Ich rede zu viel. Francis Rossi

Ich rede zu viel - Francis Rossi


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fiel also oft hin und verletzte mich dabei. Mein Bruder und ich – wir trugen nur Shorts, keine Hemden – rannten an einem Sommertag um eine Ecke herum. Ich knallte hin, direkt auf das Gesicht. Als ich hochschaute, sah ich Mutter Agatha, eine der Nonnen von der katholischen Schule Our Lady & St. Philip Neri in Forest Hill, die wir besuchten. Ich mochte sie eigentlich, aber nun stand sie da und starrte mich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an. Am nächsten Tag erzählte sie von diesen bösen jungen Männern, die halbnackt herumgerannt seien. Da ich mich immer noch daran erinnere, hat es offensichtlich einen tiefen Eindruck hinterlassen.

      Noch intensiver erinnere ich mich daran, auf der Straße verprügelt worden zu sein. Wir lebten damals noch in der Perry Rise in Forest Hill, und als ich mit fünf Jahren die Schule besuchte, ging ich immer zu Fuß dorthin. Ich schlenderte so vor mich hin, war einfach ein fröhliches kleines Kind. Eines Tages sah ich einen mir auf der Straße entgegenkommenden Altersgenossen. Als wir auf gleicher Höhe waren, prügelte er mit seinen Turnschuhen auf mein Gesicht ein. Er schlug so heftig zu, dass er mir beinahe den Kopf abriss. Nach dem Vorfall hatte ich fürchterliche Angst, alleine zu gehen. Meist schickten sie dann meinen Cousin, der mich auf dem Schulweg begleitete. Erst jetzt realisiere ich, dass mich dieses Erlebnis jahrelang prägte. Ich mochte es nicht, rauszugehen, hatte immer Angst vor Menschen, davor, verletzt zu werden. Wenn ich mich prügelte, spürte ich rein gar nichts. Das lag möglicherweise am puren Adrenalin – ausgelöst durch die Furcht. Wie dem auch sei, ich halte nichts von Schlägereien, von dem Feuer, das sie in Menschen entfachen.

      Ich benötigte Jahre, um mir darüber klarzuwerden, was mit mir geschehen war. Ich war möglicherweise schon in den Vierzigern, als es mir dämmerte – dass meine Angst vor Menschen exakt an dem Tag begann, als man mich als Schulkind auf der Straße angegriffen hatte. Ich muss den anderen Jungen wohl an einem vorhergehenden Tag „komisch“ angeschaut haben. Nicht absichtlich, einfach in der Art, wie man mit fünf oder sechs Jahren mit großen Augen die Welt erkundet. Das muss ihn wohl geängstigt haben. Möglicherweise ging er an dem Tag nach Hause und berichtete seinem Vater, dass er auf der Straße dieses Kind getroffen habe, das ihm Angst einjage. Sein Dad muss wohl so einen schrecklichen Kommentar abgelassen haben, wie es Väter oft machen: „Geh einfach auf ihn zu, mein Sohn, schlag ihn so fest, wie du nur kannst – und lauf dann weg!“ Erst später wurde ich gewahr, dass exakt das geschah, nachdem er mich geschlagen hatte – er rannte weg. Wahrscheinlich hatte er vor Angst die Hosen voll! Daraus resultierte, dass zwei Kids aus diesem Zwischenfall traumatisiert hervorgingen – was bei mir das gesamte Leben lang anhielt. Ich fürchte mich immer noch vor vielen Ereignissen, einzig und allein aufgrund dieser Episode in meiner Kindheit.

      Das ist schon merkwürdig, da ich weiß, dass mich die meisten, die mich auf der Bühne oder im Fernsehen sehen, als super selbstbewusst empfinden, vielleicht sogar als Schlaumeier und Macker. Doch das ist alles eine Art Maske. Ich habe tatsächlich ständig Angst vor dem Unkontrollierbaren. Ich habe Angst vor anderen Menschen. Das liegt alles versteckt in einigen meiner bekanntesten Texte, und möglicherweise liegt darin der Grund, dass ich mich so viele Jahre in Drogen verlor. Darum bestehe ich auch auf einer täglichen Routine. Einige nennen das einen Zwang zum ständigen Überdenken und Verharren, andere beschreiben solche Menschen als Kontrollfreaks. Nein, es ist die simple Angst vor dem Unbekannten – oder eher dem Plötzlichen und Unerwarteten. Ich erwarte ständig das Unerwartete – und fürchte mich davor. Darin liegt wohl auch der Grund, dass ich bei einem neuen Vorschlag, einer neuen Idee zuerst mit einem Nein reagiere. Später dann, meist zum Ärger aller, mich eingeschlossen, lasse ich mich vielleicht zu einem Meinungswechsel überreden. Sie werden im Laufe des Buches erfahren, dass dies häufig geschieht.

      Meine Frau Eileen ist sich nicht so sicher, dass sich diese Charaktereigenschaft auf den Vorfall in meiner Kindheit zurückführen lässt. Die Musiker von Status Quo und meine Freundin Lyane Ngan streiten sich mit mir darüber. Doch ich weiß, dass ich recht habe. Ich mag es allerdings nicht, wenn Leute sagen, dass sie recht haben. Doch hier habe ich recht! (Klugscheißer!) Das bedeutet natürlich nicht, dass ich nie danebenliege. Erst wenn man erkennt, wie falsch man bislang über bestimmte Themen gedacht hat, lernt man eine wertvolle Lektion über sich selbst und die Welt. Was an dem einen Tag falsch gewesen sein mag, kann am nächsten schon wieder richtig sein. Wir alle leben im Reich der Relativität, womit man sich niemals wirklich sicher sein kann, oder? Doch was dieses Kind anbelangt, bin ich mir absolut sicher.

      Rick, Quo-Keyboarder Andrew Bown, Dave Salt, unser alter Tourmanager, sowie meine Wenigkeit saßen einmal im Tourbus, und wir erinnerten uns an die Schulzeit. Andy erzählte, dass er damals nur habe zeichnen wollen. Ich berichtete davon, in der Zeit zurückreisen und mehr lernen zu wollen, da ich wegen meiner Kränklichkeit so viel verpasst hätte. Und Rick meinte: „Scheiß doch drauf, ich weiß alles, was ich wissen muss.“ Was für eine anmaßende Aussage! Ich weiß alles, was ich wissen muss. Wie kann man so etwas nur wissen? Wie öde wäre dann ein Leben, wenn das tatsächlich zutreffen würde. Man weiß alles, was man wissen muss und muss nie mehr etwas Neues lernen? Doch Rick war so – volle Kraft voraus, niemals zurückschauen. Eigentlich kann man bei so einer Einstellung schon das Handtuch werfen und aufgeben. Ich versuche auf jeden Fall, ständig zu lernen. Viele Themen, hat man etwas über sie gelernt und sie verstanden, können zu den Akten gelegt werden. Doch es gibt immer etwas Neues oder einen Menschen, der plötzlich im Leben auftaucht und einem etwas mehr, etwas ganz anderes beibringt.

      In meiner Schulzeit mag wohl auch der Grund gelegen haben, warum mein Lernen nicht den gewohnten Mustern folgte. Ich lernte eher aus meinen Erfahrungen heraus. Da ich wegen meiner Krankheiten so viel Unterricht verpasste, wurde aus mir niemals ein gebildetes Kind. Heutzutage würde man mich in der Schule sitzenbleiben lassen. „Dieser dumme Junge hat nichts gelernt. Er war ja nie da!“ Doch damals machte man kein großes Aufsehen darum, da ich im Einzelhandel aufwuchs und meine Berufsaussichten gesichert erschienen, was zumindest alle annahmen. Erst kürzlich habe ich mich mit meinem Bruder Dominic darüber unterhalten. Wir wuchsen auf und wussten, dass wir in die Welt raus mussten, um durch den Verkauf genügend Geld zu verdienen, entweder in einem Geschäft oder von einem Wagen aus wie Mum und Dad oder auf eine andere Art.

      Die Kids, die damals eine Universität besuchten, gehörten zu einem bestimmten Personenkreis. Sie dürsteten nach Wissen. Anschließend wurde daraus eine Art unsichtbare Auszeichnung. Meine Kinder haben sie auch erhalten. Doch kürzlich meinte mein jüngster Sohn, der Psychologie studiert, zu uns: „Ich bin mir da nicht so sicher.“ Ich dachte nur: Meine Güte! Meiner Einstellung nach sollte man mit dem Lernen nie aufhören, egal, wie gut oder schlecht man ausgebildet ist. Allerdings stellt der Besuch einer Universität keine Garantie dar. Ich habe eine Menge dummer Leute kennengelernt, die auf einer Uni waren, und viele schlaue Menschen, die keine besuchten. Und umgekehrt! Die Regel besagt in dem Fall, dass es keine Regel gibt. Heute lassen sich die Freunde meiner Frau mit dem Völkerbund vergleichen. Es sind Australier, Amerikaner, Neuseeländer, Thailänder, Japaner und einige Inder, Iren und Iraner. Ich habe sie schon in der Vergangenheit gefragt: „Warum seid ihr so bedacht darauf, dass eure Kinder die Universität besuchen?“ Sie antworteten: „Damit sie einen guten Beruf bekommen.“ Daraufhin antwortete ich: „Sollten sie nicht einfach zufrieden sein?“ Mit einem „guten Job“ meinen sie natürlich Geld. Das bedeutet ein nettes Auto, ein schickes Haus und all das andere Zeug. Als ich noch ein Teenager war, runzelte man darüber die Stirn, genauer gesagt, über die Flagge des Kapitalismus.

      Ich wünschte, all das schon als Kind gewusst zu haben. Stattdessen fühlte ich mich meist als Außenseiter, als komischer Kauz. Ich bin mir sicher, dass das auf viele während der Schulzeit zutraf. Bei mir hatte das partiell etwas mit meinem „fremden“ Akzent zu tun, teils Northern, teils Italienisch, teils Cockney. Ich weiß nicht mehr, wie oft man mich als Kind auf meine angeblich affektierte und „affige“ Aussprache angesprochen hat. Wie sie darauf kamen, ist mir immer noch ein Rätsel. Viele der anderen Kinder glaubten, wir seien reich oder zumindest wohlhabend. Das traf auch auf die Bandmitglieder zu, als wir im Teenageralter die ersten Sessions spielten. Irgendwie nahmen die Leute immer an, dass ich eine Menge Geld besäße. Doch wir lebten in keiner Villa, sondern nur in einem hübschen Haus. Mum und Dad strebten nach eigenem Immobilienbesitz, denn so denken Einzelhändler nun mal, doch wir waren niemals reich. Kinder aus meiner Schule kamen in unseren Süßwarenladen in Balham und frohlockten: „Wow! Die ganzen Süßigkeiten umsonst!“


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