Die verschollene Beute. Wolfgang Wiesmann
durch Mark und Bein. Die Neuen reckten ihre Köpfe. Die anderen warfen ihre Decke von sich, setzten sich auf die Bettkante und schlüpften in ihre Holzschuhe. „Antreten zum Frühstück“, sagte einer neben Jacques. Es gab Brotkanten, Rübenstücke als Zahnputzersatz und warmes Wasser mit Milch. Das musste für den Tag bis zum Abendessen reichen.
Jacques beeilte sich, um zu den ersten beim Frühstück zu gehören, aber die Portionen wurden vom Wachpersonal rationiert und streng überprüft. In Zeiten von Hunger konnten auch die eigenen Landsleute zu Wölfen werden. Das Gesetz des Stärkeren trat sofort in Kraft, wenn die Wachen wegschauten und das taten sie manchmal absichtlich.
Als Jacques und Liam vom Frühstück in ihr Quartier zurückkamen, war Friedel Winkler verschwunden. Der Blutfleck vor seinem Bett war aufgewischt worden und seine Decke war auch weg. Jules rief ihnen zu, sich zu beeilen. Es blieben noch zehn Minuten fürs Klo, und dann flott vor die Baracke zum Appell.
Jacques stand an vor den zwei Klos für hundert Männer. Endlich an der Reihe, suchte er Klopapier. Ein Fetzen Zeitung hätte es auch getan, aber da war nichts. Die Latrinen stanken nicht nur bestialisch, sondern ließen ihre Besucher auch wissen, dass der Krieg ein schmutziges Geschäft war.
Jacques hatte gehört, man könne auch später im Wald seine Notdurft verrichten. Da gab es wenigstens Blätter zum Abputzen. Er kniff also den Hintern zusammen und zog sich die Hose wieder hoch. Merkwürdig, dieses Loch in der Trennwand zwischen den beiden Klos. Er lehnte sich von vorne dagegen und fand, dass sein Schwanz genau dort hindurch passen würde, dachte sich aber weiter nichts dabei und ging.
Heimatgeflüster
Marion lehnte ihr Fahrrad an die Fachwerkwand der Sythener Mühle und las auf dem Plakat: „Heimatgeflüster“. Trefflich, dachte sie, das ließ viel Raum für kreative Spontanität. Marcel war schon da. Sein Auto mit dem roten Kennzeichen parkte gegenüber am Hotel Pfeiffer. Sie wählte schnell noch Karins Nummer. Wieder keine Antwort. Kurz vor sieben. Ob sie doch besser mit dem Auto kurz hinfuhr? Es waren nur sechs Kilometer. Dann hätte sie Gewissheit. Andererseits war sie kein Kindermädchen und Karin musste sich bei ihr nicht abmelden. Vielleicht war Hannes vorzeitig von der Montage zurückgekommen. Besorgt stellte sie ihr Handy auf lautlos und stieg die Treppen zum Gesellschaftsraum hoch.
Bresson saß auf einem Barhocker neben dem Tresen und unterhielt sich angeregt mit dem Vorsitzenden des Sythener Heimatvereins. Marion ging auf die beiden zu und wurde von Bresson stürmisch begrüßt. Küsschen links und rechts und Komplimente hagelte es auch. Augenblicklich schauten die meisten der Damen im Publikum auf. Der Belgier verstand es, die Herzen der Frauen zu erwärmen. Da ihm auch noch der Ruf eines Geschichtenerzählers nach alter Tradition vorausgeeilt war, hatte er bei den Damen jede Menge Vorschusslorbeeren auf dem Konto.
Die Karten für den Abend waren in Kürze ausverkauft. Der Raum war zum Bersten voll, aber für Bier und Korn war ein Spalier geschaffen worden und die ehrenamtliche Kellnerin servierte mit hochroten Wangen, was das Zeug hielt.
Der Vorsitzende schaute auf die Uhr, erhob sich, bat um Ruhe und stellte sich und den Gast des heutigen Abends vor. Marion erhielt das Wort und legte in ganz persönlichen Ausschmückungen dar, wie sie Marcel kennengelernt hatte und dass sie kaum fassen konnte, welch großes Glück es für die Gemeinde sei, durch ihn erhellende Einblicke in ein dunkles Kapitel der heimatlichen Vergangenheit zu erhalten.
Mit einsetzendem Applaus stand Marcel auf und bedankte sich. Er sprach zunächst allgemein über die Zeit vor hundert Jahren, als es weder TV noch Telefon gab, und die einzige Unterhaltung im Erzählen von Fantasiegeschichten und Mutmaßungen über die Schlechtigkeit der Nachbarn bestand.
Sein Großonkel Jules war ihm als kleiner Junge ans Herz gewachsen, weil er immer Zeit für ihn gehabt hatte. Bis ins hohe Alter von 96 Jahren habe er allein gelebt und bekam nur Besuch von ihm, seinem Urneffen, und einem befreundeten Postboten, mit dem er knobelte und Calvados trank. Etwas Geheimnisvolles umgab ihn, fügte Bresson an, und nannte es einen ätherischen Wesenszug, der nicht greifbar war, sodass man ihn nicht mit Worten beschreiben konnte.
Dann kam Marcel zum eigentlichen Thema und lenkte das Interesse seiner Zuhörer auf die Tagebuchaufzeichnungen seines Großonkels vom Kriegsgefangenenlager zwischen Haltern und Dülmen. Dabei bezog er sich besonders auf das Jahr 1918.
Das Waldgebiet rund um den heutigen Silbersee II war gerodet worden, um für 10.000 Gefangene Platz zu schaffen. Eine Art Stadt mit Bahnhof war entstanden. Jules war anfangs auch zur Zwangsarbeit eingeteilt worden. Er erinnerte sich besonders an den Boden, wo sie die Gräben tiefer ausschaufeln mussten. Dort kam weißer Sand zum Vorschein, den sie Silberküste nannten. Sie kneteten den nassen Sand in ihren Händen und sahen im goldenen Licht der untergehenden Sonne das Meer vor sich, wie es führerlose Boote an Land spülte, in denen sie entkommen konnten.
Später bekam Jules die Stellung eines Aushilfsbuchhalters. Eine schmeichelhafte Bezeichnung für die anfallende Drecksarbeit, die im Lager niemand verrichten wollte. „Mädchen für alles“ hatte Jules auf Deutsch gesagt, wenn er mir manchmal von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Und damit meinte er auch Leichen entsorgen. Die Zwangsarbeit wurde nicht von allen als Strafe empfunden, denn was wäre die Alternative gewesen? Sie hätten in den Baracken Langeweile geschoben, gefroren und wären den Schikanen der Wachen ausgesetzt gewesen. Probleme gab es hauptsächlich bei den neuen Gefangenen, die noch nie in einem Lager gewesen waren und vielleicht Verletzungen mitbrachten, die nicht behandelt wurden oder nicht behandelbar waren. So kam es zum Beispiel im Spätherbst 1918 zu folgender Episode:
Bei den Neuzugängen waren auch ein Mann aus Irland namens Liam und ein Franzose aus St. Germain mit dem Namen Jacques. Gleich in der ersten Nacht wurde außerdem ein Todeskandidat in Baracke 8 abgeliefert. Ein deutscher Deserteur von der Westfront. Er sollte am frühen Morgen erschossen werden. Der Kommandant musste das Todesurteil noch unterzeichnen, war aber verhindert. Man munkelte, er wäre betrunken vom Pferd gestürzt. Gerüchte, die von Gefangenen in die Welt gesetzt wurden, standen hoch im Kurs, denn sie hatten einen Unterhaltungswert. Ob wahr oder falsch interessierte eigentlich niemanden, da die Umstände meistens nicht von Belang waren. So breitete sich relativ schnell das Gerücht vom besoffenen Kommandanten aus. Oft war eben auch der Wunsch der Vater des Gedankens.
Jedenfalls überlebte Friedel Winkler seinen Todestag in einer Isolierzelle, in der ein Eimer mit Regenwasser, das von der Dachrinne tropfte, und ein Kanten Brot ihn vor gröbstem Hunger und Durst bewahrte. Die beiden Neuen, Jacques und Liam, den sie auch Rosskopf nannten, traten ihren ersten Arbeitstag im Feld an.
Eine Wache mit geladenem Gewehr und aufgesetztem Bajonett stand für eine Hundertschaft Gefangener bereit. Bei Flucht durfte ohne Warnung geschossen werden. Auch der Anschein einer Flucht hätte den Tod bedeuten können, sodass sich alle aus dem Tross an die Vorschriften hielten. Insgesamt zogen an diesem Morgen 800 Männer in Richtung Hausdülmen los. Sie überquerten den Heubach und betraten die Ländereien des Herzogs von Croy, der im Schloss zu Dülmen residierte.
Der beschwerliche Holperweg führte sie an Äckern vorbei, die von einzelnen Waldungen umgeben waren. Jacques vertrieb sich die Zeit mit Klagen. Die klobigen Holzschiffe an seinen Füßen rieben an Knöcheln und Ballen, sodass er fürchtete, den Tag nicht zu überleben. Liam, der sich an Jacques’ Fersen geheftet hatte, weil ihn das lose Mundwerk seines französischen Gefährten belustigte, erkannte den Vorteil der Holzlatschen, denn sie saugten sich nicht voll mit Wasser wie Lederstiefel und falls die Socken nass wurden, trocknete alles schnell an der Luft.
Der Weg zum Arbeitslager war mit losem Geröll aus Bauschutt, Bruch- und Natursteinen bedeckt worden, zwischen denen sich Erde und Laub verfangen hatte und das Gehen nicht einfach machte. Das Lager stammte aus dem Jahr 1914 und etliche Gefangene konnten sich noch an den Bau des Weges erinnern. Fronarbeit, die sie nicht bejammerten, sondern nur aushielten, weil sie singen durften. Je nachdem, wie streng der jeweilige Wachsoldat es hielt, durften sie Lieder aus der Heimat singen. Die vertrauten Klänge füllten sie mit immer neuer Hoffnung, eines Tages ihre Familien wieder in die Arme schließen zu dürfen. Die „Alten“ aus dem Lager summten im Trott ihrer Schritte. Das Summen beruhigte und vertrieb die zeitlosen Gedanken an zu Hause.
Jacques war ein sonderbarer