Soziokratie 3.0 – Der Roman. Jef Cumps

Soziokratie 3.0 – Der Roman - Jef Cumps


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früher mit dir sprechen sollen, aber ich wollte keine Ängste schüren. Ich dachte, ich müsste das Problem selbst lösen.«

      Ich sehe Paul skeptisch an.

      »Wir sind in den letzten Jahren stark gewachsen, wie du weißt. Früher kannte ich jeden hier persönlich und ich wusste genau, was im Unternehmen vorgeht. Aber das ist bereits seit einiger Zeit nicht mehr der Fall. Wir haben Abteilungen aufgebaut, Managerpositionen eingeführt und Prozesse definiert, die das Wachstum unterstützen sollten. Aber trotz der ganzen wöchentlichen Statusberichte und monatlicher Key Performance Indicators habe ich die Kontrolle verloren.« Paul seufzt. Er wirkt ernst, aber auch traurig. Ich habe ihn noch nie so hilflos erlebt.

      »Erzähl’ weiter, Paul«, ermutige ich ihn.

      »Ich beobachte bereits seit einiger Zeit, dass wir Entscheidungen langsamer fällen als früher und dass wir weniger miteinander reden – zumindest über die wirklich wichtigen Dinge. Als wir in den Anfängen das Produkt mit wenigen Dutzend Leuten entwickelten, kannten sich noch alle untereinander. Wir wussten, wer woran arbeitete, welche Probleme existierten und wie wir uns gegenseitig helfen konnten. Jetzt scheinen wir unseren Teamgeist nach und nach zu verlieren. Abteilungen schotten sich voneinander ab, Mitarbeiter halten Informationen zurück, aus Angst, für Fehler verantwortlich gemacht zu werden, und das Management spielt politische Spielchen. Alle versuchen, die eigene Position und das eigene Team zu beschützen.«

      »Ja, das ist mir nicht entgangen«, sage ich vorsichtig.

      »Chris, das macht uns langsam und schwerfällig. Wir reagieren langsamer und weniger flexibel auf Kundenwünsche als früher. Und wir haben eine wichtige Deadline verpasst, um unser neues Produkt einem internationalen Publikum zu präsentieren. Und jetzt erwartet der Vorstand eine Erklärung von mir.«

      Er fährt fort: »Und das ist sein gutes Recht; schließlich hängt die Zukunft des Unternehmens an den Verkäufen des neues Produktes. Wenn wir die Erwartungen unserer Investoren und des Marktes nicht erfüllen, endet unsere Geschichte hier und jetzt.«

      Ich verstehe, was Paul sagt. Aber ich weiß immer noch nicht, warum er ausgerechnet mir das alles erzählt.

      »Ich glaube, ich schaffe es nicht, Chris. Obwohl ich in den vergangenen Jahren alles gegeben habe, war es nicht genug. Ich habe in den letzten Wochen sehr viel darüber nachgedacht und denke, dass es Zeit wird für einen neuen Kapitän. Wir brauchen jemanden, der das Schiff wieder auf Kurs bringt.«

      Paul hält an und wendet sich mir zu.

      »Am Mittwoch findet eine Vorstandssitzung statt, bei der ich als Geschäftsführer zurücktreten werde. Ich werde die Verantwortung für die verfehlte Deadline übernehmen. Das wird den Vorstand und die Investoren eine Weile besänftigen und dem neuen Geschäftsführer etwas Zeit verschaffen, ins Handeln zu kommen.«

      »Der neue Geschäftsführer?«, stammel ich. Was soll das bedeuten?

      »Chris, ich möchte, dass du meinen Platz einnimmst. Ich verstehe, dass du diese Bitte überhaupt nicht erwartest hast, aber ich habe intensiv darüber nachgedacht. Du bist der Einzige im Unternehmen, der es geschafft hat, in seiner Abteilung die Atmosphäre, die Zusammenarbeit und Qualität der Vergangenheit zu erhalten. Deine mobilen Apps tun das, was sie tun sollen, und sind immer rechtzeitig fertig. Deine Mitarbeiter scheinen glücklich zu sein und du läufst meistens mit einem Lächeln durchs Unternehmen. Ich weiß nicht genau, wie du das schaffst, aber ich glaube an dich, Chris. Du kannst unser Unternehmen retten.« Ich bin perplex und überlege einen Moment, ob Paul einen Witz macht. Ich soll der Geschäftsführer von HRS werden, einem börsennotierten Unternehmen mit 160 Mitarbeitern? Undenkbar!

      Paul sieht die Panik in meinen Augen und lächelt, auch wenn er immer noch traurig wirkt.

      »Ich meine es ernst, Chris. Ich bin davon überzeugt, dass du die notwendige Veränderung erreichen kannst. Du musst dich nicht sofort entscheiden, aber ich würde mich sehr freuen, wenn du die Aufgabe ernsthaft in Betracht ziehen würdest. Ich brauche deine Antwort bis Mittwochmorgen vor der Vorstandssitzung. Okay?«

      Ich nicke, weiß aber nicht, was ich sagen soll. Mittwoch? Das sind nur noch fünf Tage.

      2

      KATE

      »Was wirst du also tun?«, fragt mich meine Frau Kate neugierig, nachdem ich ihr von meinem Gespräch mit Paul erzählt habe.

      »Dieser Geschäftsführer-Job ist nichts für mich«, antworte ich. »Ich habe nicht das Talent dafür, den großen Boss zu spielen, die ganze Verantwortung zu tragen und ständig Politik machen zu müssen.«

      Kate runzelt die Stirn, sodass ich schnell fortfahre: »Ich bin in diesen Dingen nicht so gut wie Paul. Er ist brillant. Er weiß genau, was er will und wie er mit dem Managementteam und unseren Partnern umgehen muss, um seine Ziele zu erreichen. Und er hat ein extrem großes Netzwerk.«

      »Nun gut. Aber offensichtlich funktioniert das, was Paul tut, doch nicht«, entgegnet Kate. »Aber natürlich solltest du den Job nicht übernehmen, wenn du wirklich so darüber denkst.«

      Sie geht ins Wohnzimmer und lässt mich etwas perplex zurück.

      Ich folge ihr und frage: »Was meinst du denn? Du denkst also auch, dass ich nicht das Zeug zum Geschäftsführer habe?«

      »Das hängt davon ab, Schatz«, antwortet sie.

      Sie bittet mich, mich neben sie auf die Couch zu setzen.

      »Wenn du glaubst, dass ein Geschäftsführer harte Ansagen machen und politische Spielchen spielen muss«, sagt sie, »dann ist das definitiv nichts für dich. Aber würde man nicht eigentlich dasselbe von einem Manager in deiner Position erwarten?«

      »Wahrscheinlich«, gebe ich zu.

      »Aber so funktionierst du nicht, Chris. Du bist immer so stolz darauf, wie sich deine Teams selbst organisieren, ohne dass du dich um alles kümmern musst. Die Mitarbeiter deiner Abteilung sehen dich nicht primär als ihren Chef, sondern als einen der ihren. Und das liegt daran, dass du dich nicht als etwas Besseres siehst, sondern als jemand, der gemeinsam mit den Mitarbeitern Ziele erreichen will; jemand, dem sie vertrauen können und der offen und ehrlich ist.«

      Kate sieht mich an.

      »Denke daran, wann du am glücklichsten bist, wenn du abends nach Hause kommst, Chris. Das ist nicht dann, wenn du etwas Wichtiges erreicht hast, sondern wenn ein Team eine neue Einsicht gewonnen oder ein interessantes Experiment gestartet hat. Oder auch, wenn einer deiner Mitarbeiter sich deutlich weiterentwickelt. Das ist dein Führungsstil und damit bist du erfolgreich. Und dabei findest du sogar noch die Zeit, hier und da mitzuprogrammieren.«

      Ich nicke. Kate hat recht. Seit ich für das Unternehmen arbeite, habe ich mein Bestes gegeben, um agiles Arbeiten in meiner Abteilung zu etablieren. Agilität ist eine Haltung, in der kleine, selbstorganisierte Teams regelmäßig funktionierende Teile des Produktes liefern statt das komplette Produkt erst am Ende. So können wir früh und regelmäßig Feedback von unseren Kunden einholen und die wertvollsten Produkte bauen. Und wir können früh und preisgünstig auf neue Erkenntnisse reagieren und noch während der Entwicklung umsteuern.

       Definition

      Agilität ist eine Haltung, in der kleine, selbstorganisierte Teams regelmäßig funktionierende Inkremente eines Produktes liefern und dadurch den Wert für Kunden maximieren.

      »Wäre es nicht goßartig, ein ganzes Unternehmen so zu führen?«, fordert Kate mich heraus. »Stell’ dir vor, ganz HRS würde so arbeiten wie dein Team. Wäre das nicht fantastisch?«

      »Kate, so wie ich in meiner kleinen Abteilung arbeite, würde es niemals auf Unternehmensebene funktionieren«, rufe ich aus, um meine Ablehnung des Geschäftsführerpostens zu rechtfertigen. »Unternehmen funktionieren nicht so. Auf dieser Ebene braucht es Hierarchie und Politik. Da kann man nicht transparent sein und jedem vertrauen. Das wäre ein einziges Durcheinander.«

      »Das ist sehr schade«, seufzt


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