Die Geschichte von KISS. Gene Simmons
mir hatte. Ich sagte oft zu meiner Freundin, dass ich ein berühmter Millionär werden würde. Ich erzählte das auch meinen Eltern, als ich noch die Highschool in der Bronx besuchte. Für gewöhnlich lachten sie dann über mich. Jeder tat das. Sogar meine Freunde. Als die dann Musik so im Stil der Grateful Dead spielten, fragte ich sie: „Meint ihr, dass ihr groß herauskommen werdet, wenn ihr nur die Grateful Dead kopiert?“ Ich sagte: „Wenn ihr es im Rock-Business schaffen wollt, dann müsst ihr etwas Spektakuläres liefern.“ Was mich anpisste, war, dass die Anzeige in der Village Voice groß getönt hatte: „Band mit Plattenvertrag sucht Gitarristen.“ Nun, es stellte sich heraus, dass es keinen Plattenvertrag gab. Aber ich fühlte, dass es die Jungs genauso ernst nahmen wie ich, eine theatralische Rockband aus dem Boden zu stampfen. Und ich mochte die Musik. Wir probten pausenlos. Sechs Tage die Woche.
JOHN ALTYN (KISS-FAN): 1973 war ich fünfzehn und ging mit Donna, der Schwester von Peter Criss. Ich erinnere mich an meinen ersten Trip ins Loft. Donna, Peters Schwester Joanne, Rik [Fox], ich – und Peter am Steuer. Wir fuhren über die Williamsburg Bridge nach Manhattan. Ich war vorher noch nie bei einer Bandprobe dabei gewesen und wusste nicht, was mich erwarten würde. Im Loft war es kalt und zugig. Die Treppen waren steil, und wir kletterten in den ersten Stock, wo wir eine schwere Fabriktür aufstießen. Die Wände waren weiß gestrichen, aber eine dicke Schicht aus Staub und Schmutz ließ sie sehr alt erscheinen. Der Boden war mit staubigem, altem Parkett belegt, so wie in alten Nähfabriken. Im Loft selber gab es einen großen Heizkörper, aber der war über Nacht ausgeschaltet, und so war es echt kalt dort. Ich wurde allen vorgestellt und sie nickten uns kurz zu. Dann konzentrierten sie sich wieder auf ihre Musik. Ich saß auf einem Stuhl direkt neben Aces Marshall-Verstärker. An der Wand war nichts, das den Sound hätte absorbieren können, außer ein paar Eierkartons, die vibrierten und auch schon mal abfielen, weil die Jungs so laut waren [lacht]. Ihre Songs beeindruckten mich. Sie hatten einen raffinierten, ungeschliffenen Sound, anders als die anderen Bands dieser Zeit. Es war kein Pop, aber trotzdem sehr eingängig. Es war kein Metal, aber es war heavy. Wir sahen KISS immer wieder zu, und ich wurde mit ihren Songs immer vertrauter. Aber anders als die anderen war ich auch mit einem kritischen Ohr bei der Sache, wippte nicht im Rhythmus oder tanzte herum. Ich glaube, dass meine stoische Haltung Paul und Gene den Nerv tötete. Tatsächlich fragte mich Paul einmal mit Verachtung in der Stimme: „Gefällt es dir etwa nicht?“ Ich antwortete: „Ich höre nur genau zu.“ Im Verlauf der Monate freundeten wir uns an, und ich brachte gelegentlich ein Sixpack Budweiser vorbei. Jedes Mal, wenn ich was zum Trinken mitbrachte, schnorrte mich Ace unweigerlich mit seiner schrillen Stimme um ein Bier an: „Hey John, kann ich ein Bier haben?“ Natürlich wiederholte sich diese Nachfrage noch mehrere Male im Verlauf der Nacht, und am Ende war er es, der die meisten meiner Biere getrunken hat [lacht]. Aber so war Ace eben.
ZU BESUCH IM LOFT
Der Gitarrist und große The-Who-Fan Binky Philips, ein Schulfreund von Paul Stanley, war ein talentierter Songwriter, dessen New Yorker Band (The Planets) 1973 zusammen mit KISS auftrat.
BINKY PHILIPS (GITARRIST, THE PLANETS): Paul und ich gingen beide auf die Fiorello La Guardia High School of Music & Art. Ich war im dritten Jahr, er in der Abschlussklasse. Nachdem wir die Schule abgeschlossen hatten, riefen wir uns alle paar Monate an, um uns nach den Bands zu erkundigen, in der der jeweils andere gerade spielte, oder um über Gitarren zu quatschen. Wir wurden schließlich mehr als bloße Bekannte, nämlich Freunde, als wir im Frühling 1972 vor der Academy of Music auf ein Jeff-Beck-Konzert warteten. Ich war da, um mir das Konzert um zwanzig Uhr anzuschauen, wusste aber nicht, dass Paul auch dort sein würde. Er sah mich und grüßte: „Hey Binky, was liegt an?“ Er hatte diesen Typen dabei, der wie ein Riese wirkte – und ich hatte schon Schuhe mit Plateausohlen an. Also muss Gene echt hohe Absätze gehabt haben [lacht]. Paul stellte ihn vor: „Oh, Binky, das ist der Bassist von Wicked Lester, meiner Band.“ Er drehte sich zu Gene: „Das ist der Typ mit dem Hiwatt-Amp, von dem ich dir erzählt habe.“
Ich kann es nicht in Worte fassen, wie außergewöhnlich dieser Amp war. Ich hatte buchstäblich den einzigen Hiwatt-Amp im ganzen Land. Sie waren ja nur in England erhältlich. Ich marschierte in Manny’s Music Store auf der 48th Street, und da stand dieser Hiwatt. Es war der gleiche Verstärker, den Townshend auf den letzten vier Touren von The Who verwendet hatte, und niemand konnte einen beschaffen. Er war eine Art Heiliger Gral. Manny erzählte mir, dass Blodwyn Pig ihn vor etwa einer Stunde abgeliefert hatten, also tauschte ich ihn gegen meinen Verstärker, einen Fender Twin Reverb. Ich war nun im Besitz dieses unglaublich raren, prestigeträchtigen Amps. Während eines meiner Telefonate mit Paul musste ich das erwähnt haben: „Du wirst es nicht glauben: Ich habe einen Hiwatt!“ Egal, als ich Gene zum ersten Mal traf und Paul mich als den Typen mit dem Hiwatt vorstellte, veränderte sich sein gesamter Auftritt. Gene war so großspurig und selbstbewusst, wie er es heute noch ist. Was wir gemein hatten: Wir alle drei strebten mit absoluter Hingabe nach dem Durchbruch. In einer Rockband zu spielen war für uns kein Hobby. Es ging nicht darum, Girls aufzureißen. Es ging darum, was wir tun mussten.
Das Schicksal hatte uns diesen Weg gewiesen. Wenig später unterhielten Paul und ich uns mal wieder, und er teilte mir mit, dass Wicked Lester Geschichte wären. Er und Gene würden eine neue Band gründen. Sie hatten auch bereits einen Schlagzeuger. Und ich berichtete ihm von meiner Band, The Planets. Irgendwann gegen Ende 1972 rief er mich wieder an: „Hör zu, wir haben jetzt einen Leadgitarristen. Unsere Besetzung ist vollzählig. Mich würde echt interessieren, was du davon hältst.“ Also schnappte ich mir Andy Post, den Bassisten der Planets – er war auch auf derselben Highschool gewesen und kannte Paul ebenfalls –, und zu zweit besuchten wir ihre nächste Probe, die, glaube ich, an einem Samstagnachmittag stattfand.
Andy und ich tauchten in ihrem Loft auf. Es lag am südlichen Ende der 23rd Street. Ihr Loft befand sich im Geschäftsgebäude-Äquivalent zu einer Mietskaserne. Ein schmales, hässliches fünfstöckiges Haus, das so um die Jahrhundertwende errichtet worden war. Das Loft lag direkt gegenüber dem Madison Square Park. Auch nur einen Steinwurf entfernt lag das Flatiron Building, eines der berühmtesten Gebäude der Welt.
Im Erdgeschoss befand sich eine Ladenfront, und ihr Loft war zwei oder drei Stockwerke darüber. Es war abscheulich dort. Die Lobby war zugig und der Aufzug war alt. Alles war schmierig und schmutzig. Wenn man dann aus dem Aufzug ausstieg, beleuchtete eine einzige 60-Watt-Birne den gesamten Gang.
Der Gang war in schlammigem Braun gehalten. Man konnte der Wand förmlich ansehen, dass sich noch ein paar Lagen Farbe mehr darunter befanden – mindestens neun. Das Loft selber war so circa fünf mal fünf Meter groß. An der Wand hingen ein paar zerschlissene alte Quilts. Ein Teil der Wand war mit Eierkartons beklebt. Es war jedenfalls eine sehr rudimentäre Schalldämmung. Drei aus der Band waren da – Paul, Gene und Peter.
Paul erklärte verlegen, dass ihr Leadgitarrist wohl jeden Moment auftauchen würde. Also hingen wir ein bisschen ab und betrieben Small Talk. Irgendwann sagte Gene: „Das ist doch bescheuert, wir müssen diesen Jungs was vorspielen.“ Andy und ich setzten uns also auf den Boden, mit dem Rücken zur Wand, sie klemmten sich hinter ihre Instrumente und spielten drei Songs. Sie starteten mit „Deuce“, dann kam „Strutter“ und dann noch „Firehouse“.
Ich muss dazu sagen, dass ich damals ein unglaublicher Snob in puncto Musikmachen war. Einer meiner absoluten Lieblingswitze geht so: „Wie viele Leadgitarristen braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? Sechs! Einen, der das Ding austauscht, und fünf, die um ihn herumstehen und sagen: ,Der Typ ist voll ätzend!‘“ [lacht] Ich hörte sehr kritisch zu. Sie waren definitiv besser als die New York Dolls. Während sich dieser snobistische Musiker – also ich – ihre Probe anhörte und zur Überzeugung kam, der bessere Gitarrist zu sein [lacht], durchdrang mich noch ein zweiter Gedanke. Verdammt, ich musste neidvoll anerkennen, dass diese Riffs echt gut waren. Es waren fertige Songs. Junge, da waren gute Akkordwechsel dabei. Ich dachte: „Mann, was hat er da gerade gemacht? Interessant, wie er von diesem Akkord zu jenem gerutscht ist.“ Nach den drei Songs sagte ich ihnen, dass ich sie wirklich gut fand.
Also unterhielten wir uns ein bisschen über diese drei Songs. Es wurde ein wenig unbehaglich, als wir nichts mehr zu sagen hatten. Andy und ich sahen uns an und fragten uns, wie lange wir hier noch bleiben sollten. Wenn sie nicht spielten, stießen sie die Eingangstür auf, um etwas