Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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       Credits

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      Vorbemerkung

      Kaum anderthalb Kilometer von wo ich wohne steht ein Haus, das mir eisige Schauer über den Rücken zu jagen vermag – ein Hitchcock-Film ist nichts dagegen. Der flache graue Bau ist umgeben von einem hohen Maschendrahtzaun – eine ungewöhnliche Sicherheitsvorkehrung für eine Mittelschichtgegend voller Wohnhäuser und Sandwichshops. Drei Geschäfte sind in dem Haus hinter dem Zaun untergebracht: ein Haarsalon, eine Versicherungsfiliale und „Stan Baker, Shooting Sports“. Hier kauften am 30. März 1994 Kurt Cobain und ein Freund eine Flinte der Marke Remington. Der Inhaber des Geschäfts sagte später einem Reporter, er habe sich gewundert, wieso sich zu der Zeit jemand ausgerechnet eine solche Waffe zulegen sollte, wo doch keine „Jagdsaison“ gewesen sei.

      Jedes Mal, wenn ich an Stan Baker’s vorbeifahre, überkommt mich dieses Gefühl, das man mit Orten hat, an denen man einmal Zeuge eines ­schrecklichen Unfalls geworden ist. Und in gewisser Weise passt das sogar. Die Kette von Ereignissen nach Kurts Einkauf in dem Waffengeschäft lässt mir nicht nur keine Ruhe, sie weckt darüber hinaus in mir das Verlangen, Fragen nachzugehen, auf die es, wie ich sehr wohl weiß, schon ihrer Natur wegen keine Antworten geben kann. Spirituelle Fragen, die Frage nach dem Anteil des Wahnsinns im künstlerischen Genie, den verheerenden Wirkungen des Drogenkonsums auf die Seele und vom Verlangen, die Kluft zwischen innerem und äußerem Menschen zu verstehen. Fragen, wie sie sich von Sucht, Depression oder Selbstmord gezeichneten Familien nur allzu real stellen. Für derart vom Schicksal ins Dunkel gestürzte Familien – meine eigene nicht ausgenommen – kann das Verlangen, solche unbeantwortbaren Fragen zu stellen, zu einem Fluch werden.

      Sosehr solche Mysterien Nahrung für dieses Buch waren, die Saat dazu war bereits Jahre früher ausgebracht, in meiner Jugend nämlich, als mit den ­Päckchen vom Columbia Record and Tape Club Monat für Monat die Erlösung in die Kleinstadt in Washington kam, in der ich aufwuchs: Rock ’n’ Roll. Es waren nicht zuletzt diese Päckchen mit Platten, derentwegen ich irgendwann meine ländliche Heimat verließ, nach Seattle zog und Autor und Redakteur bei einem Musik­magazins wurde. Ein paar Jahre später, in einem anderen Winkel des Bundesstaats, bescherte derselbe Plattenklub Kurt Cobain eine ähnliche Transzendenz, nur entschied er sich für eine Karriere als Musiker. Unsere Wege kreuzten sich 1989, als mein Magazin, als erstes überhaupt, eine Titelstory über Nirvana brachte.

      Es war einfach, Nirvana gern zu haben. Denn egal, wie groß und berühmt sie wurden, sie kamen einem doch immer wie Underdogs vor, und ganz besonders galt das für Kurt. Er begann sein Künstlerleben damit, in einem Wohntrailer Illustrationen von Norman Rockwell, Amerikas berühmtestem Illustrator des zwanzigsten Jahrhunderts und Schöpfer vor allem nostalgischer Kleinstadtszenen, zu kopieren, und entwickelte bald ein Talent fürs Geschichtenerzählen, das schließlich auch mitverantwortlich für die besondere Schönheit seiner Musik werden sollte. Als Rockstar schien er immer ein Außenseiter, ich persönlich jedoch habe immer die Art geschätzt, wie er seinen Halbwüchsigenhumor mit der Bärbeißigkeit eines Oldtimers zu kombinieren verstand. Wenn man ihn in Seattle sah – und seine alberne Mütze mit den Ohrenklappen war praktisch nicht zu übersehen –, war klar, dass man hier ein Original vor sich hatte in einer Branche, in der es herzlich wenige wirkliche Originale gibt.

      Während ich an diesem Buch saß, gab es so einige Augenblicke, in denen dieser Humor das einzige Leuchtfeuer in dieser Sisyphusarbeit war. Heavier Than Heaven entstand im Lauf von vier Jahren, mithilfe von vierhundert Interviews, Schränken von Akten und hunderten von Musikaufnahmen, ganz zu schweigen von all den schlaflosen Nächten und endlosen Fahrten zwischen Seattle und Aberdeen. Meine Recherchen führten mich an Orte – physische wie emotionelle –, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie je betreten würde. Es gab Augenblicke von Euphorie, wie etwa als ich zum ersten Mal das unveröffentlichte „You Know You’re Right“ hörte, einen Song, der meiner Ansicht nach zu Kurts besten gehört. Aber auf jede freudige Entdeckung kamen Momente schier unerträglichen Kummers, wie etwa als ich Kurts Abschiedsbrief in der Hand hielt, den ich in einer herzförmigen Schachtel neben einer Locke seines blonden Haars aufbewahrt sah.

      Ich hatte mir mit Heavier Than Heaven zum Ziel gesetzt, Kurt Cobain zu ehren, indem ich seine Lebensgeschichte – die Geschichte jener Locke und dieses Abschiedsbriefs – erzähle, ohne mir ein Urteil darüber anzumaßen. Ein Ansatz, den mir allein die großzügige Unterstützung durch Kurts engste Freunde, seine Familie und die Leute aus seiner Band ermöglichte. So gut wie jeder, den ich interviewen wollte, teilte schließlich auch seine Erinnerungen mit mir; Ausnahmen waren nur einige Leute, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Geschichten selbst aufzuschreiben, und ich wünsche ihnen damit allen Erfolg. Kurts Leben war ein verwirrendes Puzzle, umso komplexer, als er so viele Teile dieses Puzzles versteckt hielt, eine Aufsplitterung, die gleichzeitig Folge der Sucht wie auch Nährboden dafür war. Manchmal hatte ich den Eindruck, einen Spion zu studieren, einen geschickten Doppelagenten, versiert in der Kunst, dafür zu sorgen, dass kein Einzelner Einsicht in sämtliche Details seines Lebens bekam.

      Eine Freundin von mir, selbst eine ehemalige Drogenabhängige, schilderte mir einmal die „No talk“-Regel, die in Familien wie der ihren galt: „Bei uns“, sagte sie, „bekam man gesagt: ‚Fragt nicht, redet nicht, sagt es keinem.‘ Ein richtiger Schweigekodex, und all die Geheimnisse und Lügen führten bei mir zu einem überwältigenden Gefühl von Scham.“ Dieses Buch ist für all jene, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, schmerzliche Fragen zu stellen und sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.

      – Charles R. Cross, Seattle, Washington, April 2001

      Prolog

      HEAVIER THAN HEAVEN

      New York, New York , 12. Januar 1992

      Heavier Than Heaven – Mit diesem Slogan bewarben britische Konzertveranstalter 1989 Nirvanas Tour mit der Band Tad. Er bezog sich sowohl auf Nirvanas „heavy“ Sound als auch auf den schwergewichtigen Tad-Sänger Tad Doyle.

      Zum ersten Mal sah er den Himmel genau sechs Stunden und siebenundfünfzig Minuten nach dem Augenblick, in dem eine ganze Generation sich kollektiv in ihn verknallt hatte. Es war das erste Mal, dass er starb, und nur der erste von vielen kleinen Toden, die folgen sollten. Die leidenschaftliche und rück­haltlose Hingabe der Generation, die ihn ins Herz geschlossen hatte, war die Art Liebe, von der man von Anfang an weiß, dass sie einem das Herz brechen wird und nur wie eine griechische Tragödie enden kann.

      Wir schreiben den 12. Januar 1992, ein klarer, aber frostiger Sonntagmorgen. Die Temperatur in New York sollte im Lauf des Tages auf ganze sechs Grad klettern, aber um sieben Uhr morgens, in der kleinen Suite des Omni-Hotels in Manhattan, stand das Quecksilber noch um die Null. Man hatte das Fenster offen gelassen, wegen des Zigarettengestanks, und der Morgen hatte dem Zimmer auch noch den letzten Rest von Wärme geraubt. Das Zimmer selbst sah aus wie nach einem Orkan: Überall lagen Klamotten verstreut, Kleider, Hemden, Schuhe, wie nach einem Schlussverkauf für Blinde. Vor der Flügeltür der Suite stapelte sich ein halbes Dutzend Tabletts mit den Resten der Mahlzeiten der letzten paar Tage: angebissene Brötchen und ranzige Käsescheiben, eine Hand voll winterträger Taufliegen schwebte über welkem Salat. Der Anblick war nicht eben typisch für ein Viersternehotel, aber das Hotelpersonal war nun einmal aus dem Zimmer verbannt worden. Auf dem Schild draußen vor der Tür hieß es nicht mehr nur „Do not disturb!“ – jemand hatte daraus „Do not EVER disturb! Wir ficken gerade!“ gemacht.

      An diesem Morgen konnte davon keine Rede sein. Auf dem überdimensionalen Bett schlief die sechsundzwanzigjährige Courtney Love. Sie trug einen viktorianischen Unterrock, eine echte Antiquität, und ihr langes blondes Haar war über das Kissen drapiert wie das einer Märchenprinzessin. Die Falten im Laken neben ihr zeigten, dass dort kürzlich noch jemand gelegen hatte. Und wie in der Eingangsszene eines Film noir befand sich eine Leiche im Raum.

      „Ich bin um sieben aufgewacht, und er war nicht im Bett“, erinnerte sich


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