Deep Purple. Jürgen Roth
den folgenden Jahren bei Deep Purple perfektionieren wird, ist Anlaß und Ablauf angemessen, wie Jon Lord meint: „Das Liebenswerte an den Texten ist, wie wahrhaftig und von Herzen Ian Gillan in seinem Part singt: ‚What shall I do when they stand smiling at me? What shall I do when it all goes wrong? How will I know and start singing my song?‘“
Am Ende des dritten Satzes steht das Publikum vor Begeisterung auf den Stühlen und fordert eine Zugabe, an die niemand gedacht hat. Notgedrungen wird der tumultöse dritte Satz noch einmal wiederholt und gerät diesmal, da die Pflicht überstanden ist, dermaßen furios, daß nun endlich doch auch auf der Bühne alle lachen oder zumindest erleichtert grinsen.
Außer den Kritikern. Oder, genauer gesagt: manchen. Jenen nämlich einerseits, denen der Gedanke, ein solches musikalisches Unternehmen könne aus reiner Freude unternommen werden und nicht um ein wesentliches „Statement“ abzugeben, fremd ist oder unwürdig erscheint. „Wir wollten nicht versuchen, die Grenze zwischen Pop und klassischer Musik niederzureißen“, erklärt Jon Lord entsprechenden Fragestellern. „Wenn wir das versucht hätten, wäre es ein Desaster geworden.“ Malcolm Arnold steht ihm als fachliche Autorität bei: „Ich habe nie zuvor von einem Popmusiker gehört, der in der Lage gewesen wäre, ein solches Werk zu komponieren. Mister Lords ‚Concerto‘ besitzt Lebendigkeit und Witz.“
Dagegen hält aber nicht nur der britische Klassik-„Papst“ Noel Goodwin: „Ich habe für diese Vermählung von Pop und Sinfonie einen guten Rat: eine einvernehmliche Scheidung.“ Auch BBC-Diskjockey John Peel, der in seiner Sendung Top Gear fortan keinen Purple-Ton mehr spielt, meint noch viele Jahre später: „Das ‚Concerto‘ war spektakulär furchtbar. Und das Schlimmste ist, daß ich es von Anfang an für Müll gehalten habe.“ Andere Kritiker sind versöhnlicher, und die immer noch vor sich hin krebsende Tetragrammaton-Mannschaft möchte die Aufnahmen gar als Langspielplatte veröffentlichen. Als diese im Dezember dann tatsächlich in kleiner Auflage erscheint, ist das Echo jedoch kaum vernehmlich, denn schon zum Jahresende meldet die ehedem so spendable Firma Konkurs an.
In Großbritannien und dem EMI-Rest der Welt gibt es das „Concerto“ ebenfalls als LP, allerdings erst im Januar und damit gleichzeitig mit dem nun endlich nachgeschobenen dritten Album, was der Band sehr gelegen kommt, da sie es ohnehin lieber gesehen hätte, das Evans/Simper-Vermächtnis wäre im Papierkorb gelandet. So ist immerhin gesichert, daß kaum ein Mensch in Gefahr gerät, die Platte zu kaufen.
Vierter statistisch-kritischer Einschub: CONCERTO FOR GROUP AND ORCHESTRA
First Movement: Moderato – Allegro
Second Movement: Andante Part I / Andante – Conclusion
Third Movement: Vivace – Presto
erschienen im Dezember 1969 (Tetragrammaton; Neuausgabe 1970 von Warner Brothers) beziehungsweise Januar 1970 (Harvest/EMI)
Ein Kommentar von Ritchie Blackmore mag uns hier genügen: „Ich fand die ganze Sache ein bißchen zahm. Ich meine, du spielst in der Royal Albert Hall, und das Publikum sitzt da mit verschränkten Armen, und du stehst da und spielst neben einem Geiger, der sich bei jedem Solo die Ohren zuhält. Das ist nicht besonders inspirierend.“
Oder genehmigen wir uns einen zweiten, aus demselben, bekanntermaßen zur Übertreibung neigenden Munde: „Von mir aus kann sich Mister Lord seine klassischen Experimente sonstwohin stecken. Natürlich sind Deep Purple dadurch etwas bekannter geworden, aber ich halte dieses Zeug für einen Haufen Scheiße.“
Nun, da das „Concerto“, abgesehen von einer weiteren Aufführung in einer Stuttgarter Kiesgrube im Oktober, die fürs Fernsehen aufgezeichnet wird, erledigt und Jon Lords Wand wieder eine freie Fläche ist, gilt es herauszufinden und klarzustellen, wer und was Deep Purple eigentlich sind. Außerhalb der USA sind zwischen Juli 1969 und Januar 1970 drei Alben (The Book Of Taliesyn, Deep Purple und das Concerto) erschienen, hinzu kommen diverse Singles, zuletzt „Hallelujah“, die, punktgenau zum Orchesterkonzert veröffentlicht, von einem Kritiker in die eigens angefertigte Stilschublade „Bubbleground“ geworfen, ansonsten ignoriert worden ist und von der Ritchie Blackmore Ende 1969 sagt: „Die Platte ist hyperkommerziell. Ihr einziger Zweck war, uns endlich in die englische Hitparade zu schleusen. Dieses Zugeständnis hat uns ein bißchen angewidert, aber was sollten wir tun? Etwa verhungern? Tote Musiker nützen niemandem was, auch wenn sie noch so gut waren. Hätten wir gewußt, wie mies die Leute auf ‚Hallelujah‘ reagieren, hätten wir uns die Single gespart.“ Nicht nur unterscheiden sich die musizierenden Belegschaften dieser Produkte, sondern mehr noch deren musikalische Ausrichtungen selbst: ein bißchen Süßpop, etwas Heavy Rock, doomiges Doors-Georgel, Klassik-Eskapaden, Psychedelic, Beatles-Covers … man mag das Identitätskrise nennen, wenn man höflich sein möchte.
Wenn die Band zwischen September 1969 und Frühjahr 1970 auftritt, sind Publikum und Veranstalter zwangsläufig verwirrt. Kommen die mit oder ohne hundert Geiger? Spielen die Rock oder Pop oder Klassik und Underground oder Hitzeug oder wie oder was? Als ein beschämter Konzertveranstalter in Ipswich der gerade eintreffenden Band mit tiefstem Bedauern mitteilt, es sei ihm leider nicht gelungen, ein Orchester aufzutreiben, er habe aber immerhin die örtliche Blaskapelle engagiert, ist für Jon Lord das Maß voll: Er kündigt dem Management seinen Ausstieg an. Edwards und Coletta berufen eilig eine Vollversammlung ein, um nach dem Zusammenbruch des US-Labels und den daraufhin wie schon einige Zeit zuvor ausgebliebenen Zahlungen wenigstens diese Katastrophe abzuwenden. Lord, so erweist sich, möchte nicht gehen, hat aber das Gefühl, daß er sollte. Die anderen wollen nicht, daß er geht, fürchten aber, daß er muß. Die Ankündigung des Organisten, er habe zwar den Auftrag angenommen, ein weiteres Orchester-Band-Werk für die BBC zu schreiben, werde darüber hinaus aber keinerlei weitere Versuche unternehmen, Deep Purple mit irgend etwas Klassischem zu belästigen, klärt den Konflikt.
Und es hat ja fast jeder Exzeß auch sein Gutes. Hatte die britische Öffentlichkeit Deep Purple bis dahin als pompöse Pathostruppe wahrgenommen, die ihr Geld damit verdient, mit orchestralem Gesülz aufgedonnerte Coverversionen an amerikanische Trottel zu verkaufen, so hat das „Concerto“ zumindest bewiesen, daß die Band diese Seite ihrer Bemühungen ernst meint. Zwar entblößt sich Ian Gillan rückblickend: „Ich muß zugeben, daß meine Einstellung total falsch war. Roger und ich waren gerade erst in die Band gekommen und haben nicht kapiert, was es für uns bedeutete, mit dem Royal Philharmonic Orchestra zu spielen. Wir schrieben Songs für das Album, und diese Sache erschien uns als lästige Unterbrechung.“ Aber da sollte man die Erwartungen nicht gänzlich vergessen, welche die phantastischen Geschichten der anderen Mitglieder seiner neuen Band von Amerika, dicken Autos, willigen Mädchen und tobenden Konzerthallen bei dem jungen Mann geweckt hatten. Wenn die Band an die anstehende Aufgabe des Rockens mit demselben Anspruch herangehen wie an das „Concerto“, hofft nun jedenfalls mancher, könnte das schon noch was werden.
Daß Deep Purple das vorhaben, stellen sie in den Wochen nach der Albert-Hall-Aufführung zunächst live unter Beweis. Stück für Stück fliegen die Schmalzfetzen aus dem Programm, werden die „progressiven“ Improvisationen länger und wüster, und neue Nummern wie „Flight Of The Rat“, „Speed King“, „Child In Time“ und „Hard Lovin’ Man“ deuten an, wohin die Reise geht und daß es keine Butterfahrt auf einem Vergnügungsdampfer mehr sein wird. „Vor allem auf der Bühne berühren sich unsere klassischen Interessen“, sagt Jon Lord über die von der Presse immer häufiger konstatierte Rivalität zwischen ihm und Blackmore. „Ich suche nach Wegen, meine Orgel so zu spielen, daß sie Ritchies Gitarre ergänzt, ähnlich wie Jimmy Smith und Brian Auger das tun. Das führt dazu, daß ich Ritchies Akkorde ahne, förmlich rieche, bevor er sie überhaupt spielt.“ Zur besseren „Ergänzung“, um Blackmore „in der Richtung zu unterstützen, in die er ging“, schließt Lord, wie erstmals während der US-Tournee im Frühjahr zum Spaß ausprobiert, seine Hammondorgel nicht an den Leslie-, sondern an einen von Blackmores Marshall-Verstärkern an und beschreibt den dabei entstehenden Brachialklang, den zu meistern er sich nun anschickt, treffend: „Ich hatte im Kopf einen anderen Sound gehört: härter, rauher, heiserer. Also probierte ich das aus – und das Untier war geboren.“ Jon Lord, sagt Roger Glover, sei „der einzige Rhythmusorgler