Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße
noch frische Selbstbewusstsein Gores weiter stärkte. Wenn es ihm schon gelang, mit einem Stück aus den späten Siebzigerjahren einen Hit zu landen, was würde dann erst passieren, wenn er neue Songs schriebe? Depeche Mode erlebten einen erstaunlichen Stimmungswandel. In Erinnerung an das Frühjahr 1982 sagte Gore Jahre danach: »Wir sind generell pessimistische Typen. Aber einen kurzen Moment lang fühlten wir uns unverwundbar.« Gore sollte sich später als ein Songwriter erweisen, der zu jeder Zeit eine funktionierende Antenne für das zu haben scheint, was sich die Depeche-Mode-Fans von ihm erhoffen. Doch im Hochgefühl des Erfolgs von See You und einer anschließenden kleinen Tour durch ausverkaufte Clubs machten Gore und Depeche Mode einen Fehler: Sie veröffentlichen die Single The Meaning Of Love.
»Wir dachten wirklich, der Song würde groß einschlagen«, erinnerte sich Gore später. Heute weiß auch er, dass das Stück – geschrieben Anfang 1982 – längst nicht das Potenzial dafür hatte. Das britische Magazin Sounds urteilte in einem Verriss, die Melodielinie der neuen Single sei identisch mit der des Hits zuvor. Auch wenn diese Beobachtung kaum zutrifft: The Meaning Of Love war eine Enttäuschung für alle, die sich von Depeche Mode eine Weiterentwicklung erhofft hatten – und die britischen Charts waren dafür ein guter Seismograph, denn das Stück verpasste eine Top-Ten-Platzierung. »Es war unser erster Kontakt mit der Möglichkeit, auch scheitern zu können«, sagte Gore im Rückblick. Seine Abenteuerlust äußerte sich auch in der Maxi-Version des Tracks: Für den »Fairly Odd Mix« zerstückelten Depeche Mode den Song und drängten verstörende Parts in die Harmonik. Mit viel gutem Willen kann man diesen Ansatz heute als Prä-Techno bezeichnen, doch damals verstörte diese Studiospielerei zwei Lager, die sonst recht unterschiedliche Erwartungen an die Band hatten: Fans und Kritiker.
Während sich die Journalisten seit ihren Anfangstagen von Depeche Mode erhofften, sie würden sich zu einer gewichtigen und innovativen elektronischen Stimme des Postpunk entwickeln, waren die Fans der Band vor allem eines: sehr jung. Auf Depeche Mode standen mit Vorliebe Teenager, die begeistert die bunte und moderne Popwelt der frühen Achtzigerjahre konsumierten. In England lasen sie Smash Hits und schauten Top Of The Pops, in Deutschland blätterten sie durch die Bravo und schauten Bananas. Diese jungen Fans waren unverzichtbar, denn sie waren es, die die Singles kauften. Malcolm McLaren hatte im Zenit des Erfolgs der von ihm konzipierten Sex Pistols bereits 1977 in einem Interview deutlich gemacht, dass es die Kids sind, die die Kohle bringen – und nicht die geizigen, geschmäcklerischen Studenten. »Wir waren so jung und dumm, dass wir mit allem einverstanden waren, was uns angeboten wurde«, so Gore. »Es gab oft Streit, aber letztlich war das stärkste Argument: ›Hey, das werden so und so viele Millionen Leute sehen!‹ Und dann hieß es immer: ›Okay, lasst es uns tun.‹«
So lässt sich eben auch der obskure Auftritt im Hühnerstall für Bananas erklären – bei weitem nicht der einzige Moment, den Gore heute wohl lieber aus dem virtuellen Gedächtnis streichen würde. Dazu gehört sicher auch ein Auftritt bei der 1982 sehr erfolgreichen WDR-Vorabendshow WWF Club, wo Depeche Mode zur Abendbrotzeit dem deutschen Publikum The Meaning Of Love vorstellten. Jedoch war die Bühne im Studio wohl eher für Solokünstler ausgelegt, sodass Andy Fletcher nicht auf der Bühne spielte, sondern davor – und eher den Eindruck eines verwirrten Zuschauers machte, der seinen Platz verloren hat. Schön auch der Satz, mit dem Moderator Jürgen von der Lippe zu dem Auftritt der Gäste aus England überleitete: »Jetzt ist meine Hose nass.« Legendär ist zudem eine Fotosession für Smash Hits, die Depeche Mode in ein Cricket-Zentrum nach London führte, wo der große Sportsmann Alf Gover auf die Band wartete. Einen Bezug zur Musik hatte diese Idee des Fotografen nicht; das Resultat waren eine Handvoll Bandaufnahmen im Cricket-Outfit, inklusive Schienbeinschoner.
Der Chef der französischen Abteilung des Mute-Labels urteilte später über diese Monate im ersten Halbjahr 1982, Gores Persönlichkeit sei damals noch nicht »ausgereift« gewesen. Fotos, die den Songwriter mit einem wenig schmückenden Bartflaum am Kinn zeigen, untermauern diese These. Doch in ihm arbeitete es in diesen Monaten. Während Gahan in Interviews eher beleidigt auf negative Presse reagierte, schätzte Gore die Sache realistisch ein: »Keine Schuldzuweisung an die Presse dafür, dass sie uns nicht den großen Respekt zollte. Es gab damals viele Teenager-Magazine wie Smash Hits und so weiter – und wir waren in allen.« Gores optimistischer Plan zu dieser Zeit: Depeche Mode in musikalischer Hinsicht neu ausrichten, ohne die lukrativen jungen Fans aufzugeben. In einem Interview für die Zeitschrift The Face sagte er: »Wir sind eine Popband mit einem Teenie-Publikum und somit in einer guten Position, um mit verschiedenen musikalischen Formen experimentieren zu können. Wir können unseren jungen Fans Musik bieten, die sie sonst nicht hören würden.«
Das Experimentieren mit einer Musik, die Gore selber als ernsthafter und weniger niedlich bezeichnete, fiel der Band damals noch schwer. »Wir wollten es anders machen, aber es hat nicht geklappt«, gestand er Mitte 1982. »Wir wollten eine fiese B-Seite aufnehmen, starteten mit einer Bassline und schnellen Drums, ein wenig wie DAF. Wir dachten wirklich, damit hätten wir einen garstigen Track – und am Ende haben wir doch noch Glocken draufgepackt.« Trotzdem arbeitete Gore im Vorfeld der Aufnahmen für das zweite Album intensiv daran, eine eigene Handschrift als Songwriter zu entwickeln. »Seitdem ich begonnen habe, ernsthaft Lieder zu schreiben, hat sich meine Art des Songwritings stark verändert«, sagte er dem Magazin Look In. Die gern gestellte Frage, was denn zuerst da sei, der Text oder die Musik, beantwortete er unbestimmt: »Manchmal die Worte, manchmal die Melodie, manchmal beides zusammen.« Ganz sicher sei er aber jemand, der nicht in Gesellschaft mit anderen kreativ sein könne: »Viele Ideen, die ich habe, sind peinlich. Darum muss ich alleine sein, wenn sie mir einfallen.« Die Aufnahmen für das zweite Album starteten im Juli 1982 – erneut ohne Wilder, dessen Präsenz weiterhin auf Live- und TV-Auftritte beschränkt blieb. Im Studio stand die Band endgültig vor einer Richtungsentscheidung: Wollte man nach wie vor muntere Synthie-Popsongs mit simplen Texten im Stil von The Meaning Of Love aufnehmen oder einen weiteren Schritt in Richtung Ernsthaftigkeit gehen? Gore hatte mittlerweile starke Präferenzen für einen Wechsel entwickelt, und mit Gahan, der die großen Auftritte liebte und sicher gerne eine Hitsingle nach der anderen veröffentlicht hätte, hatte er den entscheidenden Fürsprecher: »Martin schreibt nicht wie Vince. Vince schreibt einfache Sachen, Martin nicht. Und wir haben Martin als Songwriter gewählt, weil wir seine Sachen mögen«, so Gahan kurz nach den Albumsessions. Wenn Bands einen neuen Weg einschlagen, findet man mit großer Wahrscheinlichkeit ein Stück, das symbolisch für den Wandel steht. Bei Depeche Mode heißt dieser Song Leave In Silence, die sechste Single der Band und später das Eröffnungsstück des Albums.
Im Vergleich zu den Stücken der ersten Platte ist dieser Song ungleich komplexer und düsterer – vom sakralen Chor im Intro bis zur Struktur des Refrains, die für einen Popsong ungewöhnlich kompliziert ist. Dass Gore hier wirklich etwas Neues gelungen war, zeigen frühe Mitschnitte von Konzerten: Das Publikum lauscht gebannt der Band und beginnt erst nach der Zäsur im Anschluss an das vielstimmig gesungene Refrain-Ende zu kreischen. Zum Vergleich: Bei den simpleren Stücken tanzten die Teenager im Publikum zumeist durch. Gore bestätigte diesen Eindruck im Interview mit dem Record Mirror: »Mit dem Stück entfernen wir uns von der Dance Music. Nicht dass man zu dem Song nicht tanzen könnte, aber ich denke, die Charts sind heute zu sehr auf Dance fokussiert.« Interessanter Nebenaspekt des Artikels: Obwohl Gore sich selbstbewusst als kreativer Kopf der Band positioniert, beschreibt ihn der Journalist despektierlich als den »etwas Kleineren mit den flauschigen blonden Haaren, der hier die Lieder schreibt«.
Obwohl auch Leave In Silence als Single nicht die britischen Top Ten knacken konnte und Paul Weller als Gastkritiker eines Musikmagazins urteilte, aus dem Arschloch seines Roadies kämen mehr Melodien als von diesem Stück, war die Stimmung nach der Veröffentlichung wesentlich besser als bei The Meaning Of Love. Hier hatte man einen Song, dem man schon damals einen zeitlosen Charakter zuschreiben konnte. Und hier hatte man einen Text, der nichts mehr mit dem naiven Thema »Junger Typ weiß nicht, was Liebe ist« der Vorgänger-Single zu tun hatte. Gore schrieb erstaunlich abgeklärte Zeilen über das Ende einer Liebe und über Sprachlosigkeit – und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nie mit einer richtigen Freundin Schluss gemacht hatte (oder sie mit ihm). Heute sagt er: »Ich blicke gerne auf Leave In Silence zurück. Das Stück war für uns ein Wendepunkt. Wir spürten, dass dies ein Weg war, um voranzukommen.«
So sehr Gore Leave In Silence schätzt, so