber bevor er wieder zur Besinnung kam, hatte Liam seinen anderen Arm gepackt und rangierte auch diesen beherzt zurück in die richtige Position.


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