Ein kleines Leben. Matthias Klingenberg

Ein kleines Leben - Matthias Klingenberg


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mehr zu machen, als wir kamen, war er schon tot.“ Der Rettungssanitäter von eben zuckt mit den Schultern: „Mein Beileid.“ Sein Kollege räumt derweil die Gerätschaften wieder zusammen und trägt sie zum vor dem Haus stehenden Kran­kenwagen.

      Außer den beiden Sanitätern war noch ein Hausarzt aus dem Nachbardorf anwesend, der mich fragt, ob denn die Eltern nicht zu Hause seien. „Nein, die sind auf Kur“, erwi­dere ich. Die Großmutter im Sessel kommt für einen Moment aus den Tiefen des Beruhigungsmittelrausches zurück in das Hier und Jetzt: „Wir müssen Frau Krick anrufen! Wo habe ich bloß die Nummer?“ Frau Krick und der Tod waren in unserem Dorf nicht voneinander zu trennen; sie leitete das örtliche Beerdigungsunternehmen, eine „Dorfinstitution“, wie der Fri­seur­salon des Toten eine war. Die Sanitäter verab­schieden sich, eine Schiebetür knallt metallen und der Kran­kenwagen fährt ab.

      „So, mehr kann ich auch nicht für euch tun. Ich komme dann morgen nochmal vorbei, um ihr eine Spritze zu geben“, sagt der Arzt. „Am besten ihr ruft jetzt irgendwelche Ver­wandten an, dass jemand vorbeikommt ...“, fügt er hinzu und geht. Ich schaue meinen Bruder an. Wir beide sind einiger­maßen überfordert mit der Situation. Keiner von uns traut sich, hochzugehen und den Toten anzuschauen. Ohne den Toten selbst gesehen zu haben, ist die Situation aber reichlich surreal. Habe ich das vielleicht alles nur geträumt?

      Meine Oma sackt wieder weg, nicht ohne vorher wiederholt zu haben, dass Frau Krick anzurufen sei. Ich suche im hand­geschriebenen Telefonregister meines Großvaters die Nummer des Beerdigungsunternehmens, finde sie dann aber schließlich im Örtlichen Telefonbuch. Die Wählscheibe des grünen Telekomapparates surrt. Frau Krick verspricht, am frühen Morgen vorbeizukommen. Ich versuche, meine Tante zu errei­chen, die ein paar Dörfer weiter wohnt. Es ist mitten in der Nacht. Irgendwann erreiche ich eine verschlafene Stimme; ihr Mann verspricht ebenfalls am Morgen da zu sein.

      Was folgte, war eine der längsten Nächte meines Lebens: Die Großmutter zwischen wachen und apathischen Bewusst­seins­zuständen hin- und herschwankend: plötzlich ganz wach, rational und abgeklärt, dann wieder weit weg und vor sich hin­starrend. Eine zutiefst seltsame Atmosphäre: oben der tote Groß­vater und unten seine unzurechnungsfähige Frau mit ih­ren beiden Enkelkindern.

      Für mich war diese Nacht eine Initiation. Ich bin in dieser Nacht erwachsen geworden.

      In der Frühe – wir waren wohl kurz auf dem Sofa eingedöst – kommt die Beerdigungsunternehmerin mit ihrem Sargkatalog. Es handelt sich um ein damals noch geläufiges Fotoeinsteck­büchlein, auf einer Albumdoppelseite haben genau zwei Fotos Platz. Links sieht man Särge, rechts den dazugehörigen Blu­men­schmuck. Unter jedem Bild steht der Preis. Umso weiter man blättert, umso teurer werden die Erdmöbel und umso auf­wendiger die Dekoration. (Ob diese Profiteure des Todes wohl heute ein Tablet mitbringen und langsam von einem Sargmodell zum anderen wischen?) Frau Krick löst die angespannte Situation professionell mit einem „Herzliches Beileid“ und meint, jetzt müssten „wir“ ja dieses tun und jenes aussuchen. Die „Wir“-Form verfolgt pädagogische und kauf­männische Ziele. Mich widert das Ganze an. Wir wählen einen einfachen hellen Holzsarg. Ich glaube das billigste Modell. Die Abneigung, der guten Frau Krick Geld in den Rachen zu schmeißen, befördert diese Entscheidung. Außerdem hätte der Tote nicht gewollt, für seine Beerdigung mehr als das unbe­dingt Notwendigste auszugeben. Später bekomme ich dann kritische Bemerkungen von nahen Verwandten zu hören, denen der letzte Gang ihres Vaters zu schnöde war. Gestört hat mich das aber nicht.

      Gegen neun kommt dann die ältere Tochter, meine Tante, mit ihrem Mann und eine künstliche Geschäftigkeit erfüllt das Haus. Der Onkel sitzt im Stubensessel liest und kommentiert lauthals die Tageszeitung. Wir beide, mein Bruder und ich, sind wieder die Enkelkinder, die man nicht allzu ernst nehmen muss. Mein Erwachsenensein hat nicht lange angehalten. Irgend­wann kommen dann auch unsere Eltern zurück. Der Tod des Großvaters wird Normalität, die Leiche eingesargt und schnell weggebracht.

      Der Geruch des Desinfektionsmittels erfüllt den Flur noch tagelang und ist mir bis heute nicht aus der Nase gegangen. Die Person selbst, die sich da für immer entmaterialisiert hat, spielt bei all diesem schon kaum noch eine Rolle. Mit Es-muss-ja-weitergehen-Phrasen wird die Rückkehr in die Alltagsroutine eingeleitet.

      Mein Bruder und ich gehen nach der Beerdigung nicht zum anschließenden Kaffeetrinken in die Dorfkneipe – ein sinn­loses, hohles Ritual, dem Ereignis und dem Toten unwürdig. Wir nehmen stattdessen unsere Räder und fahren zum nächst­gelegenen Baggersee.

      Transgenerationales Schweigen

      Was mache ich hier nur? Ich sitze seit Wochen, ja Monaten, am Schreibtisch, betrachte uralte Schwarz-Weiß-Fotografien, ana­lysiere Dokumente und Urkunden, treibe mich in tenden­ziösen Internetforen herum und schreibe Notizen in mein kleines rotes Moleskine. Der Zufall will, dass ich dies genau im hun­dertsten Geburtsjahr meines Großvaters tue, um den es bei den ganzen Recherchen ja geht. Das habe ich aber erst bemerkt, als ich im Werk des Nachkriegsschriftstellers Arno Schmidt nach parallelen Mustern, Einstellungen und Thema­tiken suchte und mir hierbei sein Geburtsjahr 1914 auffiel. Was – an anderer Stelle hierzu mehr – nicht die einzige Parallele bleiben sollte.

      Wenn ich die Fragen stelle: Wo war mein Großvater Karl Krüger im Zweiten Weltkrieg? Was hat er dort getan? Was hat man ihm damals angetan? Dann frage ich mich zugleich, warum ich das wissen will, denn dies war ja im Grunde die Frage der ersten Nachkriegsgeneration, der ich gar nicht angehöre. Ich bin 1972 geboren. Als mögliche Antwort könnte aber herhalten, dass sich meine Eltern dieser Frage ja nie gestellt haben, mein Fragen also ein ‚nachholendes‘ Fragen ist. So ganz will mir das jedoch nicht einleuchten. Denn das würde ja heißen, dass ich heute hier nicht sitzen würde, wenn meine Eltern ihre Eltern gefragt und meine Großeltern zu einer Auseinandersetzung gezwungen hätten. Ist da vielleicht etwas dran? Vielleicht insofern, als dass meine heutige Beschäftigung mit dem Leben meines Großvaters definitiv eine andere wäre, wenn es in meiner Jugend einen Dialog, einen Austausch über seine Vergangenheit zwischen den drei Generationen gegeben hätte. Dieser Austausch hat aber nicht stattgefunden: Meine Eltern haben nicht gefragt, die ungestellte Frage wurde nicht beantwortet und das Gesamtthema beschwiegen.

      Es geht im Kern um Schuld und Leid, aber auch um Erkenntnis. Um eine empathische, die nachfühlen und ver­stehen will. Es will mir erscheinen, als ob der Fluch der Großelterngeneration bis heute auf uns lastet und dies nicht nur in einem kollektiven Sinne einer viel beschworenen deutschen Verantwortung oder Kollektivschuld, sondern auch in einem individuellen und psychologischen. Es ist ein dunkler Schatten, der kaum sicht- oder wahrnehmbar – und oft nicht einmal mehr seinem Ursprung zuordenbar – auf uns lastet. So fühlt es sich für mich zumindest gerade an.

      Solche über Generationen hinweg weitergegebenen Trau­ma­erfahrungen sind mir zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern begegnet. In den Jahren 2009 bis 2013 koordinierte ich ein türkisch-armenisches Versöhnungsprojekt, das versuchte, junge Erwachsene aus bei­den Ländern über die Arbeit mit Zeitzeugen einander näher­­zubringen. Die Teilnehmer des Projekts führten unter wis­sen­schaftlicher Anleitung Interviews mit älteren Armeniern und Türken durch. In Armenien konnten wir über 100 Zeit­zeugen-Interviews, teilweise bis zu zwei Stunden lang, trans­kri­bieren, sodass ein ganzes Archiv an Geschichten entstanden ist. Es war für mich sehr faszinierend zu hören, wie detailliert sich diese Menschen an etwas erinnerten, was sie selbst nicht erlebt hatten. Ja, an etwas, was sogar ihre Eltern nicht selbst erlebt hatten. Einige der Interviewten waren sogar so jung, dass es sich bei ihren Erinnerungen schon um Überlieferungen der Urgroßeltern handelte. Kein Wunder, waren doch die Verbrechen um das Jahr 1915 begangen worden. Das, an was sie sich erinnerten, war also über bis zu vier Generationen weitergegeben worden. Auf türkischer Seite, also der Täter­seite, herrschte eine ähnliche Situation wie bei uns vor: im Prinzip nicht viel mehr als Schweigen.

      Die Armenier, mit denen unsere Projektteilnehmer spra­chen, vermittelten mit ihren überlieferten Geschichten über Mord, Vergewaltigung und Vertreibung vor allem eines: ein tiefsitzendes transgenerational überliefertes Trauma. Es gibt Studien hierzu, die besagen, dass diese traumatischen Erleb­nis­se mit zunehmender


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