Ein kleines Leben. Matthias Klingenberg
Laufe der nächsten Monate und Jahre habe ich ihn immer wieder gefragt und mit jeder kleinen Geschichte, die er mir erzählte, wuchs meine Neugier, mehr über diese mir fremde, ferne und abenteuerlich erscheinende Zeit zu hören. Es faszinierte mich, meinen Großvater noch einmal ganz anders und neu kennenzulernen. Er zeigte mir Fotografien, auf denen ein junger, gutaussehender Mann Mitte zwanzig zu sehen war, er schilderte endlos Episoden aus seiner Zeit bei der Wehrmacht, erzählte von weiten Landschaften, fremden Städten und Völkern. Ich war begeistert. In meinen Kopf entstanden Bilder und ganze Abenteuerfilme, wenn er erzählte. Ich sah mich selbst als Soldaten weit weg von zu Hause ... Es ging eine seltsame Anziehungskraft von diesem Krieg und seinem Teilnehmer, meinem Großvater, aus. Diese jugendlichen Tagträume wurden aber immer von einem bitteren Beigeschmack getrübt, denn ich wusste ja, was alles an Leid und Unrecht von Deutschland und deutschen Soldaten ausgegangen war. Ich spürte so etwas wie ein Schuldgefühl, gar nicht so sehr wegen der Taten meiner Vorfahren, sondern weil ich mich so bedenkenlos dem abenteuerlichen Schwelgen, der Fantasie, Soldat zu sein, hingegeben und somit Verrat an meinen eigenen Überzeugungen verübt hatte, sah ich mich doch selbst als überzeugten Pazifisten. Eine aus diesem Gefühl herauswachsende Verantwortung, gepaart mit einem unstillbaren Bedürfnis, mehr über die Schrecken dieses Zweiten Weltkrieges, von dem ich so viel gehört hatte, zu erfahren, trieb mich dazu, meinen Großvater mehr und mehr mit Fragen über Stalingrad, über das Töten, über den Tod per se zu quälen. Er beantwortete die Fragen zunächst einmal gar nicht. Dann – nachdem ich nicht locker ließ und ihm erklärte, dass es doch für meine Generation wichtig sei, darüber mehr zu erfahren, dazu noch aus erster Hand, von einem der dabei gewesen wäre – begann er, immer noch sehr widerwillig und zögerlich, jedes Wort minutenlang abwägend, erst bruchstückhaft, dann etwas zusammenhängender zu berichten. Seine Erzählungen blieben auch weiterhin auf einzelne Episoden beschränkt, er erzählte, woran er sich vierzig Jahre nach Kriegsende noch erinnern konnte; und ich bin mir sicher, dass er die traumatischsten Erlebnisse weiterhin für sich behielt. Ich selbst erinnere mich heute – noch einmal fast dreißig Jahre später – nicht mehr an alles, was mir Karl damals erzählte. Zwei Episoden haben sich mir aber tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ich erinnere mich genau an die Stimme meines Großvaters, die Atmosphäre und an meine Gefühle während des Zuhörens: Auf meine Frage, ob er denn auch jemanden erschossen hätte, damals im Krieg, antwortete er ausweichend und erzählte die Geschichte von einem Deserteur. (Jetzt, beim Niederschreiben dieser Erinnerungen, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob nicht meine Frage eine andere gewesen ist, ob ich nicht vielmehr fragte, warum er nicht einfach abgehauen sei, wenn im Krieg doch alles so schlimm gewesen sei.) Karl antwortete auf diese Frage mit einer Geschichte von einem Kameraden, der es nicht mehr aushielt an der Ostfront und sich selbst mit seiner Dienstwaffe in den Oberarm schoss. Um die Wunde authentisch aussehen zu lassen und um die Kugel abzubremsen, legte er einen Laib Brot auf den Arm, setzte die Pistole mit ihrer Mündung an, drückte ab und schoss sich eine Kugel durch den Arm. Ich glaube, mich zu erinnern, dass sich diese Begebenheit beim Vormarsch oder beim Sturm auf die Innenstadt von Stalingrad im September 1942 zugetragen hat. Jedenfalls fanden die Sanitäter Brotkrumen in der Wunde und überstellten den Verwundeten der Kriegsgerichtsbarkeit, die ihn als Deserteur zum Tode verurteilte. Die Soldaten der eigenen Einheit mussten das Urteil vollstrecken und den Kameraden standrechtlich erschießen. Ob mein Großvater selbst zu dieser Einheit gehört hatte, er also selbst Teil des Erschießungskommandos gewesen war, ließ er offen, und ich wagte es nicht, weiter nachzuhaken. Eine bedrückende Stille beherrschte den Raum, nachdem Karl zu Ende erzählt hatte. Nach ein paar Minuten Schweigen lösten wir die Gesprächssituation irgendwie auf, und ich verließ das Arbeitszimmer.
Diese Geschichte reichte mir nicht aus. Ja, sie war schockierend und erzählte von der Brutalität des Krieges, was mich ja auch brennend interessierte, aber sie spielte nicht direkt an der Front, im Schützengraben. Der Deserteur war schließlich durch die Kugeln der eigenen Soldaten gestorben, aber ohne Feindkontakt. Und war er nicht auch ein wenig selbst schuld? Da schlugen sie wieder, die beiden Herzen in meiner Brust.
Die nächste Gesprächssituation ergab sich vielleicht erst Wochen später. Ich wollte mehr hören, noch Schlimmeres, eine Art Sensationsgier machte sich in mir breit. Ich bohrte, er zögerte, wich aus, versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken, ich blieb hartnäckig, und er begann, über etwas zu berichten, dass für ihn sehr schmerzvoll gewesen sein muss: Sie lagen eingegraben irgendwo im heutigen Russland oder der Ukraine, vielleicht war es auf der Krim. Plötzlich hörten sie das Zischen einer Granate, das Geschoss flog direkt auf sie zu und schlug direkt neben ihm ein. Karl hatte sich geduckt, den Kopf rechtzeitig eingezogen, das Gesicht verdeckt. Rauch, Stöhnen, Hilferufe der Verletzten, langsam verließ Karl seine Schutzhaltung und schaute sich um. Dort, wo neben ihm sein Kamerad – an den Namen erinnere ich mich nicht – im Graben gelegen hatte, war nur noch der Rumpf seines Körpers erkennbar. Dort, wo eben noch sein Kopf gesessen hatte: nichts. Im Arbeitszimmer lag ein Knistern in der Luft – Stille, mein Großvater unterdrückt mit Mühe die Tränen. Auch ich bin betroffen und meine Neugier ist fürs Erste gestillt. Es läuft mir kalt den Rücken herunter. Karl braucht einige Minuten, um seine Fassung wiederzuerlangen.
Kurze Zeit später zeigt Karl mir sein auseinanderfallendes Soldbuch, weil ich gefragt hatte, ob er denn bei der SS gewesen sei. Es hatte mich einige Überwindung gekostet, diese mir seit sehr langer Zeit auf den Lippen brennende Frage tatsächlich zu stellen. Sie zu beantworten, war mit Sicherheit nicht einfacher. Das Büchlein mit der Aufschrift „Soldbuch und Personalausweis“ ist in eine schwarze Lederhülle gekleidet. Auf der ersten Innenseite lächelt mich ein sehr junger Soldat Karl Krüger an und auf Seite drei sind seine Beförderungen eingetragen, zwei an der Zahl: am 3. Februar 1940 zum Gefreiten einer Nachschubeinheit und am 1. Dezember 1941 zum Obergefreiten des 5. Infanterie-Regiments 194. Weitere Eintragungen sind nicht zu sehen. „Ich hatte großes Glück, dass die Beförderung zur SS nur mit Bleistift eingetragen worden war. Als uns klar wurde, dass wir demnächst in Gefangenschaft gehen würden, habe ich den Eintrag einfach herausradiert. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Denn die SS-Angehörigen sind gleich zu Anfang aussortiert worden, ich habe meine Kameraden nie wiedergesehen. Ich glaube, die Russen haben die sogleich alle erschossen.“
Ich nehme das Heft, führe es ganz dicht vor meine Augen und halte es gegen das Licht. Ich will sehen, ob es dort Anhaltspunkte, Überreste gibt, die die Geschichte meines Großvaters stützen. Während ich das tue, frage ich mich insgeheim, ob ich wirklich entsprechende Hinweise finden möchte oder lieber doch nicht. Sollte ich mir nicht besser wünschen, dass er nicht Teil der SS war? Aber irgendwie geht trotzdem ein Nervenkitzel von der Idee aus, dass er, der hier neben mir sitzt, Teil dieser Mördertruppe gewesen sein soll. Ich prüfe das vergilbte Blatt von beiden Seiten ganz genau; ich kann keinen eindeutigen Hinweis darauf finden, dass hier etwas entfernt wurde. Ich bin erleichtert und enttäuscht zugleich.
„Und wie bist du da reingekommen, in die SS?“, fragte ich weiter. „Das war ganz am Ende des Krieges in Russland, als schon alles egal war, die hatten einfach nicht mehr genug Leute. Da haben die mich gefragt und ablehnen konnte man das nicht, und plötzlich war ich in der SS, in der Waffen-SS wohlgemerkt.“
Wenn ich heute hier an meinem Schreibtisch in Tiflis sitze und in meinen Garten schaue, frage ich mich, während ich dies tippe: Und was hat er da gemacht? Was waren seine Aufgaben bei der SS? In welche Gräueltaten war er verwickelt? Fragen, die höchst wahrscheinlich jeder von uns mit den zwei Runen assoziieren würde. Leider habe ich ihn all diese Fragen damals nicht gefragt, mich nicht getraut, zu fragen. Nicht getraut, weil ich ihn nicht verletzen wollte? Weil ich mein Bild von ihm nicht zerstören wollte? Weil ich mich selbst nicht mit einem solchen Erbe belasten wollte? Hinzu kam sicherlich, dass er auch keine Anstalten machte, weiterzureden; nonverbal gab er zu verstehen: bis hierher und nicht weiter. Wie auch in seinem Kriegsbericht behielt er einen (entscheidenden?) Teil seines Lebens – die Zeit von Anfang Mai 1942 bis zur Entlassung aus der sowjetischen Gefangenschaft im Juli 1945 – für sich.
Manchmal holte Karl auch sein braunes Fotoalbum aus dem kleinen Eckschrank im Arbeitszimmer: Auf schwarzer Fotopappe, geschützt durch milchige Transparentpapiere mit Spinnwebmuster und mit Fotoecken fixiert sind dort an die dreihundert Schwarz-Weiß-Fotos eingeklebt. Mit dem Album auf dem Schreibtisch