Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße

Insight - Martin Gore und Depeche Mode - André Boße


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diese Platte nicht als etwas Einheitliches. Einige dieser Lieder hatte ich mit 16 geschrieben, und wir erfanden sie im Studio als elektronische Lieder neu. Andere Songs schrieb ich erst im Studio. Für mich ist es unser schwächstes Album.« Für den waghalsigen Schritt, ausschließlich auf neue und komplexere Songs zu setzen, fehlte der Band erstens die Zeit und zweitens der Mut. Gore gelang es nicht, sich ganz aus dem Schatten von Clarke zu lösen: »Es musste schnell gehen. Hinzu kam, dass ich dachte, wir bräuchten ein paar Popsongs, weil wir sie auch auf Speak & Spell hatten.« Seine neuen Songs stellte Gore der Band zumeist in rohem Zustand vor. Oft spielte er nur eine Synthie-Melodie und stampfte den Rhythmus mit dem Fuß. Im Studio entwickelte Gore mit Fletcher und Gahan die Stücke weiter, stets mit Blick auf die Uhr. Denn Studiozeit war teuer, und Depeche Mode standen nicht bei einem Majorlabel unter Vertrag, bei dem Budgets damals noch keine Rolle spielten.

      Was die Bedeutung der Texte betraf, gab sich Gore auch gegenüber seinen Bandkollegen verschlossen. Es war offensichtlich, dass er für die neueren Songs Worte fand, die sich an die düstere Grundstimmung anpassten. Durch die Zeilen von Tracks wie Satellite oder The Sun & The Rainfall wehte eine Stimmung von Abschied, Desillusion und notwendigen Veränderungen. Konkrete Interpretationen lieferte Gore aber nicht. »Wir wissen es nicht, Martin sagt es uns nicht«, entgegneten Fletcher und Gahan einem Journalisten, der wissen wollte, was es mit den Liedzeilen von Monument auf sich habe: »My monument/ It fell down/ Work all of my days/ For this kind of praise/It fell down.« Gore war nicht danach, das Geheimnis für die Presse zu lüften. »Das ist eine sehr direkte Frage«, entgegnete er. »Ich glaube nicht, dass es meine Aufgabe ist zu sagen, was diese Songs bedeuten.« Hinweise über Begebenheiten, die ihn zu seinen Texten aus dieser Zeit inspiriert haben könnten, gibt es daher wenige. In einem Interview aus dem Jahr 1982 sagte er: »Ich schreibe eigentlich über alles und übertreibe es nur ein wenig.«

      Als A Broken Frame schließlich fertig war und im September 1982 erschien, dominierte bei Gore zunächst aus zwei Gründen ein Gefühl der Erleichterung. Er hatte es erstens geschafft, genug Stücke zusammenzubekommen, und zweitens zumindest einen Ansatz gefunden, sich von Clarke zu emanzipieren – ohne Hilfe von außen; dieser Eindruck war ihm besonders wichtig. Daher spielte Wilder bei den Aufnahmen von A Broken Frame noch keine Rolle, daher gab es aber nach der Veröffentlichung auch keinen Grund mehr, ihn nicht endlich fest in die Band aufzunehmen. So verkündete Gores Freundin Anne Swindell in der Oktober-Ausgabe des Depeche Mode Info Service: »Alan Wilder ist jetzt ständiges Mitglied bei Depeche Mode« – und die Bandmitglieder waren wieder zu viert.

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      Martin Gore und sein gespaltenes Verhältnis zum Synthie-Pop der frühen Achtziger.

      Der Klavierspieler benötigt für seine Kunst alle zehn Finger, der Gitarrenheld mindestens ein halbes Dutzend, der Schlagzeuger seine beiden Hände und Füße. Rock’n’Roll ist echtes Handwerk – und das Schwitzen gehört dazu. Wer in einer Band spielt, muss auch körperlich etwas leisten. Muss sich die Annehmlichkeiten eines Rockmusikers im Schweiße seines Angesichts verdienen. Das gilt vor allem für die progressiven Bands der Siebzigerjahre, die es handwerklich »draufhaben«, wie man sagt, und ihr Können immerfort in überlangen Songs beweisen. Das gilt später aber auch für die Bands, deren Ansinnen es ist, genau diese so genannten Dinosaurier von der Bühne zu fegen: die Punkrocker, die am liebsten mit nacktem Oberkörper spielen, schnell und intensiv auf ihre Instrumente einprügeln und zwischen den Songs wütend agitieren. Auch das Publikum schwitzt: Pogo – und der Schweiß tropft von der Decke. Rock- und Popmusik, ob etabliert oder subversiv, ist Ende der Siebzigerjahre eine gesamtkörperliche Erfahrung.

      Und dann kommen die Synthie-Popper. Sie schwitzen nicht. Und sie brauchen für ihr Instrument, den Synthesizer, nur einen Finger. Synthie-Popper in Reinkultur entziehen der Musik die Körperlichkeit. Sie geben sich androgyn und singen nicht über Herzen, sondern Maschinen. Sie sagen, sie seien die Zukunft – und wehren sich daher nicht, wenn die Medien ihnen das Etikett der »Futuristen« verpassen. Der große Pionier dieser Welle ist die deutsche Gruppe Kraftwerk. Fernab von den Epizentren der Popmusik erschaffen und formieren die Düsseldorfer ab Mitte der Siebzigerjahre eine möglichst nicht-physische Band. Die Mitglieder sehen sich nicht als Musiker. »Wir schwitzen nicht. Wir machen keine dreckige Arbeit. Wir sind wie Computer-Programmierer«, definiert es Kraftwerk-Mitbegründer Ralf Hütter. Für junge Briten, die Ende der Siebzigerjahre mit dem für die Insel typischen Kneipenrock fertig waren, klingt dieser Ansatz außerordentlich vielversprechend. Er gibt ihnen die Möglichkeit, Popmusik zu spielen und die Klischees zu ignorieren. Die Idee von der nicht-physischen Band gibt auch schüchternen, introvertierten Menschen die Chance, in einer Band zu spielen. Und Martin Gore nutzt diese Chance – auch wenn er später Kraftwerks Idee total umdefiniert, indem er seinen Körper sehr wohl in die Band einbringt, jedoch anders, als die Rocker sich das vorstellen.

      Als sich Depeche Mode in Basildon finden, haben andere britische Synthie-Popper bereits wichtige Vorarbeit geleistet. Der wichtigste Pionier der jungen Szene ist Gary Numan aus London, doch seine Hinwendung zur elektronischen Musik geschieht mehr oder weniger zufällig. Numan plant mit seiner Band Tubeway Army eine Glamrock-Platte im Stil von David Bowie, als er im Studio über ein Mini-Moog-Keyboard stolpert, das eine andere Band dort vergessen hat. Er testet das Gerät, weiß nicht viel von dessen Eigenschaften, erwischt aber einen harten, leicht verzerrten Sound, der bei ihm eine Assoziationskette in Gang setzt: So kraftvoll hat seine verzerrte Gitarre nie geklungen – und aus einem Bauchgefühl heraus deutet er die bereits fertigen Songs der ersten Tubeway-Army-Platte um. »Ich bin nur ein Gitarrist, der Keyboards spielt«, sagt er. »Ich verwandele Punksongs in elektronische Songs.« Zwar war das Debüt von Tubeway Army noch eine halbseidene Angelegenheit zwischen Glamrock und Elektro-Pop; doch spätestens mit dem dritten Album The Pleasure Principle, diesmal unter eigenem Namen, legte Numan den Grundstein für die Synthie-Pop-Welle.

      Musikalisch – aber auch textlich, wie ein Song wie M.E. beweist. Numan schreibt ihn aus der Perspektive der letzten noch funktionierenden Maschine auf einer Welt, in der alles Leben gestorben ist. Diese düsteren Visionen einer schattigen Zukunft sind ein Gegenmodell zur hyperrealistischen und intensiven New Wave aus Nordengland, gespielt vor allem von Joy Division und ihrem sehr körperlichen Frontmann Ian Curtis. Der ehemalige Ultravox-Sänger John Foxx legt mit seinem ersten Soloalbum Metamatic die künstlerische Latte für folgende Elektro-Platten noch höher. Die LP erscheint 1980 und enthält Lieder wie A New Kind Of Man und He’s A Liquid. Drei Jahre später spielen Depeche Mode Teile ihres dritten Albums Construction Time Again in Foxx’ Studio in London ein und profitieren dort von der künstlerischen und kreativen Brillanz des Besitzers.

      Keine Frage, Metamatic ist einer der künstlerischen Höhepunkte der Synthie-Pop-Welle. Auf Augenhöhe: die besten Alben von David Sylvians Projekt Japan, Gentlemen Take Polaroids und Tin Drum. Doch nicht alle Acts, die sich von Gary Numan inspirieren lassen, streben in so eindrucksvolle Höhen. Im Windschatten eines echten Futuristen wie Foxx tauchen britische Bands auf, die ihre Synthesizer aus zwei Gründen im Gepäck haben: erstens, weil die ehemals teuren Geräte plötzlich für unter 200 Pfund zu haben sind – und damit weniger kosten als die Kombination aus Gitarre und Verstärker; zweitens, weil die Idee einer Band ohne Gitarren und Schlagzeug eine schnelle Karriere verspricht, denn sie ist neu und aufregend. Das klingt negativer, als es gemeint ist, denn die frühen Alben und Singles von pragmatischeren Elektro-Acts wie Thomas Dolby, Soft Cell, Tears For Fears, Heaven 17, Orchestral Manoeuvres In The Dark, Eurythmics oder The Human League sind um Klassen besser als das, was nach Ende der Welle Mitte der Achtzigerjahre zum Mainstream wird.

      Die Rolle von Depeche Mode in diesem Pool neuer Bands ist von Beginn an ambivalent. Gore kommt überhaupt nur in die Gruppe, weil er einen Synthesizer besitzt und Vince Clarke heiß ist auf ein solches Instrument, denn er verspricht sich davon schnelle Aufmerksamkeit. Pragmatischer geht es nicht. Auch ist Gore kein Futurist. Seine Einflüsse sind vor allem traditioneller amerikanischer Rock’n’Roll; seine Experimentierlust in Sachen elektronischer Musik ist wenig ausgeprägt, monatelang spielt er seinen Synthesizer, ohne zu wissen, dass der mehr als nur einen Sound draufhat. Als Gore schließlich zum Songwriter der Band wird, schreibt er die Stücke auf der Gitarre und arrangiert sie mit dem jeweiligen


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