Ein kleines Leben. Matthias Klingenberg
sich mehr und mehr aus dem kulturellen Gedächtnis der Nation speiste und dass der Anteil tatsächlich überlieferter Erinnerungen der Vorfahren abnahm.
Die Sozialpädagogin Kristina Tambke spricht davon, dass traumabezogene Gefühle und deren Aufarbeitung an die nachfolgenden Generationen delegiert werden. Dies trifft sowohl auf die Armenier als auch auf meinen Untersuchungsgegenstand zu. Das nicht thematisierte angerichtete und ertragene Leid, die fehlende Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit mündeten und münden in emotionales Schweigen. Eine Stille, die die erlittenen Traumata emotional verschweigt. Wer in dieser Atmosphäre aufwächst, bleibt hiervon nicht unberührt. Emotional verschlossene Eltern und Großeltern erziehen Kinder, die ebenfalls verschlossen sind. In der Familie entsteht ein generationsübergreifender Verdrängungsmechanismus. Die Kinder nehmen Teile dieses Leids unbewusst auf und machen es zum Teil ihrer eigenen Identität, ohne die eigentlichen traumatischen Erlebnisse zu kennen. Es ist dann ein fremder Teil des eigenen Ichs. Da das Trauma an sich gar nicht mehr bewusst ist, ist es umso schwerer, diese Delegation zu erkennen und sie aufzuarbeiten. In der Familie herrscht ein unausgesprochenes Gebot, dass über das Trauma selbst und auch über seine generationsübergreifende Präsenz nicht gesprochen wird. Die Weitervererbung des Traumas plus Schweigegebot werden zu einer belastenden Krankheit für die Familie. Das Problem wird aber gar nicht erkannt, die eingeschränkte emotionale Kommunikationsfähigkeit, da nicht erkannt, als normal angesehen. In einer solchen Umgebung bin ich aufgewachsen, in einer ähnlichen scheinen meine Eltern aufgewachsen zu sein.
Ich bin immer noch dabei, mir erklären zu wollen, warum ich hier sitze, warum ich das Leben meines Großvaters erforsche, warum ich wissen will, wo er zwischen Mai 1942 und Kriegsende war. Denn über diese Zeit gibt es keine Hinweise. Alles scheint wie ausgelöscht, vernichtet vielleicht. Vielleicht will ich verstehen, wieso es so war, wie es war in meiner Familie. Vielleicht will ich mir erklären, warum ich selbst so bin, wie ich bin, und nicht anders kann.
#Reminder
Ich gehe auf und versinke im Schlamm meiner Erinnerungen
Überall an den Wänden meines Zimmers hängen Reminder
Ihre vermeintlich heimelige Nostalgie starrt mich an
Ihre bohrenden Blicke schnüren mir die Kehle zu
Ich will sie in einen großen Umzugskarton werfen und wegsperren im Keller
Aber sie wehren sich so heftig, sie schreien: „Fass uns nicht an! Lass uns da, wo wir sind!“
Sie drohen auszupacken und die ganze Wahrheit zu sagen
Ich lasse sie also, wo sie sind, und versuche, an ihnen vorbei, durch sie hindurch zu schauen
Manchmal setze ich mich in ein anderes Zimmer, um ihnen zu entkommen
Schon zieht es mich zurück hierher
Das Arbeitszimmer meines Großvaters
Das Arbeitszimmer meines Großvaters war vielleicht acht Quadratmeter groß. Rechter Hand stand ein massiver dunkelbrauner Holzschreibtisch im Art-Deco-Stil, schätzungsweise aus den 1930er-Jahren. Links und rechts hatte er Türen, hinter ihnen ausziehbare Läden in hellem Holz mit englischem Zug. In der Mitte eine mächtige Schublade, deren Frontplatte sich stilbrechend in den Raum hineinwölbte. Rechts neben dem Schreibtisch stand ein Eckschrank aus den 1960er-Jahren, in dem Aktenordner und – wenn ich mich recht erinnere – Fotoalben lagerten. Über dem Schreibtisch, in die Wand gedübelt, aus derselben Zeit, ein Regal bestehend aus zwei Brettern, die auf einem schwarzen filigranen Metallgerüst auflagen. Auf den Regalbrettchen standen kleine Modelle von Kriegsflugzeugen (eine Hawker Hurricane der Royal Air Force war darunter) – ich erinnere mich daran, wie sie Karl an seinem Schreibtisch sitzend zusammenbaute. Ich fand das damals komisch, im Sinne von seltsam, ihn so dasitzen zu sehen, einen erwachsenen Mann, der Plastikflugzeuge zusammensteckt. Ich habe ihn damals gefragt, warum er das macht, und ich glaube, ein „Einfach nur so!“ als Antwort erhalten zu haben. An der gegenüberliegenden Wand zum Schreibtisch standen ein Tisch und ein kleines Sofa. (Oder war es ein Sessel? Hier verschwimmt meine Erinnerung.)
Die Großeltern wohnten in einem Fachwerkhaus mit angebautem Friseursalon, ihrem Friseursalon. Vom Flur aus ging es links in die Küche und rechts in das Wohnzimmer, die Stube. Vom Flur führte eine gedrehte Holztreppe in das zweite Geschoss, wo sich auch das Arbeitszimmer befand. Setzte man einen Fuß auf die Treppe, so knatschte sie wie die Sargdeckel in gruseligen Vampirfilmen – so zumindest die Wahrnehmung des damals 14- oder 15-Jährigen. Man trat also in die Wohnung ein, sah die Großmutter in der Küche werkeln, wollte aber zum Großvater, fragte, wo er denn sei, bekam die Antwort „Im Arbeitszimmer“, stieg die quietschende Treppe hinauf und sah ihn gedankenversunken an seinem Schreibtisch sitzen. Erfreut mit einem Lächeln schaute er dann auf. Halb weiter mit seinen Schreibarbeiten beschäftigt, halb sich schon auf die Anwesenheit seines Enkels konzentrierend, fragte er schließlich: „Na, was ist los?“ oder nutzte eine andere belanglose Floskel, um in den Dialog einzusteigen. An einem dieser Tage, es muss Mitte der 1980er-Jahre gewesen sein, habe ich angefangen, ihn nach dem Krieg zu fragen.
Was hatte damals nur meine Neugier am Krieg geweckt? Sicherlich spielte da die Schule eine Rolle, die das „Dritte Reich“ jedes Jahr aufs Neue thematisierte (den Holocaust hingegen fast gar nicht!). Eine Rolle spielten bestimmt auch meine musikalischen Vorlieben, geprägt durch den Plattenschrank meines Vaters, der zwar selbst nie ein Hippie gewesen war, ihre Musik aber liebte. Ich hörte mit großem Interesse Eric Burdon & The Animals, versuchte, die Texte rauszuhören, zu verstehen, um was es ging – was mir dank des fortschreitenden Englischunterrichts auch immer besser gelang. Burdon sang über den Vietnamkrieg, über Protest, Dagegensein und einen anderen, mir exotisch und spannend erscheinenden Lebensstil, weit weg von meinem Dorf. Irgendwie kam eins zum anderen und die Frage der 68er war meine Frage geworden, wohl auch, weil sie von meinen Eltern nie gestellt worden war.
Ich wollte aber nicht nur wissen, was mein Großvater womöglich im Krieg verbrochen hatte, sondern war insgesamt an der Schilderung des Krieges und des Erlebten interessiert. Diese eher grundsätzliche Neugier überwog ganz klar. Zorn verspürte ich jedenfalls keinen. Das unterschied mich von den Fragern der ersten Generation, die es ja in unserer Familie nicht gegeben hatte. Die Kriegserlebnisse der Großväter waren bis dato kein Thema gewesen, es war in unserer Familie, als wäre ein geheimes Schweigegelübde verabredet gewesen: Weder meine nach dem Krieg geborenen Eltern noch meine Großeltern redeten darüber. Wann immer man das Thema anschnitt, erntete man nichts als eine Stille, gefüllt mit Unbehagen, oder ein paar nichtssagend hingeworfene Sätze, deren Intonation eindeutig keine Lust auf ein Weiterfragen oder Nachhaken machte.
Nichtsdestotrotz nahm ich also eines Tages, vielleicht im Jahr 1986, all meinen Mut zusammen und begann, meinen Großvater zu fragen, am Anfang ganz allgemein und unverfänglich, etwa so: „Sag mal Opa, wo warst du denn überall im Krieg? An welchen Orten, meine ich?“ Er war wahrscheinlich sehr verdutzt, als er zum ersten Mal eine solche Frage aus dem Mund seines halbwüchsigen Enkelsohnes hörte. Und ich bin mir sicher, dass er die Frage mit einer Handbewegung abgetan hätte, wenn sie jemand aus der Generation seiner eigenen Kinder gestellt hätte. Aber seinem Enkel konnte er eine Antwort schlecht abschlagen. Er war ja unverdächtig. Er zögerte, wog ab und entschied sich dann dafür, nicht einfach zu schweigen, sondern zumindest irgendetwas zu entgegnen. Vielleicht dachte er: „Na gut, ich werde jetzt irgendeine lustige Anekdote erzählen und dann ist wieder Ruhe.“ Was er dann bei unserer ersten Interviewrunde in seinem Arbeitszimmer erzählte, war dann auch mehr eine Anekdote. Ich glaube, es ging um eine Begebenheit zu Beginn des Krieges, bei der Besetzung Frankreichs. Er hatte einer Nachschubeinheit angehört und sie hatten in einem besetzten Dorf oder auf einem Landgut den Sektkeller geplündert. Für die Kameraden hatten sie anschließend eine feuchtfröhliche Party veranstaltet. Das ist das, woran ich mich so ungefähr erinnern kann. Schon früh fragte ich ihn, ob er denn auch im Osten an der Front gewesen sei, zum Beispiel in Stalingrad. Gelogen hat Karl mir