Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße
Exciter
Wie Gore sich seine erste Schreibblockade einfing, was er seiner texanischen Frau nach elf Jahren England schuldig war und warum er seinen Vorgruppen Schutzkleidung empfiehlt.
Piano-Sessions, DJing, Remixe, Gastbeiträge: Martin Gore als musikalischer Missionar.
Counterfeit2 & Playing The Angel
Warum Gore nach seiner Solotour vor einem Berg Scherben stand, wie er mit einer statt zwei Trennungen davonkam und was er als Gockel verkleidet in einem Jules-Verne-Film trieb.
Mit Misstrauen in den Mainstream
Song-Analyse, zweiter Teil:
Drei weitere Depeche-Mode-Hits auf dem Prüfstand.
Wie Gore sich als Single Dad schlägt, warum er sich ohne nennenswerte Gegenwehr zum »Allmächtigen« ernennen konnte und was er machen wird, wenn er mal richtig alt ist.
Erste Begegnung, 7. September 2005. Der Weg zu Martin Gore führt durch die sonnengefluteten Straßen von Berlin, vorbei an Strömen vom Schweiß gezeichneter Menschen, die den unerhört heißen Spätsommer mindestens innerlich verfluchen, quer über den Potsdamer Platz, hinein in das fahl ausgeleuchtete Foyer eines sehr teuren, sehr diskreten Hotels. Kühler Marmor, schwere Kronleuchter, schwer beschäftigte Geschäftsmänner, versunken in Sesseln, versunken in Zeitungen: Endspurt im Bundestagswahlkampf, Merkel gegen Schröder. In New Orleans kämpft man derweil ums Überleben, mehr als eine Woche nach Hurrikan Katrina herrscht in der Stadt noch immer der Ausnahmezustand. Und hier in Berlin schimpfen sie auf das Wetter. Irgendwas ist immer. Der Empfangsmann lotst uns zum Pagen, der Page lotst uns zum Fahrstuhl, und der spuckt uns einige Stockwerke höher auf einen langen Flur aus. Am Ende des Flurs wartet die Dame von der Plattenfirma. »Augenblick noch«, sagt sie, »Martin ist gleich fertig.«
Fünf Minuten später öffnet sie die Tür zu seiner Suite und schickt uns hinein. Mitten im Raum sitzt Martin Gore an einem Flügel und improvisiert, den Kopf von uns weggewandt, hin zur breiten Fensterfront, durch die das weiße Licht der Mittagssonne eindringt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als genieße er die Aussicht auf das Hochhaus-Ensemble am Potsdamer Platz. Doch Gore hat die Augen geschlossen, während er spielt. Vielleicht denkt er in diesem Moment daran zurück, wie dieser Ort auf ihn wirkte, als er ihn kennenlernte, vor mehr als 20 Jahren: noch keine Spielwiese für Architekten, sondern ein Niemandsland im Schatten der Mauer. Unvollendet wie die bildhübsche, bittersüße Melodie, die ihm gerade aus den Fingern fließt. Andernorts in Berlin, in den Musikerkneipen von Kreuzberg oder der Wohnung seiner damaligen deutschen Freundin, kam er der besonderen Stimmung zwischen Ausbruch und Dekadenz in der geteilten Stadt näher. Das Berlin der Achtzigerjahre war das Berlin Martin Gores. Heute ist er nur noch als Tourist hier, ein Superstar auf der Durchreise.
Damals fand Gore in Berlin das Kontrastprogramm zu seiner Heimatstadt Basildon im Osten Englands, die ihm eng und enger wurde, je mehr er mit Depeche Mode von der Welt sah. Bald tauschte er die Prüderie seiner britischen Jugendliebe ein gegen die Körperlichkeit einer deutschen Nachtschwärmerin; die lähmende Klaustrophobie Basildons gegen das belebende Chaos Berlins. Dieser Ort und diese Zeit haben seine extravagante Erscheinung geprägt, die scheinbar im Widerspruch steht zu seinem introvertierten Wesen, für manch einen sogar im Widerspruch zu seiner sexuellen Orientierung. Und als wolle Gore, dreifacher Vater, den Geist jener Tage ein letztes Mal heraufbeschwören, hat er seinen untersetzten Oberkörper heute Morgen in ein enges, halbdurchsichtiges T-Shirt gezwängt und sich die Fingernägel schwarz lackiert. Minutenlang gleiten seine Hände nun über die Klaviatur, immer auf der Suche nach dem nächsten melancholischen Griff in die Tasten. Denn im schweren Moll, sagt er, schreibt es sich für ihn leichter als in Dur. Lebensnäher. Leidenschaftlicher. Dann öffnet er die Augen, schaut unter den langen blonden Locken auf und lässt die Töne verhallen. »Ich habe euch gar nicht bemerkt«, sagt er, und vielleicht ist das nicht mal gelogen.
Gore bittet zum Interview an einen Tisch im Nebenraum. Beklagt sich über den Kater, den er sich letzte Nacht bei einer ausgiebigen Weinverkostung zu italienischem Essen zugezogen habe, und bestellt trotzdem das dritte Weißbier des Tages. »My favourite beer in the world is Hefeweizen«, schwärmt er, als der Kellner wieder gegangen ist. Gore führt das Glas zum Mund, vergräbt die Nase in der Schaumkrone und quittiert die bayerischen Braukünste mit dem seligen Blick eines Säuglings, dem man die schreiend verlangte Flasche gibt. In diesen Sekunden lässt sich erahnen, mit welchem Eifer er sich auf die Trinktouren begibt, die sich traditionell an Depeche-Mode-Shows anschließen und aus Fan-Sicht im Idealfall mit einem heillos betrunkenen Gore enden, der in der Bar seines Hotels am Klavier ein Privatkonzert gibt. Gore mag die vermeintliche Einfältigkeit seiner Landsleute in anderen Lebensbereichen oft kritisiert haben (und ihr bis nach Amerika entflohen sein) – in seinem Ausgehverhalten folgt er streng britischen Idealen: Viel trinken und dann laut werden. Dass er kurz davor steht, ihnen abzuschwören, ahnt man am 7. September 2005, dem Tag unserer ersten Begegnung, jedenfalls noch nicht.
Zweite Begegnung, 22. Februar 2009. Der Weg zu Martin Gore führt durch die regenverhangenen Straßen von Berlin, vorbei an Strömen vom Schauer gezeichneter Menschen, die den hartnäckigen Winter mindestens innerlich verfluchen, quer über den Bebelplatz, hinein in das fahl ausgeleuchtete Foyer eines sehr teuren, sehr diskreten Hotels. Marmor, Kronleuchter, Geschäftsmänner in Sesseln über Zeitungen: Merkels Regierung ringt mit dem »Finanzmarktstabilisierungsgesetz« – was wohl Schröder gerade macht? In L.A. vergeben sie am Abend die Oscars, Heath Ledger wird seinen nicht mehr entgegennehmen. Und hier in Berlin rollen sie den roten Teppich ein statt aus: Die Echo-Verleihung fand schon gestern statt. Depeche Mode stellten ihre neue Single Wrong vor und ließen dafür sogar die plumpen Annäherungsversuche der Moderatorin Barbara Schöneberger über sich ergehen. Gore spielte ein bisschen mit: »Wir sind nur für dich hier, Barbara«, sprach er auf Deutsch zu ihr. Irgendwas ist immer. Der Empfangsmann lotst uns zum Fahrstuhl, und der spuckt uns einige Stockwerke höher auf einen langen Flur aus. Auf halbem Weg wartet die Dame von der Plattenfirma. »Martin ist schon fertig«, sagt sie, »hier entlang.«
Die schwarz lackierten Fingernägel, mit denen er später auf den Tisch vor ihm trommelt, sind die augenfälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Martin Gore unserer letzten Begegnung und dem von heute, 47 Jahre alt. Als wir sein kleines, schmuckloses Zimmer betreten, steht er am Fenster, in dämmeriges Licht gehüllt, und blickt hinaus auf den Innenhof des Hotels. Gore sieht einen Biergarten ohne Gäste; Regenwasser, das von den Schirmen auf die Tischdecken rinnt und von den Tischdecken auf den Boden. Irgendwo bellt ein Hund, irgendwo hupt ein Auto. Dann dreht er sich um und lächelt zögerlich. »Hallo«, sagt er mit sonorer Stimme und weichem englischem Akzent. Zehn Jahre Kalifornien, und Gore klingt doch immer noch wie der hüftsteife Bankangestellte aus Basildon, der sich 1979 von seinem Bankangestelltengehalt den ersten Synthesizer kaufte –