The Who - Maximum Rock II. Christoph Geisselhart
des Rock’n’Roll, seine Aggressivität und sein Frustrationspotenzial, sich nicht bloß auf die Geschehnisse auf der Bühne beschränkten. Die Kraft, die Rockgruppen freisetzten, ließ sich in Wahrheit weniger steuern, sondern lenkte sogar sie selbst. Wohin bewegte sich der Rock’n’Roll? Was war aus seinen ursprünglichen Idealen geworden? Ging es noch um die Befreiung des Menschen durch Musik, um Kunst und Jugend, um Gleichheit ohne Rassenschranken, um Gerechtigkeit in einer Welt mit ungleich verteilten Gütern, um die spirituelle Harmonie mit dem Universum? Hatten nicht längst die Machtgier der Plattenbosse und die Selbstsucht der Musiker über den Edelsinn gesiegt, Korruption und Dekadenz über Weitsicht und Uneigennützigkeit, Profitwahn und Genusssucht über Freiheit, purer kommerzieller Selbsterhaltungstrieb über Mut, Lebensfreude und Würde?
Nach zwanzig hektischen Tagen zwischen New York und Chicago, während denen sie vor über zweihundertzwanzigtausend Menschen auftraten und acht von Pete zerschmetterte Gibson SG hinterließen, flogen The Who nach England zurück. Es war an der Zeit, sich ernsthaft mit der Zukunft der Band auseinanderzusetzen. Pete berief eine offizielle Zusammenkunft ein, die in Rogers Anwesen in Burwash stattfand und von zwei Townshend-Spezies, Chris Morphet und Richard Stanley, gefilmt wurde. In erster Linie sollte über Petes Idee eines Who-Films diskutiert werden. Doch bald entwickelte sich der sogenannte „Gedankenaustausch“ zu einer mentalen Schlacht, die von Petes scharfer Zunge dominiert wurde.
„Was trieb uns denn dazu an, rüber zu gehen und Amerika zu erobern?“, fragt der lange Heißsporn in Morphets Film. Er sitzt mit seinen Bandkollegen an einem Tisch und ist genervt von deren oberflächlicher Witzelei, und so beginnt er mit zersetzender Lust, ins eigene Fleisch zu stechen und das Messer gezielt in der offenen Wunde herumzudrehen. „Weil wir von dem ganzen Geld besessen sind, das wir angenommen haben! Wir sind besessen von einer zirkusartigen Inszenierung! Lasst es uns doch zugeben: Wir wollen nur das Geld! Wir haben uns kaufen lassen!“
Keith widersprach, er brauche die Show, er fühle sich nicht in der Lage, einfach nur so Schlagzeug zu spielen. Dass Geld für ihn keine Bedeutung habe, sagte er nicht. Er wusste, dass auch er durchaus Geld brauchte, um es mit vollen Händen ausgeben zu können, um Leute auszuhalten, blödsinnige Dinge wie Milchautos oder mittelalterliche Schießprügel zu kaufen, Hotelzimmer zu zerstören oder Fernsehgeräte aus dem fahrenden Rolls Royce schmeißen zu können. Keith geriet plötzlich derart in Fahrt, dass sein altes Trauma aus ihm herausbrach und er in bitterem Spaß keifte: „Ich verlasse die Band und steige bei einer größeren ein. Ihr drei Typen hier seid so humorlos, von der übelsten Sorte.“
John bemühte sich, die Wogen zu glätten. Er wollte die Auseinandersetzung versachlichen. Er fand die Idee gut, einen objektiven Film über das Rockbusiness zu drehen, ganz nüchtern und ohne Verklärung – eine Dokumentation. Roger nutzte Johns Vermittlungsversuch, um Pete anzugreifen. Wie so oft nannte er dessen Ideen abstrakt und sehr gewagt; vor allem aber kritisierte er, dass Pete sich wie ein Diktator aufführe, was diesen direkt in die Kamera blicken und verkünden ließ: „Ich trage hier die Verantwortung. Wir sind an einen Punkt angelangt, an dem wir erkannt haben, dass das hier“ – er ließ seinen Arm windmühlenartig kreisen – „nicht gut ist; es ist unterste Schublade, wir können das nicht weiter machen – wir haben beschlossen, einen Film zu drehen.“
Punkt, Klappe, Schnitt.
In einer ruhigeren Minute erklärte es Pete so: „Ich habe einfach das Gefühl, dass die Band unbedingt einen Film machen sollte. Die ganze Who-Organisation, unser gesamtes Team eignet sich dafür – ich denke nicht, dass es viele Rockgruppen gibt, die so viel über Rockshows auf der Bühne wissen und die gleichzeitig einen solchen Mangel an notwendigem Ego haben, um das aufrecht zu erhalten. Wir brauchen dringend einen Film.“
Er sagte es zwar auf die falsche Weise, aber seine Analyse war richtig. Pete ahnte wohl als einer der ersten Musiker, dass Rock’n’Roll zwar nicht starb, doch am Ende seiner Entwicklungsmöglichkeit als Massenkommunikationsmittel angekommen war. Das künftige Vehikel, mit dem sich wirkungsvoll Botschaften unters breite Publikum bringen ließen, war der Film. Hier entstanden die Visionen der Zukunft, in Bildern, nicht in Klängen. The Who waren älter geworden, und Pete brauchte ein anderes Medium für seine Ziele. Rock’n’Roll lieferte die für jede Ära notwendigen Heldengeschichten auf einer langfristig schwer vermittelbaren, fast kindischen Ebene. Der rauschhafte Persönlichkeitskult der sechziger Jahre, unter dem viele Heroen des Rock’n’Roll zerbrachen, musste sich zwangsläufig wieder aufs Zelluloid richten, wo die Figuren buchstäblich künstlich und unsterblich sind, unverwundbarere Projektionen der menschlichen Leidenschaft.
Pete begriff, dass das Licht, aus dem Filmhelden geschaffen werden, dem tieferen, langwelligeren Frequenzbereich, in dem die Musik ihre Abbildungsplattform findet, überlegen ist, wenn man eine Botschaft verbreiten will. Musik wirkte vielleicht subtiler, aber nie machte sie die Zusammenhänge der Welt so transparent, wie Pete das vorhatte. Die Frage war nur, ob The Who auf dieser neuen Matrix ebenso große Wirkungskraft entfalten konnten wie auf der Bühne. In ihrer Musik hatten sie genial schlichte Perfektion und unvergleichliche Sinnlichkeit durchgesetzt. Wenn es die göttliche Note in der Rockmusik gab, den universalen Einheitsakkord – entstand er dann nicht während Tommy oder bei „Won’t Get Fooled Again“ im magischen Zusammenspiel zwischen einer gedankenlos dahintuckernden Klangmaschine und einem stampfenden, wirbelnden, urlebendigen Keith Moon?
Nachdem Pete seine neue Marschrichtung in die Kamera diktiert hatte, war es nur eine Frage der Zeit, wann sich The Who einem eigenen Filmprojekt zuwenden würden. Doch zunächst erhielten Petes ehrgeizige Pläne einen Dämpfer: Die Option, die Universal Pictures auf einen Tommy-Film hatte festschreiben lassen, verstrich. Universal stieg aus den Vereinbarungen aus, da Pete keine Anstalten unternommen hatte, Lamberts Drehbuch, das er abgelehnt hatte, zu verbessern. Tommy interessierte Pete nicht mehr, und das war nicht nur für Universal unverständlich.
Kit Lambert, der exzentrische Who-Manager, hatte sich vollends nach New York zurückgezogen, tief verletzt und enttäuscht, da Pete in Interviews zu Who’s Next kaum eine Gelegenheit ausließ, auf die mindere Soundqualität früherer Who-Alben hinzuweisen, die Lambert produziert hatte, während er die Arbeit von Tonmeister Glyn Johns in den Himmel lobte. Johns aber war nach Lamberts Ansicht ein Verräter, ein Vasall seines Widersachers Shel Talmy gewesen, und dass die Who diesen Diener eines falschen Herrn ihm vorzogen, tat doppelt weh.
Doch eigentlich waren das nur vorgeschobene Scharmützel. Die Entfremdung zwischen Pete und seinem einstigen Mentor war im Grunde vorprogrammiert gewesen, denn Kit und The Who hatten noch nie wirklich übereinstimmende Ziele verfolgt. Der intelligente, zynische Lebemann Lambert benutzte und durchdrang zwar die Wirkung der Rockmusik, aber sein Musik- und Kunstverständnis orientierte sich an der Klassik und am Barock. Er gehörte einer anderen gesellschaftlichen Schicht und einer älteren Generation an; ihn faszinierten am Rock’n’Roll vor allem die schier grenzenlosen Möglichkeiten zur Selbst- und Außendarstellung. „Kit redet immer noch von Konzerten auf dem Mond“, lästerte Pete. „Wir denken inzwischen vollkommen anders.“
The Who liebten die Rockmusik an sich und waren dafür bereit, sich mit den unterschiedlichsten Einflüssen auseinanderzusetzen. Roger Daltrey und Keith Moon zum Beispiel hätten wohl nie aus eigenem Antrieb einen Barockkomponisten wie Henry Purcell gehört. In Tommy waren die divergierenden Vorstellungen und Fähigkeiten von Kit Lambert und The Who zu einem grandiosen Werk verschmolzen. Mit Who’s Next wurden die Unterschiede aber wieder manifest und endgültig.
Kit hatte seine künstlerischen Ziele nach Tommy zunehmend von der Gruppe gelöst und verfolgte eigene Projekte. Das operative Tagesgeschäft von Track und New Action führten schon längst angestellte Direktoren der verschiedenen Geschäftsbereiche, so dass Lambert und sein Partner Chris Stamp eigentlich nur noch wie früh ergraute Aufsichtsräte über ein stetig wachsendes Who-Imperium wachten. Die Who-Bandmitglieder waren mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Vor allem Roger missfiel die feudale Unternehmensstruktur zunehmend. So wie sich Pete auf künstlerischem Feld von Lambert unabhängig machte, begann Roger sich in die finanziellen Transaktionen einzumischen. Er überprüfte Ausgaben und Investitionen und fand in Büchern und Belegen manches, was unnötig, seltsam, unklug oder gar verdächtig erschien. Lambert war nie ein harter und, was