Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße

Insight - Martin Gore und Depeche Mode - André Boße


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Adjektiv bei den Beschreibungen seiner Person war »still«; in einer großen Geschichte für das Magazin Sounds im Juni 1981 fiel Fletcher mitten im Interview auf, dass Gore noch nichts gesagt hatte. Dessen Reaktion: »Ich spare mir das für später auf, ich warte noch auf die richtige Frage.«

      Richtig wohl fühlte sich Gore als Teil dieser Popwelt noch nicht. Es fehlte ihm in diesem Kosmos an Sicherheit. Eine Platzierung in den britischen Charts war eine schöne Sache, sicher. Doch wirkliche Sicherheit bedeutete für ihn der regelmäßige Gehaltsscheck von NatWest – zumal er für die Chartplatzierung der Single Dreaming Of Me nicht plötzlichen Reichtum erlangte. Clarke als Songwriter bekam immerhin die Tantiemen, durch Gore und die beiden anderen blieben 100 Pfund – und die gingen schnell für ein paar Biere über den Tresen. Auch als Depeche Mode im Mai 1981 erneut ins Studio gingen, um neue Songs für eine zweite Single aufzunehmen, fehlte es Gore ein wenig an Antrieb. Viel mehr als die neuen Lieder interessierten ihn Videospiele; er bezeichnete sich später als »Abhängiger« und »siebtbester Spieler der Welt«. Labelchef Miller erinnerte sich, dass Gore und Fletcher abends direkt von ihren Jobs und mit einer Tüte Take-away-Essen ins Studio kamen: »Martin fragte uns: ›Muss ich heute wieder was spielen? Okay, dann los.‹ Er kam für fünf Minuten rein und hauchte den Stücken mit seinem Spiel Leben ein. Es war offensichtlich, dass er sehr musikalisch war. Ich erinnere mich, wie er da mit chinesischem Fastfood in der einen Hand an seinem Synthesizer stand und mit der anderen eine Melodie spielte. Alles, was er im Grunde wollte, war, in Ruhe zu essen.«

      Für eine junge Band, die gerade im Begriff ist, erste Songs aufzunehmen, kümmerten sich Depeche Mode erstaunlich wenig um das Wesentliche: die Songs. Gore gestand rückblickend, nicht ansatzweise gewusst zu haben, was die Texte von Vince Clarke zu bedeuten haben: »Oft war schon die Grammatik ein Mysterium, ganz zu schweigen von der Bedeutung.« Und Gore wäre der Letzte gewesen, der in dieser Hinsicht nachgefragt hätte. Aber immerhin schrieb er in dieser Zeit selbst einen Song, Tora! Tora! Tora!, benannt nach dem Ausruf japanischer Kampfflieger kurz vor dem Angriff auf den amerikanischen Navy-Stützpunkt Pearl Harbor. Die Stimmung des Songs ist ein wenig gespenstisch, der Text durchaus eindringlich: »I had a nightmare only yesterday/ You played a skeleton/ You took my love then died that day/ I played an American.« Man könnte denken, Gore habe versucht, dem federleichten Synthie-Pop Clarkes eine andere Klangfarbe entgegenzusetzen. Doch der Autor selbst sah die Sache anders: »Ich betrachtete meine Songs in dieser Phase gar nicht als meine eigenen«, sagte Gore 2001 in einem Interview mit dem britischen Musikmagazin Uncut. »Was ich versuchte, war, mich als Songwriter dem anzupassen, was Vince zu dieser Zeit machte.«

      Gores beachtliche Teilnahmslosigkeit angesichts des Aufstiegs von Depeche Mode neigte sich erst dem Ende zu, als die Band Mitte Juni 1981 die zweite Single New Life veröffentlichte. Das Stück kletterte in den britischen Charts bis auf Platz 11 – und so langsam dämmerte es auch Gore, dass dies mehr war als ein Hobby. Daryl Bamonte, Freund der Band und Tourmanager, erinnerte sich an ein Gespräch zwischen Gore und Miller, kurz nachdem New Life nur knapp die heilige Top Ten verpasst hatte: »Martin fragte Daniel: ›Müssen wir jetzt tatsächlich unseren Beruf aufgeben?‹ Und Daniel sagte: ›Ja, ich denke, für euch wird ab jetzt gesorgt sein.‹« Gore kündigte, Fletcher tat es ihm gleich – und im Juli 1981 durfte das Teenie-Musikmagazin Smash Hits in einer Titelgeschichte verkünden: »In den letzten Monaten haben sie alles aufgegeben, was sie davon abhält, zu jeder Zeit Depeche Mode zu sein.« Interessanterweise begann Gore zeitgleich damit, auf der Bühne Anzug und Krawatte zu tragen. Die Vorteile lagen auf der Hand: Der ehemalige Banker musste seine Business-Suits nicht einmotten – und sah dazu allemal besser aus als bei seinen ersten Versuchen, sich einen individuellen Stil anzueignen.

      Im selben Monat war die Band zudem erstmals bei Top Of The Pops zu Gast, der bekanntesten Musik-TV-Sendung Großbritanniens. Die Show war damals kein Kinderzirkus, sondern eine große Sache. Hier hatten sie alle gespielt: die Beatles, David Bowie, Roxy Music. Und nun stand Gore an seinem Synthesizer und war furchtbar nervös. »Ich weiß noch, dass ich in der Nacht vor der Aufzeichnung nicht schlafen konnte«, sagte er später. »Heute wirkt das vielleicht ein wenig lächerlich, aber wir waren damals sehr jung – und das war die Hit-Show, mit der wir aufgewachsen waren.« Generell hatten Depeche Mode damals so ihre Probleme mit der Bühnenperformance. Während Gahan als Sänger aus heutiger Sicht seltsame, damals aber durchaus angesagte Tänze aufführte, wusste Gore nicht so recht, was er hinter seinem Synthesizer tun sollte. Dem New Musical Express erzählte er im Sommer 1981 von einer interessanten Idee aus den Anfangstagen: »Wir wollten Schienen auf der Bühne verlegen und uns auf Plattformen stellen, sodass wir uns nach vorne und hinten bewegen könnten, ohne uns tatsächlich zu bewegen.«

      Nach zwei Singles wurde es Zeit für das erste Album. Depeche Mode begannen im Juni 1981 mit der Arbeit, wobei es nie in Frage stand, dass auch Gores Songs Big Muff und Tora! Tora! Tora! ihren Platz auf der Platte finden würden. Die Band hatte sie seit mehr als einem Jahr bei Konzerten gespielt, und auch Clarke wehrte sich nicht dagegen. Zudem kam es auf der LP zur Premiere des Leadsängers Gore: Sehr spät entschied sich die Band, das eigentlich als Instrumental geplante Any Second Now als Gesangsstück zu arrangieren – und Gore übernahm den Job. Als im September 1981 die dritte Single Just Can’t Get Enough als Vorbote für die LP herauskam, spürte die Band zum ersten Mal Gegenwind. Einigen Kritikern erschien dieses hüpfende Poplied zu banal, zu kindisch. Es kam auch zu ersten Vorbehalten gegen den reinen Synthie-Pop von Depeche Mode; die Rock’n’Roll-Autoren in den Redaktionen schienen dann doch die Gitarren zu vermissen. Grund genug für Gore, in einem Gespräch mit dem Magazin Sounds im November 1981 eindeutig Stellung zu beziehen: »Rockmusiker sagen, man könne sich mit einem Synthesizer nicht ausdrücken. ›Seelenlos‹ ist der Begriff dafür. Aber was bringt es, immer weiter auf Gitarren einzuprügeln? Auch Heavy-Metal-Riffs sind fast alle gleich.«

      Als das Album im Herbst 1981 fertig war und den Titel Speak & Spell bekam (benannt nach einem elektronischen Buchstabier-Spielzeug), hatte die Band zum ersten Mal groß angelegte Promotion-Arbeit zu leisten: eine kurze Tour in Europa, ungezählte Interviews und Fotosessions. Depeche Mode wurden herumgereicht, und oft drehten sich die Fragen nicht um die Musik und die Songs, sondern um Aspekte der Mode und des Zeitgeistes. Das Image der Band wandelte sich: Depeche Mode waren nicht mehr die innovativen Synthie-Pop-Pioniere, sondern elektronische Bubblegum-Popper für Teenies. Just Can’t Get Enough hatte Photographic als Kernstück abgelöst. Und plötzlich drehte sich das Bandgefüge: Während sich Gore mehr und mehr mit der Situation arrangierte, nun Popmusiker zu sein, isolierte sich Clarke. Der eindeutige Antreiber der ersten Monate wurde zum Fremdkörper. Es gefiel ihm nicht, dass die Band von der Presse so sehr personalisiert wurde. Er spürte, dass Erfolg und Anonymität nicht zusammengehen. Und es stört ihn, dass sich die anderen mehr oder weniger willenlos dem Strom der Ereignisse ergaben: Gahan genoss die Aufmerksamkeit, und Gore und Fletcher waren eben keine Typen für Rebellionen.

      So kam es, dass Clarke schon kurz vor der Veröffentlichung des ersten Albums den Entschluss fasste, die Band zu verlassen, und seinen Ausstieg nur so lange verzögerte, bis sich die Gruppe nach Speak & Spell neuen Aufnahmen zu widmen hatte. Plötzlich standen Depeche Mode ohne ihren Songwriter da. Ohne die treibende Kraft der ersten Monate. Ohne den Mann, der überhaupt dafür gesorgt hatte, dass die Band Konzerte spielen und einen Plattenvertrag unterzeichnen konnte. Für 99 Prozent aller Bands der Rock- und Popgeschichte wäre ein solcher Verlust das Ende gewesen. Aber Depeche Mode machten weiter. Und alle – Gahan und Fletcher, aber auch Mute-Boss Miller – setzten ihre Hoffnung auf den Mann, der vor ein paar Wochen noch parallel zum Einspielen seiner Melodien chinesisches Essen verputzt hatte. Und Gore selbst? Reagierte, wie man es gewohnt war: er machte mit. Denn Nein zu sagen war einfach nicht sein Ding.

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      Punk bringt Farbe ins graue England der Siebziger – und Martin Gore profitiert davon.

      Die Engländer sind kein optimistisches Volk. Manchmal ist die Klappe groß und der Humor böse. Aber im Grunde sind sich die Menschen zwischen Newcastle und Dover ziemlich sicher, dass ihr Land nicht wirklich zu den gesegneten Flecken auf der Erde gehört. Warum sonst dieses Wetter? Engländer finden immer einen Grund, sich über Gott und die Welt zu beklagen. So


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