Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie. Mike Rutherford

Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie - Mike  Rutherford


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auf das Schiff zu kommen. Ich kehrte mit einer wahren Wagenladung an Geschenken zurück, was aus meiner Perspektive als ein großer Erfolg zu werten war. Allerdings glaube ich, dass Dad sich ein wenig enttäuscht zeigte, da ich während des Aufenthalts auf dem Schiff keine Geheiminformationen in Erfahrung bringen konnte. Wir befanden uns mitten in der Zeit des Kalten Krieges! Die einzigen Informationen, die ich erhielt, waren die russischen Vokabeln für „Danke schön“. Ich merkte schnell, dass die Anzahl der Schokoladen rapide in die Höhe stieg, je öfter ich die Worte sagte. Die russischen Schokoladen waren ungefähr so groß wie meine Hand, und ich bedankte mich tapfer, bis ich sechs erbeutet hatte. Dann ging ich nach Hause und wurde krank.

      Wenn ich an Whaley zurückdenke, muss ich immer an die Größe der Militäranlagen denken: Überall gab es riesige Gebäude zum Herumrennen. Der Paradeplatz schien sich ins Endlose zu erstrecken, und natürlich wurde damals alles mit Prunk und Pomp zelebriert – und mein Vater bildete das Zentrum der Aktivitäten. Jede Feier drehte sich um ihn, und egal wo wir auch hingingen – alle salutierten ihm. (Ich liebte das militärische Grüßen, denn es wirkte so erwachsen: Es war eine Geste, die nur Männern zustand. Ich versuchte ständig vor der Nanny und meiner Schwester auszubüchsen, da sie niemand grüßte.)

      Bei den Inselrundgängen mit Dad streckte ich immer meine Brust heraus, um so groß wie möglich zu erscheinen. Ich spürte die Bedeutung, an seiner Seite zu gehen.

      Ein Brief der Admiralität veränderte dann das Leben meines Vaters. Statt der erhofften Beförderung zum Konteradmiral enthielt der Brief die Nachricht, dass er in zwei Monaten aus der Navy ausscheiden solle.

      Zum dem Zeitpunkt hatte Dad bereits 36 Jahre gedient, zwei Mal das Silberne Eichenlaub mit Urkunde für außergewöhnliche Leistungen im Zweiten Weltkrieg erhalten sowie einen Orden für hervorragenden Dienst vor der Küste Koreas in den Fünfzigern. Und plötzlich war er ohne Arbeit. Mit einer Frau und zwei kleinen Kinder stand eine Pensionierung außer Frage. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er sich auf Jobsuche begeben, trotz schlechter Aussichten.

      Man überreichte mir ein offizielles Handbuch mit Ratschlägen für den Übergang ins Zivilleben. Ich las es eines Abends. Es war der wohl deprimierendste Text, den ich mir je zu Gemüte führte. Um meine Moral wiederherzustellen, brauchte ich danach einige harte Whiskeys. Offensichtlich war ich für den Arbeitsmarkt praktisch wertlos. Ich musste eine demutsvolle und bescheidene Haltung einnehmen, bereit sein, einen durchschnittlichen Job anzunehmen, in der Hoffnung, die Karriereleiter erneut hinaufzusteigen – falls ich überhaupt das Glück hatte, die erste Sprosse zu betreten.

      Die Jugendlichen heutzutage würden das wohl als „voll düster“ bezeichnen.

      Nach einigen Absagen bewarb sich Dad für einen Job beim Blue-Steel-Raketenabwehrsystem, entwickelt von Hawker Siddeley (die man später in die British Aerospace eingliederte). Die Bewerbung war erfolgreich, doch seine zukünftige Arbeit bedeutete einen Umzug nach Cheshire, also zur anderen Seite Großbritanniens, wo die Firmenzentrale von Hawker Siddeley lag. Mein Vater achtete immer auf für den Anlass angemessene Kleidung. Als er sich nach Wilmslow aufmachte, trug er seine neue Uniform: Einen Bowler, einen zusammengerollten Regenschirm und Handschuhe aus Schweinsleder.

      Mum, Nicky und ich folgten ihm kurz darauf und zogen in das Dean Water, ein Hotel in Manchester. Daraufhin schauten sich meine Eltern nach einem Haus um. In dem Hotel fanden jeden Samstag Tanzveranstaltungen statt. Meine Schwester und ich – wir trugen zu der fortgeschrittenen Stunde schon Schlafanzüge – beobachteten zwischen den Streben des Treppengeländers hindurch die ankommenden Tanzgäste in ihrer schicken Abendgarderobe. Es war ein kurzer Einblick in eine neue Welt und sehr aufregend.

      Far Hills, ein aus Ziegeln gebautes freistehendes Haus, für das sich meine Eltern letztendlich entschieden, lag ungefähr vier Meilen von Hawker Siddeley entfernt. Wenn einer der dreieckig wirkenden schwarzen Vulcan-Bomber über unser Heim flog, brachte die Turbulenz das ganze Gemäuer zum Beben, was eventuelle Gäste mehr als erschreckte. Mich hingegen beeindruckte die Tatsache, dass ich die Landebahn der Basis als Gokart-Strecke benutzen durfte.

      Ich besaß einen gelben Gokart 30 cc – sehr cool –, den wir in den großen rotweißen Austin luden und damit zur Basis fuhren. Natürlich ragte das Gefährt aus dem Kofferraum. Ich erinnere mich hauptsächlich daran, dass es nicht leicht war, das verdammte Ding anzukriegen, aber wenn es mal lief, flog ich quasi damit.

      Mum beförderte mich immer zur Basis und brachte Dad jeden Tag zur Arbeit. Ihr Fahrstil lässt sich am passendsten mit „recht flott“ beschreiben. Eines Tages hatten wir es eilig. Wir mussten zum Bahnhof und eilten zum Auto, das in der Garage abgestellt war. Nicky und ich quetschten uns auf die hintere Sitzbank und schauten erwartungsvoll aus dem Rückfenster. Dann geschah es! Mum durchbrach mit Vollgas die Garagenwand.

      Eine Fahrt zu unseren Verwandten in Schottland entwickelte sich regelmäßig zu einem Drama. In einem Jahr mieteten wir einen Caravan, den Mum mit Nicky und mir am Vorabend der geplanten Reise abholte. Als es ihr mit Müh und Not gelungen war, das große Gefährt rückwärts durch das schmale Tor zu bugsieren, hoffte ich inniglich, dass sich Dad am nächsten Morgen hinter das Lenkrad setzt. Dann kämen wir nämlich reibungslos zur Hauptstraße, was mit Mum hinter dem Steuer schnell zu einem das Leben verändernden Trauma werden konnte.

      Doch Mum hatte einen Einwand gegen Dads Fahrkünste. Nach ihrem Dafürhalten verwechselte er das Lenkrad mit einem Schiffsruder: Er verlasse die Garage, als steche er in See, meinte sie, setze bei einer gemütlichen Geschwindigkeit das Segel auf der Straße und ignoriere die anderen Fahrer, die die Lichthupe betätigten, wild mit der Faust gestikulierten und ihn zu überholen versuchten. Er stecke angeblich vollkommen in seiner eigenen Welt, was Mutter zur Weißglut trieb.

      Im Gegensatz zu meinem Vater hatte Mum keine Probleme mit der Geschwindigkeit. Kurz nach der Autobahnauffahrt drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und prügelte den Wagen bis zur Höchstgeschwindigkeit. Die Karosserie bebte und vibrierte, und Dad klammerte sich mit schneeweißen Knöcheln an den Beifahrergriff über dem Fenster. Er wusste eins: Jeder Versuch, Befehle zu erteilen, wäre mit einem unverzüglichen Rauswurf geahndet worden. Unser Ziel unter diesen Bedingungen unversehrt erreicht zu haben war immer eine große Erleichterung.

      Besonders mir gefielen Schottland und die Besuche bei meiner Großtante Jean mütterlicherseits. Die Biggars besaßen drei Farmen und züchteten Galloway-Rinder. Ich schätze mal, dass dort der Wunsch in mir erwachte, Farmer zu werden. Ich liebte den Lebensstil und die freien, großen Flächen, mochte es, den Kühen nahe zu sein: Sie strahlten Sanftmut und Sicherheit aus. Ihnen beim Fressen des Heus am Abend zuzuhören, erfüllte mich mit Zufriedenheit.

      Allgemein betrachtet bestand kein liebevolles Verhältnis zwischen den Familien meiner Eltern und den nächsten Verwandten. In Southsea lebte eine gewisse Aunty Rosie, die einen Hang zur Kunst hatte und leicht exzentrisch war – speziell, wenn sie ein oder vielleicht auch zwei Glas Wein trank. Wir besuchten sie jedoch nur einige Male. Merkwürdig, denn während der Stationierung auf Whale Island trennte uns nur eine minimale Entfernung. Die Beziehung zwischen Aunty Rosie und mir nahm kein glückliches Ende: Mum rief mich eines Tages an – ich muss in meinen Zwanzigern gewesen sein – und erzählte mir, das Aunty Rosie geheiratet habe. Zumindest verstand ich das so am Telefon. Wie man es so macht, trug ich Mum daraufhin auf, ihr meine Glückwünsche zu übermitteln. Doch das kam nicht gut an.

      „Nicht geheiratet, mein Liebling! Beerdigt!“ Na ja, „married“ und „burried“ klingen phonetisch eben fast identisch …

      Onkel Berners, Mums Bruder, sah ich noch seltener – tatsächlich nur ein einziges Mal. Sein Name wurde mit leiser Stimme ausgesprochen und nur dann, wenn meine Eltern glaubten, ich sei außer Hörweite. Möglicherweise lag es an seinem Fehlverhalten, denn er weigerte sich, meine Oma zu betreuen, die wir Jean Granny nannten. Vielleicht lag der Grund für das unterkühlte Verhältnis auch in der Tatsache begründet, dass Onkel Berners, der viele Jahre als Vikar in Eton tätig war, seinen Namen im späteren Leben mit einem Zusatz versah, was meine Eltern anwiderte und abstieß. Dad tolerierte keine Großspurigkeit.

      Wegen Onkel Berners musste mein Vater schließlich für beide Omis – Jean Granny und seine Mutter Granny Malimore – finanziell aufkommen.


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