Mit der Kraft zu lieben. David V Tulman
können, das war unglaublich! Dazu in einem so wilden Wasser? Aber Vater war ein ausgezeichneter Schwimmer. Er hatte, selbst schwimmend, auf der Flucht von Russland, Mutter, die ein Kind erwartete, in einem winzigen Boot über die Donau gezogen. Aber das wusste ich damals noch nicht.
Die Reise dauerte wohl mehrere Tage und Nächte. Der Kutscher bat Vater oft zu singen. “Die Pferde ziehen dann besser”, sagte er und versuchte sich auch darin, unter Vaters Anleitung. So schliefen und erwachten wir mehrmals unter dem Firmament und brachen am Tage das Brot am Wegrand.
Auf einem steinigen Stolperweg kam dann ein neues Ereignis: Wir verloren ein Rad und der Wagen kippte gefährlich. Der Kutscher fluchte verzweifelt: “Jesus Maria! Wo nimmt man hier Männer her, den Wagen zu heben?”
Vater betrachtete ruhig die Achse, sie war nicht gebrochen und das Rad war auch heil. Er sagte leise: “Gott sei’s gedankt. Komm, nimm das Rad, wir werden es wieder einsetzen!” Wir Kinder waren natürlich mit Mutter längst vom Wagen heruntergekrochen, und da hob Vater alleine den Wagen an. Mir war, als wäre Samson selbst am Werke. Wie war es möglich, dass Gott in diese Hände, die nur die Seiten der heiligen Schriften wendeten, so viel Kraft gelegt hatte?
Unser Wagen rollte wieder, von Gesang begleitet, und ich sang mit. Aber eine Frage plagte mich jetzt sehr, sie ließ mich nicht mehr los. Ich musste mir eine Antwort holen, glitt vorsichtig hinter den Kutschersitz und flüsterte in Vaters Ohr: “Papa, du bist so stark wie Samson. Hast du Misstrauen gegen Frauen?”
Langsam drehte Vater sich um und sah mich erstaunt an.
“Nein, David, ich habe kein Misstrauen gegenüber Frauen. Misstrauen soll ein Mann nur vor sich selbst hegen. Ein Mann soll lernen, seine Kräfte zu beherrschen, er soll sie nicht von einer Frau beherrschen lassen! Unsere Schaffenskraft ist die heiligste Gabe Gottes.”
Still glitt ich zurück auf meinen Strohsack und musste sehr lange darüber nachdenken. Manche Dummheiten und Gefahren blieben mir erspart.
Doch es ist nötig, auf einer Reise von Zeit zu Zeit anzuhalten. Mutter bat darum, vom Wagen steigen zu dürfen. Wir verteilten uns im Walde, und als es wieder ans Aufsteigen ging, da fassten “die starken Hände Samsons” Mutter bei der Taille, so wie die Tänzer in Ungarn es mit ihren Tänzerinnen tun, und hoben in einem einzigen Schwung Mutter hoch hinauf auf unser Hab und Gut. Es war das erste Mal, dass Vaters Hände in meiner Gegenwart Mutter berührten. Als sein Gesicht Mutters Gesicht nahe war, überwältigte mich das Gefühl, dass Vater und Mutter zueinander passten! Mir klopfte das Herz vor Freude, es sah so lustig aus!
Auf dieser Reise lernte ich einen Vater kennen, den ich nie gekannt hatte.
Sajó-Kesznyetem
Im Morgengrauen, auf den Strohsäcken schaukelnd, sahen unsere Augen von oben auf unser neues Dörfchen Sajó-Kesznyetem: wenige Häuser mit einer Kirche in der Mitte und nicht weit von ihr ein jüdisches Lebensmittelgeschäftchen mit einem langen Hof dahinter und dort im Hof sollte unsere Wohnung sein; wir bemerkten bald, dass sie nur ein einziges Zimmer und eine Küche hatte. Im großen Durcheinander der abgeladenen Dinge fragte ich erstaunt: “Papa, wo ist hier die Synagoge?”
“Hier gibt es keine Synagoge.”
“Aber Papa, warum sind wir denn hergekommen?”
Vater antwortete ernst: “Für drei Juden.”
“Papa, warum bist du von Kurtakeszi fortgegangen, dort war es doch viel schöner!?”
“Wenn du nicht fähig bist, dir ein Buch zum Lernen zu holen, so schweig!”
In der Unordnung vorsichtig einen Weg suchend, erreichte ich eine Ecke zum Hinhocken und Überlegen. Aber die Gedanken wurden doch wieder laut: “Papa, ist es richtig, dass ein großer Rabbiner wie du dreißig Juden für drei verlässt?”
“Komm her! Hast du vergessen, was im Buch des Exodus steht: ‘Dort, wo du auch weilest und meinen Namen nennest, werde ich kommen und dich segnen.’ Du willst, dass ich mich nicht um drei Familien bemühen soll? Das wäre den Dienst an Gott verweigern.”
Eine Ohrfeige setzte den Punkt auf Vaters Rede. Die Schwestern waren vor Angst aus dem Zimmer gelaufen.
“Zum Zeichen deiner Reue setze dich nieder und studiere!”
Es wurde still, alles geschah ohne Lärm und fand seinen Platz. Die Mittagszeit ging vorüber, Mutter hatte nichts auf dem Esstisch bereitet. Wahrscheinlich hatte sie nichts mehr, um es darauf zu legen. Am Abend war es ebenso. Wir gingen ohne ein Wort still schlafen. Am nächsten Tag wirbelten die hebräischen Buchstaben wie kleine Insekten vor meinen Augen, ich konnte sie kaum mehr unterscheiden. In Gedanken versunken schaute uns Mutter lange an.
So oft ich das Wort “Mutter” niederschreibe, ist es meinem Herzen zum Weinen zumute. Mutter war von einer niemals verzagenden Liebe. Wenn sie ihre Hände auf meinen Kopf legte oder was immer sie tat und sagte, da war eine Mischung von Traurigkeit, Lächeln und Güte. Ich fühlte, Mutter litt. Vorsichtig glitt ich zu Frieda und Karoline, wir sahen uns an mit heißen Köpfen, kalten Händen und Fieber vor Hunger. Es ging auch dieser Tag vorüber. Vater hatte seine Bücher eingeordnet und las. Wir konnten von ihm keine Hilfe erwarten; noch dazu fastete Vater sehr leicht. Am nächsten Morgen wagte ich zu fragen: “Mamme, in der Scheune im Hof gibt es viele Maiskolben, die sind zum Trocknen aufgehängt und viele davon sind auf die Erde heruntergefallen!” Mamme verstand mich.
“Geh, David, wenn Gott unser Leben gefällig ist, wird Er erlauben, uns einige Kolben ‘auszuleihen’. Geh, hol so viele du tragen kannst!” Ich rannte. Die Kerne waren wie Goldkugeln! Ich nahm ‘so viele ich tragen konnte’.
Mutter sammelte Holz zusammen und bald brannte ein Feuer. Nun war das Warten schwer, der Mais musste lange gekocht und später auch lange gekaut werden, aber es war ein Festmahl!
“David, hast du den Segen vor dem Essen gemacht?”, fragte Vater. Ich war so erschrocken, dass ich nicht weiter kauen konnte und sagte mit rotem Gesicht: “Ja.”
Karoline flüsterte: “Es ist nicht wahr! Ich werde es Vater sagen.” Mit vollem Mund holte ich schnell den Segen nach und Vater verzieh mir – wohl ebenso wie der Allmächtige.
Am nächsten Morgen kam der Hausbesitzer sich nach uns erkundigen. Wir hörten ihn im Zimmer mit Vater sprechen:
“Herr Rabbiner, Herr Rabbiner” sagte er immerzu, als wolle er sich selbst damit beehren.
“Mamme, willst du nicht mit ihm reden?”
“Was soll ich ihm sagen, David?”
“Es war ja kein geliehener Mais, ich habe ihn doch einfach genommen.”
“Gut, gut, du hast Recht, wir haben einen Vorschuss genommen; ich werde es bei ihm abarbeiten.”
Mit Mutter kam immer alles in Ordnung.
Als der Herr gegangen war, rief Vater Mutter zu sich in das Zimmer. Wir Kinder stellten uns erregt an die Tür und lauschten. Da war die Stimme von Vater so traurig und still, dass es mir bitter weh tat.
“Also, Channe Fegele, drei Gulden die Woche, etwas Mehl und Kartoffeln. Du kannst dir Hühner halten und von dem Mais in der Scheune darfst du sie füttern. Hühner legen Eier, aus Eiern kommen Küken, aus Küken werden Hühner, die erneut Eier legen ... Wenn das so weiter geht, werden wir reiche Leute werden. Bist du zufrieden?”
“Ja, es wird schon gut sein”, sagte Mutter still. Wir bekamen keine Hühner, aber aßen morgens und abends ihren Mais.
Fragen und Zweifel
In Sajó-Kesznyetem war der katholische Geistliche gleichzeitig auch der Schullehrer und die Schule lag dicht neben der Kirche. Vater nahm mich eines Morgens bei der Hand und wir gingen zu ihm; mit der Bedingung, alles nachzuholen, wurde ich endlich angenommen. Mein Eifer brachte mich schnell auf den ersten Platz. Ein Talmudist muss doch zeigen, dass er lernen kann. Aber dies schien dem Herren Lehrer nicht zu gefallen.
Es gab hier auch noch eine andere Schwierigkeit. Mutter hatte meine besten Kleider