Ein kleines Leben. Matthias Klingenberg

Ein kleines Leben - Matthias Klingenberg


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steht, für die Kamera aufgestellt. Der Bunker auf dem Foto ist an mehreren Seiten durch Granateinschläge schwer beschädigt, die Tür ist heraus­gerissen und eine entrückt daliegende Leiche eines Soldaten der Roten Armee liegt etwa 5 Meter vor dem Eingang zum Bunker. Die drei deutschen Soldaten lächeln in die Kamera.

      Heute befindet sich dieser Bunker innerhalb einer in der Chrustschow’schen Zeit gebauten Vorstadtsiedlung: Etwa zehn planmäßig angeordnete, mittlerweile halb verfallene zweistö­ckige Mehrfamilienhäuser rahmen den Bunker ein, unmittel­bar neben ihm ein Kinderspielplatz mit Rutsche und Schaukel. Auf einer Bank sitzen die Alten der Siedlung und schauen dem Treiben im und um das DOT zu. Am Ende der Führung, die Pawel mit viel militärhistorischem Wissen anreichert, spielt ein Alter, der wohl zu Pawels Gruppe gehört, selbstgeschriebene und sowjetische Lieder auf dem Schifferklavier.

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      Spätestens jetzt habe ich gemischte Gefühle, was den Charakter der Exkursion betrifft. Ich stelle mir die Frage, was eigentlich die Ziele und Überzeugungen dieser Hobby-His­toriker sind: Historische Überreste wie diese DOTs, nos­talgische Gesänge, technische Daten über die Schussfähig­keit der Maschinengewehre usw. usf. Aber was erwarte ich eigent­lich von einer solchen Gruppe hier in Kiew, einer Stadt, die sich an ihrem Eingang selbst „Stadt der Helden“ nennt? Und waren es nicht auch Helden, diese Männer und Frauen in der Roten Armee, die Europa vom Faschismus befreiten?

      Es ist mitnichten so, dass die Gruppe irgendetwas Nega­tives über die deutschen Soldaten sagt: Ihre Gräueltaten, Babi Jar oder das Massaker in Schytomyr, um nur zwei von Deutschen vor Kiew begangene Großverbrechen zu nennen, werden gar nicht erwähnt. Niemand wirft mir – als Vertreter der deutschen Seite, als der ich hier, ob ich es will oder nicht, zweifelsohne angesehen werde – irgendetwas vor. Ganz im Gegenteil: Die Männer rund um Pawel bewundern die Sol­daten des Weltkriegs. Diese Bewunderung gilt nicht nur den eigenen, sondern auch den deutschen Soldaten, und dies, obwohl Wehrmachtsangehörige und Sondereinheiten auf brutalste Art und Weise mehrere 100.000 Zivilisten abschlach­teten. Der Kern dieser Bewunderung hat, so glaube ich zu­mindest, etwas mit dem Männlichkeitsbild dieser Ukrainer zu tun: Was waren das damals als Mann noch für gute Zeiten, als ein Mann noch ein Mann sein konnte – es Dinge gab, für die es sich zu töten und zu sterben lohnte. Die Jetztzeit mit all ihren verwischten Grenzen und Unklarheiten überfordert sie; sie sehnen sich zurück nach einer – in ihren Augen – einfa­cheren Zeit.

      Wir fahren weiter zum letzten DOT unserer Seminar­exkursion: In einem Waldstück, etwa ein Kilometer entfernt von der großen Magistrale, liegt ein weiterer Bunker mit einem langen unterirdischen Gang unter einem künstlich angelegten Hügel. Randalierer haben das Hinweisschild auf DOT Nr. 179 in den Graben geschmissen. Ich mache ein Foto vom selbst­gemachten Schild, ein angenagelter pfeilförmiger Weg­weiser ist mit „DOT 179“ beschriftet, der andere, in die entgegen­gesetzte Richtung zeigend, mit „Zur Frontlinie“. Wir gehen auf eine Lichtung zu, und ich erkenne schon vom Weiten, dass sich mehrere Personen in ungewöhnlicher Klei­dung vor dem Bunkereingang aufhalten. Mein Verdacht erhärtet sich, als ich näherkomme: Dort stehen ein sowje­tischer und ein deutscher Soldat in Originaluniform mit zeittypischer Bewaffnung. Sie empfangen uns mit einem Lachen und laden zu einem Gruppenfoto ein. Ich soll unbedingt den Wehrmachtssoldaten mit Handschlag für ein Erinnerungsfoto begrüßen; ich entscheide mich dies nur mit dem Sowjetverkleideten zu tun. „Ich gebe Faschisten nicht die Hand“, bemerke ich – eine Äußerung, die unkommentiert bleibt.

      Dann muss der unterirdische Gang durchlaufen werden. Pawel erklärt uns, dass sie dieses Programm regelmäßig mit Schulklassen durchführen. Um zu zeigen, wie unerträglich laut es für die Bunkerbesatzung im Krieg war, schießen sie mit Platzpatronen im Bunker-Inneren herum. Vor dem Schießen gibt es noch die Empfehlung, doch den Mund geöffnet zu halten, dann sei die Druckwelle weniger gefährlich. Ich erkläre, dass ich schon einen Tinnitus hätte – was nichts als die absolute Wahrheit ist – und dankend auf die Rundtour ver­zich­te. Schnell wird mir aber klar, dass dies ein unmögliches Verhalten ist. Also folge ich der Gruppe, die Finger in die Ohren gesteckt, leicht geduckt, in das Innere des dunklen Tunnel-Labyrinths. Irgendwann schießt der als Rotarmist Verkleidete: Die Druckwelle lässt mein Hemd flattern, aus der Gruppe sind Schreie zu hören. „Was für ein Quatsch!“, denke ich, als ich wieder frische Waldluft atme.

      Ich möchte das Kriegsspielgelände nun wirklich zügig verlassen, verweise auf die reichlich fortgeschrittene Uhrzeit und dass wir morgen ja alle früh raus müssten. Vergeblich, ich bin der Einzige in der Gruppe, der hier weg will. Die Führung, Nazi und Rotarmist vorneweg, setzt hinter dem künstlichen Hügel derweil ihre Besichtigungstour fort: Aus gefundenen Granathülsen verschiedenster Kaliber haben die Wochenend-Militaristen eine Skulptur zusammengeschweißt; schwarz lackiert steht sie nun als ungeschickte Unförmigkeit an der Schnellstraße. „Ist das Kunst oder kann das weg?“, flüstere ich Elena auf Russisch zu. Sie versteht meinen Humor nicht. Wieder muss gesungen werden, der Alte packt erneut sein Instrument aus, eine junge adrette Vorstadtschönheit hält ihm Noten und Text hin. Meine Teilnehmer genießen die Abend­sonne und die nostalgischen Gesänge. Nach den Liedern darf geschossen werden. Ich werde zuallererst aufgefordert, lehne aber ab.

      Alexej ist ein untersetzter Mittdreißiger im viel zu engen grauen Polohemd. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn, wir steigen in seinen japanischen Mittelklassewagen, verlassen den Hof vor Elenas Haus und biegen auf die Hauptverkehrsstraße ab. Ich sitze hinten hinter dem Schwitzenden, Elena vorn, was mich davon befreit, anstrengende Gespräche auf Russisch mit Alexej führen zu müssen. Auf dem Programm am heutigen Samstag stehen zwei Orte, die mit Karl zu tun haben: die Stadt Irpin, mittlerweile fast ein Stadtteil Kiews, und Schytomyr, etwa 120 Kilometer westlich von der Hauptstadt der Ukraine lie­gend.

      „Stellungskrieg vor Kiew (Datschi Irpen) vom 14.09. bis 30.09.41. Dann sind wir zurück nach Berditschew (50 K.M.). Dort waren wir 2.10.41 bis 5.10.41“, schreibt mein Opa in seinem Kriegsbericht. Nur diesen einen Satz gibt es dort. Ihm will ich heute folgen.

      Treffpunkt im Kiew nahen Irpin ist – wie sollte es anders sein – ein DOT. Wir warten auf Konstantin, einen Trainings­teilnehmer, der in Irpin zu Hause ist. Da wir zu früh sind, nutzen wir die verbliebene Zeit und gehen runter zum Fluss, dem Irpin. Die Landschaft, die sich uns hier am Horizont aufspannt, ist jetzt im Mai eine weite, saftig-grüne Flussaue. Frucht­­bare Feuchtwiesen, teils wohl zu morastig für eine Nutzung, teils für den Ackerbau genutzt, soweit das Auge reicht. Der Irpin selbst ist an dieser Stelle ein etwa 10 Meter breiter, langsam fließender Fluss. 1941 hatte sich hier das 194. In­fanterie-Regiment, dem Karl angehörte, an einer ge­sprengten Eisenbahnbrücke verschanzt. Heute, 73 Jahre spä­ter, stehe ich mit Kontantin, einem etwa 50 Jahre alten Allergiker mit hochrotem geschwollenem Gesicht, unter der wieder­errichteten Eisenbahnbrücke aus dunkelrostigem Stahl. Er erzählt mir, dass die Deutschen hier kaum noch gekämpft, sondern es sich in den Datschen in der Nähe des Flusses gemütlich gemacht hätten. Über mehrere improvisierte Brü­cken gelangen wir über den Fluss und seine ausufernden Wiesen. Konstantin möchte mir die Befestigungsanlage zei­gen – es geht schon wieder um diese kleinen Bunker mit den drei Buchstaben. In seiner Jugend hat er dort viel gespielt, jetzt kann er sich aber kaum noch erinnern, wo der Bunker eigentlich stand.

      Auf einem Feld arbeiten Frauen mit hochgesteckten Haaren, sie ziehen das schnell sprießende Unkraut aus der pech­schwarzen fruchtbaren Erde. Ihre Aufmachung, ihre Hal­tung, das ganze Bild erinnert mich an die Reispflücker­innen, denen ich einmal im fernen Laos zugesehen hatte. Ziemlich ziellos irren wir durch das Unterholz, wischen uns Spinnen­netze aus dem Gesicht, zertreten Schnecken samt ihren Häu­sern und geben schließlich auf: Konstantin kann den Ort einfach nicht mehr finden.

      Ich schieße Fotos, abwechselnd mit meinem Mobiltelefon und der mitgebrachten Instamatic-Kamera meines Großvaters. Ob diese Bilder wohl etwas werden? Den notwendigen Kas­set­ten­film habe ich im Internet ersteigert, seine Haltbarkeit lief laut Packungsaufdruck im September 1992 ab.

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      Wir gehen zurück und fahren entlang der Bahnschienen


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