Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie. Mike Rutherford
nahe Whitehall. Als Mum 1947 die Geburt meiner Schwester Nicolette erwartete, hatte das Militär Dad bereits zum Stabschef der Marinevertretung der Joint Chiefs of Staff in Australien berufen. Man entschloss sich, dass Mum zu Nickys Geburt nach Durban reisen und danach die Schifffahrt nach Australien antreten sollte, um Dad zu treffen. Das bedeutete Folgendes: Dad erfuhr erst von der Geburt seiner Tochter, als man ihm auf der Gangway seines Schiffs in Adelaide eiligst ein Telegramm überreichte.
Nach dem Ende seiner Dienstzeit zogen meine Eltern und Nicky nach Großbritannien. Dad trat wieder den Dienst bei der Admiralität an und fand ein Mietshaus in Chertsey, Surrey, wo ich am 2. Oktober 1950 geboren wurde. Bei der Suche nach einem passenden Namen entschieden sich die beiden für möglichst viele Optionen, und so taufte man mich Michael John Cloete Crawford Rutherford. Weniger als zwei Jahre nach meiner Geburt musste Dad uns dann neuerlich verlassen, diesmal eilte er in den Koreakrieg.
Vater war erst acht Jahre alt, als er Opa dabei beobachtete, wie dieser – mit Fernglas, einem Schwert und einem Revolver bewaffnet – in den Ersten Weltkrieg zog. Im Alter von nur 18 Monaten konnte ich zwar noch nicht wahrnehmen, was Dad bei sich trug, als er sich in den Fernen Osten aufmachte, aber ich erinnere mich genau an den Tag seiner Rückkehr zwei Jahre später. Er fragte mich, wie viele Zähne ich schon hätte, und dann ließ er mich über das ganze Auto klettern – meiner Meinung nach sympathische Begrüßungsgesten.
Bis ich ins Bett musste, lief alles ganz gut, doch dann wunderte ich mich ein wenig: Was machte der fremde Mann in unserem Haus? Der hatte doch sicher nichts mit uns zu tun?
Offensichtlich aber doch!
Ich kann das Bild meines Vaters immer noch klar vor mir sehen, der in der Abenddämmerung in meinem Zimmer auftauchte, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Er war ein großer, stämmiger Mann – nicht so groß allerdings, wie ich mal werden sollte –, erschien mir aber trotzdem nicht furchteinflößend.
Ich hegte immer noch den Gedanken, ob er nicht im Laufe der Nacht wieder verschwinden würde, und so stand ich mehrmals auf, um nachzuschauen, wo er steckte. Schließlich gaben meine Eltern nach und stellten mein Bett in ihr Schlafzimmer, damit sie endlich in Ruhe die Augen schließen konnten.
Vater war stets ein standesgemäß gekleideter Mann mit einer verblüffenden Grundhaltung. Sogar ohne Uniform bewahrte er Haltung und strahlte eine Präsenz aus, die andere Menschen beeindruckte. Wo auch immer er hinging – in ein Restaurant, ein Geschäft oder in einen Schreibwarenladen –, er zwang den Leuten förmlich Respekt ab, die sich daraufhin höflich und zuvorkommend verhielten. Darüber hinaus würde ich ihn als pünktlich, in allen Belangen methodisch vorgehend und gründlich charakterisieren.
Als kleiner Junge richtete ich mich jedoch eher nach meiner Mutter.
Sie wollte in ihrer Jugend die Kunsthochschule besuchen, was jungen Mädchen damals jedoch versagt blieb. Auch schwebte ihr eine Laufbahn als Balletttänzerin vor, doch dafür war sie zu groß. Mum nahm Klänge und Energie mit hoher Sensibilität wahr. Ein Sonnenuntergang oder ein kräftig blauer Himmel begeisterten sie jedes Mal: „Liebling! Schau dir diese Farben an!“
Ich möchte sie als eine wunderbare, auf eine bestimmte Art faszinierend verschrobene Frau beschreiben. Ich glaube, dass Dad ihre Persönlichkeit schätzte und genoss, was ihm jedoch einige Probleme einbrachte. Als die beiden in Melbourne lebten, verlor sich Mum ganz und gar im Sammeln von Gold-Akazien, die sie wegen der kräftig gelben Farbe liebte und die sie an Südafrika erinnerten. Allerdings wusste Mutter nicht, dass die Pflanzen in Australien – ganz im Gegensatz zu Südafrika – unter Naturschutz stehen. Eines Tages belud sie Dads Wagen mit Gold-Akazien, die ihr eine Strafe von 200 Pfund eingebracht hätten. Dad musste daraufhin mitten in der Nacht an den Strand fahren, ein Loch buddeln und das Grünzeug darin verschwinden lassen.
Mum war die Ehe mit Dad als Witwe eingegangen. Ihre vorhergehende Beziehung zählte zu den Tabuthemen der beiden. Erst im Alter von 13 Jahren, während eines Familienurlaubs in Italien, dachte ich laut darüber nach, warum jedes silberne Besteckstück im Schrank des Esszimmers die Gravur „Captain Woods“ trug. Die beiden schreckten hoch. Mum war kreidebleich. Damals stigmatisierte man noch eine zweite Ehe. Hinzu kam, dass „Captain Woods“ an Krebs gestorben war, worüber man erst recht nicht sprach. Ich schätze, es muss Mums Idee gewesen sein, ihre persönliche Geschichte unter den Teppich zu kehren, denn mein Vater war viel zu direkt, um etwas zu verbergen.
Vielleicht bewahrten die beiden Stillschweigen darüber, weil sie sich ernsthafte Sorgen machten, dass sich dieses Wissen auf mich auswirken könnte. Na ja, wenn sie wirklich von solchen Bedenken geplagt wurden, hätten sie nicht das gravierte Tafelsilber rumliegen lassen dürfen. Wie dem auch sei, Mums erste Ehe berührte mich nicht.
Als ich fünf Jahre alt war, ernannte man meinen Vater zum Kommandierenden Offizier der kleinen Insel Whale Island im Hafen von Portsmouth. Dad hatte dort vor 20 Jahren seine Ausbildung als Leitschütze der Marineartillerie absolviert und kehrte nun, 1955, zurück, um das Kommando zu übernehmen.
Es stellte den Höhepunkt seiner Laufbahn in der Marine dar. Schon bald bezog unsere Familie das Haus des Captains. Dieses Arrangement mutete ein wenig ungewöhnlich an, denn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Unterbringung alleinig Männern vorbehalten. Von den Familien erwartete man, dass sie in ihrer Wohnung an Land blieben. Hinzu kam noch, dass die Kinder der meisten Offiziere beim Erreichen des Captain-Rangs schon erwachsen waren und eine Universität besuchten. Mein Vater hingegen hatte im Alter von 49 Jahren eine siebenjährige Tochter und einen fünfjährigen Sohn. Doch Nicky und ich lernten schnell, uns in die Abläufe einzufügen:
In der Militäreinrichtung bezogen beide Kinder die ihnen zugewiesenen Plätze. Es gab keine Kinderpsychologie oder etwas Vergleichbares. Wenn sie die Dreiräder nicht benutzten, wurden sie exakt zwischen die weißen Linien ihres Fahrradparkplatzes außerhalb des Hauses gestellt. Nach jeder Freizeit wurde ihr Spielzeug auf Seemannsart eingezogen. Falls sie fragten: „Ist das ein Befehl?“, lautete die gewohnte Antwort: „Ja – rechts um – im Eilschritt Marsch!“ Mehr lässt sich darüber nicht berichten.
Ebenso wie Dad hatte ich in der Kindheit eine Nanny, zumindest während der Zeit auf Whale Island. Sie war die Tochter eines Lieutenants, die wie der Wind rennen konnte, was sich als nützlich erwies, wenn ich mal wieder mit dem Dreirad davonbrauste. Mein Ziel lag immer beim Strand, denn Gerüchten nach waren dort 50-Pence-Stücke vergraben. Doch ich kam niemals so weit. Wenn es mir mal gelang, meiner Nanny zu entwischen, wurde die Flucht mittels des Lautsprechersystems vereitelt, worüber man die Nachricht meines Ausbüchsens verlas: „Jeder, der den Sohn des Captains sieht, wird aufgefordert, Position, Zielrichtung und Geschwindigkeit mitzuteilen, einzugreifen und ihn zur Basis zurückzubringen.“
Leider befolgten sie immer den Befehl.
Trotzdem konnte das Leben auf Whaley für ein Kind aufregend sein. Ich brachte die Essensreste gemeinsam mit dem ersten Stallknecht Mr. Brown zu den Pferden, wobei immer eine leere Tonne auf der Ladefläche des Fuhrwerks stand. Falls es mal regnete, konnte ich da hineinkrabbeln, und der Deckel wurde einfach draufgelegt. Im zweiten Jahr auf der Insel trat ich den Jungkadetten der HMS „Excellent“ bei. Natürlich hatte ich das dafür nötige Alter noch nicht erreicht, doch niemand beschwerte sich darüber angesichts der Tatsache, dass Dad der Commander war. Dem Buch meines Vaters nach fiel ich vor einer Parade in einen Goldfischteich und weinte mir die Augen wund, da mir untersagt wurde, die nassen Hosen anzubehalten. Dad beschrieb das als „eines Seemanns unwürdiges Verhalten“. Bereute er es, die Dienstvorschriften ein wenig abgeändert zu haben?
Einmal wurde eine der Kanonen auf der Insel versehentlich abgefeuert.
Michael ritt auf der unteren Rasenfläche auf Joey, dem Pony, beaufsichtigt von Mr. Brown. Beim Knall des Schusses bockte das Pferd und warf Mike aus dem Sattel, der sich aber mit einem Fuß im [linken] Steigbügel verfangen hatte und sich kopfüber an Joeys [rechte Seite] klammerte. Als man ihn aus der Position befreite, schien seine Moral ungebrochen, da er annahm, dass es zum Reittraining gehörte und so eine verdrehte Körperhaltung – die der eines Kosaken glich – völlig normal war.
Zu den Höhepunkten auf Whaley zählte der Besuch einer russischen Marineschwadron in Portsmouth. Mein Vater