Soziokratie 3.0 – Der Roman. Jef Cumps
getroffen habt. Bei HRS hätten wir mehrere Tage, wenn nicht Wochen, gebraucht, um Einigkeit in diesen Fragen herzustellen – zumindest bezüglich der Entscheidungen zu neuen Partnerschaften und Gehaltserhöhungen.«
Es ist schwer zu glauben, dass ihr in nur zwei Stunden so viele wichtige und teilweise schwierige Entscheidungen treffen konntet.
»Du bist nicht der Erste, der so reagiert«, lacht Bernie. »Aber für uns ist das die normale Art, zu kooperieren und zu Entscheidungen zu kommen. Das war ein sehr typisches Steuerungsmeeting.« Er hält für einen Moment inne, mit einem Glitzern in den Augen – er ist offensichtlich stolz auf ihre Zusammenarbeit. Dann fährt er fort: »Was ist dir sonst noch aufgefallen?«
»Nun«, antworte ich, »vielleicht in erster Linie, wie ehrlich und direkt ihr miteinander umgeht. Ihr scheint nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, und zwar im positiven Sinne. Alle dürfen sagen, was sie brauchen und welche Einwände sie haben. In unserem Unternehmen werden diese Punkte meist erst hinterher im Flur oder in der Kaffeeküche geäußert.« Bernie nickt wissend.
»Also, welche der sieben Prinzipien hast du während des Meetings bemerkt?«
Ich denke einen Moment darüber nach. »Ich habe ganz sicher Gleichstellung und Konsent gesehen. Aber auch Verantwortung war dabei. Es war wunderbar zu sehen, dass niemand Angst zu haben schien, auch schwierige Themen anzusprechen oder für seine eigene Idee einzustehen – und niemand schien das Bedürfnis zu haben, Dinge zu thematisieren, die nichts zur Diskussion beitragen.«
»Richtig, und der letzte Punkte hat natürlich mit Effektivität zu tun. Wir tun nur das, was uns hilft, voranzukommen. Was hast du noch bemerkt?«
»Dass ihr früh zufrieden seid«, sage ich lachend.
Bernie runzelt die Stirn. »Was meinst du damit?«, fragt er.
»Ich meine das nicht im negativen Sinne – ganz im Gegenteil. Ihr nennt es: ›Gut genug für jetzt und sicher genug zum Ausprobieren‹.«
Bernie nickt.
Einen Schritt in die richtige Richtung machen, ohne endlos nach der perfekten Lösung zu suchen.
»Erst in dem Meeting habe ich verstanden, was das wirklich bedeutet: Ihr unternehmt den nächsten Schritt in die richtige Richtung, ohne endlos nach der perfekten Lösung zu suchen. Als ihr zum Beispiel den Vorschlag für die neuen Gehälter ausgearbeitet habt, habt ihr nicht versucht, jede kleine Ausnahme zu berücksichtigen. Ihr habt nach einer funktionierenden Lösung gesucht, die ihr in den nächsten Monaten ausprobieren und dann auswerten und anpassen könnt. Ich vermute, dass ihr damit viel Zeit gewinnt. Außerdem basiert euer Handeln damit auf dem, was tatsächlich passiert, und ihr versucht nicht, die Zukunft in all ihren Details zu erraten.«
»Genau«, nickt Bernie. »Ich freue mich, dass es dir aufgefallen ist.«
»Es gibt noch einen weiteren Punkt«, fährt er fort, »mit dem ich unsere Diskussion für heute abrunden möchte.«
Er mustert mich aufmerksam.
»Nun, Chris, wie bewertest du das, was du heute hier erlebt hast? Glaubst du, dass es möglich ist, HRS eher so zu führen, wie wir es bei The Facts tun?«
»Ich bin wirklich beeindruckt von dem, was ich gesehen habe. Euer Geschäft ist anders als unseres, aber anscheinend ähnlich komplex. Theoretisch müsste es also möglich sein.«
»Aber?«, lächelt Bernie, der den Zweifel in meiner Stimme gehört hat.
»Ich weiß nicht«, seufze ich. »Ich möchte etwas darüber nachdenken.« »Vielleicht hilft es dir, zuerst eine Zusammenfassung der Gründe für deinen Antrieb zu formulieren, Geschäftsführer zu werden und HRS zu verändern«, schlägt Bernie vor.
»Mein Antrieb? Was genau ist das?«, frage ich. »Ihr habt im Steuerungsmeeting auch immer von Antrieb oder Treibern gesprochen. Handelt es sich dabei um eine Art Ziel oder Grund?«
»In gewisser Weise«, nickt Bernie. »Treiber sind ein wichtiges Konzept in S3. Es sind die Motive, in einer spezifischen Situation etwas zu tun oder zu entscheiden. Und in deinem Fall wäre es der Grund dafür, dass du die Geschäftsführung übernimmst; wenn es das ist, was du willst. Ein Treiber besteht aus zwei Bestandteilen: das, was aktuell passiert, und das, was notwendig ist.«
Als Bernie meinen verwirrten Blick sieht, fährt er fort.
»Lass’ mich dir ein einfaches Beispiel geben. Was ist Freitag passiert, sodass Kate mich angerufen hat?«
»Ich habe überlegt, Geschäftsführer zu werden, meinte aber, dass meine Art der Teamarbeit nicht unternehmensweit verwendet werden kann«, antworte ich.
»Das ist der erste Teil des Treibers: die aktuelle Situation. Und was brauchte Kate in dieser Situation?«
»Kate?«, ich bemerke, dass ich erröte. »Sie sagte mir, dass sie den Idealisten in mir vermisse, der die Welt verändern wollte. Ich glaube, sie wollte, dass der Idealist in mir wieder handlungsfähig wird.«
»Sehr schön. Das klingt nach der Kate, die ich kenne«, gluckst Bernie. »Das ist das, was sie brauchte. Und in Kombination mit der konkreten Situation war es ihr Treiber, mich anzurufen.«
Jetzt verstehe ich, was Bernie meint, und nicke.
»Wenn ich also den Treiber, Geschäftsführer zu werden, genau verstehe, wird mir das helfen, die richtige Entscheidung zu fällen?«, frage ich Bernie. »Muss ich den Treiber aufschreiben?«
»Das würde dir wahrscheinlich helfen«, antwortet Bernie. »Wenn du dir über eine spezifische Situation klar bist und darüber, was deiner Meinung nach benötigt wird, um mit der Situation umzugehen, wird das oft zu besseren Entscheidungen führen.«
Bevor ich mich von Bernie verabschiede, danke ich ihm, dass er es mir ermöglicht hat, The Facts zu besuchen. Die Art und Weise, wie sie im Steuerungsmeeting zusammengearbeitet und Entscheidungen gefällt haben, hat mich tief beeindruckt.
Meine Intuition sagt mir, dass ich Bernie voll vertrauen und eine Menge von ihm lernen kann. Und das, was ich bisher über S3 erfahren habe, ist sehr vielversprechend; so vielversprechend, dass ich beginne, meine Zweifel bezüglich Pauls Angebot, Geschäftsführer zu werden, infrage zu stellen.
Ich habe immer noch keinen blassen Schimmer, wie ich anfangen würde, die Kultur bei HRS zu ändern oder das Unternehmen wieder erfolgreich zu machen. Ich weiß auch nicht, ob das überhaupt möglich ist. Aber ich verspreche mir selbst, heute Abend die Hausaufgaben zu erledigen, die Bernie mir aufgegeben hat. Wer weiß, vielleicht gewinne ich Erkenntnisse darüber, wie es weitergehen kann.
6
DER TREIBER
»Puh, schwieriger als ich dachte«, sage ich zu Kate. Sie sitzt neben mir und schaut sich eine Fernsehserie an, während ich versuche, die Hausaufgaben zu erledigen, die Bernie mir aufgegeben hat.
Kate schaltet das Fernsehgerät aus. »Warum?«, fragt sie mich.
»Zuerst dachte ich, Bernies Hausaufgabe wäre eine Art Fangfrage und ich müsste verstehen, dass eine selbstorganisierte Firma gar keinen Geschäftsführer braucht. Aber das kann nicht sein – ich glaube, dass HRS als gelistetes Unternehmen einen Geschäftsführer braucht, und sei es nur auf dem Papier. Das sollte ich prüfen. Unabhängig von dieser formellen Frage braucht HRS einen neuen Geschäftsführer, um das Unternehmen aus dem Schlammassel herauszuführen und zu einer effektiven und agilen Organisation zu machen.«
Kate nickt und ich denke weiter laut nach: »Das ist also der Treiber, auf den HRS reagieren muss. Aber das ist nicht der Treiber, der mich darüber nachdenken lässt, Pauls Angebot als Geschäftsführer anzunehmen.«
»Okay«, nickt Kate. »Was motiviert dich dann?«
»Genau das versuche ich herauszukriegen«, seufze ich.