Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße

Insight - Martin Gore und Depeche Mode - André Boße


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war nun Vordenker einer ganz neuen Musikrichtung.

      Die Rolle, die Gore in den ersten Wochen bei Compositon Of Sound spielte, war jedoch eher klein. Das Sagen hatte Clarke, der mittlerweile auch einen Synthesizer besaß. Er schrieb die meisten Lieder und zeigte das meiste Engagement, wenn es darum ging, erste Gigs an Land zu ziehen. Gore hatte tagsüber anderes zu tun: Jeden Morgen mit dem Zug hinein in die City Of London, eine Fahrt von knapp einer Dreiviertelstunde in mit Pendlern vollgepackten Vorstadtzügen. Ausstieg im Bahnhof Fenchurch Street, dann noch ein kurzer Fußweg im Strom der unzähligen Krawattenträger und Kostümträgerinnen bis in die Filiale der NatWest-Bank, einer britischen Finanzinstitution, in deren Business-Alltag Popstar-Träume sehr schnell von grauer Routine verdrängt wurde. Fletcher arbeitete nur ein paar Häuser von Gores Arbeitsplatz entfernt bei einer großen Versicherung, sodass Clarke in der frühen Phase an den Werktagen alleine in Basildon blieb und versuchte, die Karriere der Band in Schwung zu bringen.

      Zu Beginn war Clarke auch Sänger, doch wohl war ihm dabei nicht. Sein Traum damals: Erfolg haben, ohne berühmt zu sein. Drei Konzerte spielten Composition Of Sound mit Clarke als Leadvokalist und Gore als Stimme im Hintergrund – Gigs, bei denen sich viele Teenager neugierig vor der Bühne positionierten, um die kaum älteren jungen Männer beim Bedienen ihrer Synthies zu beobachten. Nicht die Songs oder die Musiker waren die Stars, sondern die Maschinen mit ihren Knöpfen und Tasten. Gore hatte damit kein Problem; er fühlte sich vielmehr wohl hinter einem Instrument, das für die Jugend aus Essex so faszinierend war, weil es nach Zukunft klang und aussah. Beim dritten Gig der Band stand ein Modestudent aus dem ein paar Kilometer östlich von Basildon liegenden Seestädtchen Southend im Publikum. Kurze Zeit später tauchte der Typ auch bei einer Probe von Composition Of Sound auf, nahm sich das Mikro und sang Heroes von David Bowie. Das war der Sänger, den Clarke gesucht hatte. Das war Dave Gahan.

      Der neue Mann am Mikro zeigte von Beginn an viel Enthusiasmus und brachte zwei wertvolle Dinge in die Band ein: eine Gruppe von rund 30 Kumpels, die fortan bei jedem Gig dabei waren, und schließlich auch einen neuen Bandnamen: Depeche Mode, der Name eines französischen Modemagazins, den Gahan aufgeschnappt hatte. Keine Frage, der Sänger war 1980 ein Kind des Zeitgeistes. Ein Postpunk, der auf Gary Numan stand und glaubte, passende Antworten auf alle Stilfragen zu kennen. Gore war diese Welt fremd. An den Abenden ging er nicht in die angesagten Clubs, wo die sogenannten New Romantics ihre neuen Garderoben vorzeigten und zu futuristischen Klängen tanzten. Sein Platz waren weiterhin die üblichen Bars, in denen abends Männer mit langen Haaren Songs zur Akustikgitarre spielten. Gore war kein Typ, der Lust hatte, sich einer Szene anzuschließen. Dafür war er viel zu schüchtern. Aber als Depeche Mode im Herbst 1980 regelmäßige Gigs in Basildon und Umgebung spielten und immer mehr aufgestylte New Romantics im Publikum standen, merkte auch Gore, dass er sich in optischer Hinsicht etwas einfallen lassen musste.

      Das Ergebnis: weiße Schminke – auf einer Gesichtshälfte. Im Vergleich zu seinen ebenfalls von Dave Gahans Modeaffinität infizierten Depeche-Mode-Kollegen war dieser frühe Make-up-Versuch aber noch harmlos: Während Clarke mit Tarnfarben, schwarz gefärbten Haaren und Stirnband wie ein Vietnam-Veteran aussah, versuchte es Fletcher an den Beinen mit einer Kombination aus Fußballstutzen und Pantoffeln. Als Entschuldigung für diese modischen Verwirrungen darf gelten, dass zumindest Gore und Fletcher direkt aus dem Zug zurück aus der Londoner City in die Konzert-Venues hasteten. Da blieb kaum Zeit, den Business-Anzug auszuziehen – und die paar Biere, die sich vor allem Gore vor jedem Konzert gönnte, um entspannter auf der Bühne zu stehen, mussten ja auch noch getrunken werden. Doch selbst die lokale Presse kannte bei einem frühen Porträt der großen Hoffnung der Stadt keine Gnade: »Die könnten groß rauskommen, wenn ihnen jemand bloß den Weg zu einem anständigen Schneider weist«, urteilte das Evening Echo aus Basildon.

      Von zeitloser Klasse war hingegen, was die gerade ein paar Monate alte Band musikalisch zu bieten hatte. Die drei Synthie-Spieler hatten schnell eine Aufgabenverteilung gefunden, die sicherstellte, dass die Musik von Depeche Mode weder leblos klang noch im Chaos unterging. Gore war in den meisten Fällen verantwortlich für die Melodien; Clarke spürte schnell, dass Gores Ideen seine Songs deutlich besser machten. Teil der Setlist war schon damals Clarkes frühes Meisterstück Photographic, bei dem Gore die zweite Stimme sang und in der Strophe eine Melodie spielte, die das düstere Stück zu einem Popsong machten. Und auch eine Gore-Komposition wurde eingebaut: Big Muff, ein Instrumentalstück mit kurvenreicher Melodie zwischen Science-Fiction-Soundtrack und futuristischer Fanfare. Interessant ist der Titel des Stücks, denn Big Muff war der Name eines Gerätes, von dem sich Gore und Depeche Mode in ihren frühen Tagen abwendeten: ein Verzerrer, den in den Siebzigerjahren Pink Floyd oder Carlos Santana zum Standardeffekt für ambitionierte Rockgitarristen gemacht hatten.

      Ansonsten verfolgte Gore Ende 1980 die nächsten und ungemein wichtigen Schritte der Band eher passiv. Clarke und Gahan stiefelten in die Büros diverser Plattenfirmen, um dort das erste Depeche-Mode-Demotape anzupreisen, zunächst ohne Erfolg. Auch ein junger Labelbesitzer namens Daniel Miller zeigte sich beim ersten Treffen unbeeindruckt. Das änderte sich erst, als der Chef der jungen Plattenfirma Mute Records Depeche Mode im Vorprogramm seines Künstlers Fad Gadget sah. Das Konzert fand im November im Bridgehouse in Canning Town im Osten von London statt – und Depeche Mode müssen sehr gut gewesen sein, denn nach dem Gig gab es gleich zwei Interessenten, die der Band vom Fleck weg einen Plattenvertrag anboten: einmal Stevo Pearce, ein gerade 18 Jahre alter Enthusiast, der sich vorgenommen hatte, auf seinem Label Some Bizzare die Speerspitze der von ihm »Futurists« genannten Elektro-Pop-Welle unter Vertrag zu nehmen – und eben jener Daniel Miller, der Depeche Mode beim ersten Treffen noch keine Chance gab, dies später mit seiner üblen Laune an jenem Tag entschuldigte und nun doch großes Interesse zeigte.

      Der Marktwert von Depeche Mode war innerhalb weniger Wochen enorm gestiegen. In einem Interview mit dem britischen Musikmagazin Uncut aus dem Jahr 2001 erinnerte sich Gore an »unglaubliche Summen, die man uns anbieten wollte«. Auch der Pop-Headhunter Mark Dean war hinter Depeche Mode her. Gore: »Er zog dann weiter und nahm Wham! unter Vertrag – damit begann das Fiasko. Ich bin sicher, hätten wir auf einem dieser Major Labels unterschrieben, würde es uns heute nicht mehr geben. Wir wären nach dem zweiten oder dritten Album rausgeflogen.« Statt auf das schnelle Geld zu hoffen oder – so das Angebot von Stevo Pearce und seinem Some-Bizzare-Label – der großen Verlockung zu erliegen, einen Deal über gleich mehrere Alben abzuschließen, entschieden sich Depeche Mode für Daniel Miller und Mute. Und das, obwohl zunächst einmal nur eine einzige Single geplant war. »Wir waren große Mute-Fans zu dieser Zeit«, erinnerte sich Gore Jahre später, »daher war es für uns schon eine große Sache, für Fad Gadget im Vorprogramm spielen zu dürfen. Dass wir dann noch Daniel trafen und vor Ort einen Single-Deal angeboten bekamen, war einfach fantastisch.«

      Aber auch der Enthusiast Stevo Pearce ging nicht leer aus. Weil neben Gore auch die anderen Mitglieder der Band nicht besonders gut darin waren, ein klares Nein zu äußern, sagten sie zu, zu Pearces geplante Compilation Some Bizzare Album ein Stück beizusteuern. Man entschied sich für das von Clarke geschriebene, im Arrangement aber schon deutlich von Gores Melodik geprägte Photographic – in der Some-Bizzare-Version das erste Studiostück von Depeche Mode überhaupt. Kurz danach nahm die Band Dreaming Of Me auf, die geplante Single für Mute. Auch hier passte die Formel: Der Song von Clarke und Gahans Leadvocals waren solide, die melodischen Verzierungen sowie die zweite Stimme von Gore (das britische Magazin Sounds nannte seine Background-Vocals bei diesen frühen Stücken in Anlehnung an traditionelle amerikanische Gesangsgruppen »quasi Barbershop«) machten ihn im Februar 1981 zum ersten kleinen Hit der Band. Die Single verkaufte sich erst schleppend, dann immer besser und erreichte nach einigen Wochen schließlich Platz 57 in den britischen Charts. Das war nicht nur ein beachtlicher Erfolg für eine Independent-Produktion – es bedeutete für Depeche Mode den Eintritt ins Pop-Universum.

      Gore, noch immer an den Werktagen Bankangestellter, kam dort plötzlich mit Dingen in Kontakt, die ihn irritierten. Zum Beispiel mit Drogen. Clarke berichtete später von regelmäßigem Konsum von Speed, einer Droge, die »alles, was wir erlebten, noch aufregender machte«. Doch Gore hielt Abstand von diesem und anderen illegalen Rauschmitteln: »Ich wusste von den Drogen, aber war ihnen gegenüber ziemlich anti eingestellt. Wenn ich jemanden um mich hatte, der Drogen nahm, ging ich weg. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Es war für mich damals eine


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