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„Hab ich nicht“, sagte Kurt. „Und ob du die durchgepaust hast“, antwortete Leland. Dann gab er Kurt ein frisches Blatt Papier und einen Bleistift. „Hier“, forderte er ihn auf, „zeichne mir doch noch eine, zeig mir, wie du’s gemacht hast.“ Der Sechsjährige setzte sich hin und zeichnete ihm, ganz ohne Vorlage, einen nahezu perfekten Donald Duck. Und dann gleich noch einen Goofy. Mit einem breiten Grinsen guckte er Leland an – er freute sich nicht weniger darüber, es seinem Großvater gezeigt zu haben, als über die gelungene Zeichnung seiner geliebten Ente.

      Kurts Kreativität erstreckte sich zunehmend auf die Musik. Obwohl er nie Klavierstunden hatte, konnte er einfache Melodien nach Gehör nachspielen. „Schon als kleines Kind“, erinnerte sich Schwester Kim, „konnte er sich hin­setzen und einfach etwas spielen, was er im Radio gehört hatte. Er konnte künstlerisch ausdrücken, was in ihm vorging, ob auf Papier oder durch Musik.“ Um ihn weiter zu ermutigen, kauften Don und Wendy ihm ein Micky-Maus-Kinderschlagzeug, auf das Kurt eindrosch, wenn er nachmittags aus der Schule kam. Er mochte diese Plastiktrommeln, aber noch lieber waren ihm die ­echten Drums zuhause bei seinem Onkel Chuck, weil sich darauf mehr Lärm machen ließ. Er hängte sich gern Tante Maris Gitarre um, obwohl ihr Gewicht ihn schier in die Knie zwang. Er schrubbte darauf herum und erfand Liedchen dazu. Im gleichen Jahr kaufte Kurt sich seine erste Platte, Terry Jacks’ zuckrige Ballade „Seasons In The Sun“.

      Für sein Leben gern blätterte er die LP-Sammlungen seiner Onkel und Tanten durch. Einmal – er war sechs – war er zu Besuch bei Tante Mari und grub sich durch ihre Plattensammlung auf der Suche nach einem Beatles-Album – die Beatles waren eine seiner Lieblingsbands. Plötzlich schrie Kurt auf und kam wie in Panik zu seiner Tante gerannt. Er hielt ihr Yesterday And Today von den Beatles hin, das Album mit dem berühmt-berüchtigten „Butcher“-Cover. Es zeigt die Pilzköpfe in Fleischerkitteln mit malträtierten Puppen- und Fleischteilen; Capitol nahm das Cover mit dem Foto, das noch nicht einmal für diesen Zweck bestimmt war, rasch wieder vom Markt. „Mir wurde klar, wie empfänglich er schon in diesem Alter für Eindrücke war“, erinnerte sich Mari.

      Auch auf die zunehmenden Spannungen zwischen seinen Eltern reagierte der Jungen sensibel. Nicht dass während seiner ersten Lebensjahre viel gestritten worden wäre, aber Hinweise auf eine stürmische Liebe zwischen Don und Wendy gab es auch nicht gerade. Wie so viele Paare, die jung heiraten, hatten die beiden sich einfach in die Umstände gefügt. Ihre Kinder wurden zum Mittelpunkt ihres Lebens, und was immer an romantischer Liebe vor der Geburt der Kinder da gewesen sein mochte, es ließ sich nicht wieder entfachen. Don verzagte nahezu wegen der ständigen Finanzprobleme; Wendy hatte mit den Kindern alle Hände voll zu tun. Immer öfter kam es zu Streitereien, schließlich schrien sie sich auch vor den Kindern an. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich abschufte!“, hielt Don Wendy vor, und sie konterte mit demselben Anwurf.

      Trotz allem hatte Kurts frühe Kindheit auch eine Menge Freude zu bieten. Im Sommer machte die Familie Ferien in einer Blockhütte der Fradenburgs in dem an der Pazifikküste gelegenen Örtchen Washaway Beach. Im Winter ging es zum Schlittenfahren. In Aberdeen selbst schneite es eher selten, man musste dazu weiter in den Osten, in die Hügel hinter der Holzstadt Porter zum Fuzzy Top Mountain, fahren. Diese Ausflüge zum Rodeln folgten immer ein und demselben Muster. Sie parkten und luden Dons und Wendys kufenlosen Eskimoschlitten, Kims silberne Plastikrutsche und Kurts modernen Flexible Flyer aus. Dann machte man sich bereit für die Abfahrt. Kurt nahm grundsätzlich Anlauf wie ein Weitspringer, bevor er sich den Hang hinabstürzte. Unten angekommen winkte er seinen Eltern zu – das Signal, dass er die Abfahrt überlebt hatte. Der Rest der Familie kam hinterher, dann machte man sich gemeinsam wieder an den Aufstieg. Dieser Zyklus wiederholte sich stundenlang, bis die Dunkelheit hereinbrach oder Kurt vor Erschöpfung umkippte. Auf dem Weg zurück zum Auto mussten die Eltern versprechen, am nächsten Wochenende wieder mit ihm herzufahren. Für Kurt waren diese Ausflüge später die glücklichsten Erinnerungen an seine Kindheit.

      Als Kurt sechs war, ging die Familie zusammen in ein Fotostudio in der Stadt und ließ ein formelles Weihnachtsporträt von sich machen.

      Wendy sitzt auf diesem Bild in der Mitte auf einem übergroßen Holzstuhl mit hoher Lehne und trägt ein viktorianisches Kleid mit gerüschten Ärmel­säumen. Ein Spot hinter ihr umgibt sie mit einem weichen Schein. Sie trägt ein schwarzes Samthalsband, das schulterlange rotblonde Haar ist sorgfältig gekämmt und in der Mitte gescheitelt, keine Strähne sitzt schief. In ihrer vollkommenen Körperhaltung und der Art, wie sie die Hände über die Stuhl­lehnen hängen lässt, sieht sie wie eine Königin aus.

      Die dreijährige Kim sitzt auf dem Schoß der Mutter. In ihrem langen weißen Kleid und den schwarzen Lacklederschuhen wirkt sie wie eine Miniaturausgabe ihrer Mama. Sie starrt direkt in die Kamera und sieht aus, als wolle sie jeden Augenblick losheulen. Don steht hinter dem Stuhl, nahe genug, um nicht aus dem Rahmen zu fallen, scheint aber nicht so recht bei der Sache. Er lässt die Schultern etwas hängen, und sein Lächeln wirkt eher gedankenverloren als echt. Er trägt ein helles lila Hemd mit überdimensionalem Kragen und eine graue Weste, eine Aufmachung, in der man sich Steve Martin oder Dan Aykroyd in einem ihrer verrückten Sketches in Saturday Night Live vorstellen könnte. Dem Blick nach scheint er weiß Gott wo zu sein, als überlege er, wie er sich bloß vor diese Kamera zerren lassen konnte, wo er doch auf dem Sportplatz sein könnte.

      Kurt steht links vor dem Vater, einen Schritt weg vom Stuhl. Er trägt eine gestreifte blaue Hose mit passender Weste und ein feuerwehrrotes Hemd, das ihm etwas zu groß ist, jedenfalls ragen die Hände nicht ganz aus den Ärmeln. Als der Entertainer in der Familie lächelt er nicht nur, er lacht. Er wirkt bemerkenswert glücklich – ein kleiner Junge, der am Samstag einen Riesenspaß mit seiner Familie hat.

      Es ist eine auffallend gut aussehende Familie und eine, die von der Ausstrahlung her amerikanischer nicht sein könnte – ordentliche Frisuren, strahlend weiße Zähne und die sorgfältig gebügelte Kleidung stilisiert wie in einem Sears-Katalog von Anfang der Siebzigerjahre. Bei näherem Hinsehen jedoch enthüllt sich aber eine Dynamik, die selbst dem Fotografen schmerzlich aufgefallen sein musste: Es ist ein Familienporträt, aber kein Porträt einer Ehe. Don und Wendy berühren einander nicht; es ist nicht der geringste Hinweis auf Zuneigung zwischen den beiden zu sehen, sie scheinen nicht einmal auf demselben Foto zu sein. So wie Kurt vor seinem Vater steht und Kim auf Wendys Schoß sitzt, könnte man eine Schere nehmen und das Foto – nebst Familie – einfach mitten durchschneiden. Man bekäme zwei separate Familien, jeweils ein Erwachsener und ein Kind, nach Geschlechtern getrennt – die viktorianischen Kleider auf der einen Seite, die Jungs mit den breiten Kragen auf der anderen.

      –2–

      ICH HASSE MOM, ICH HASSE DAD

      Aberdeen, Washington, Januar 1974 bis Juni 1979

      Ich hasse Mom, ich hasse Dad.

      – Aus einem Gedicht an der Wand von Kurts Zimmer.

      Als Don sich 1974 entschloss, zu kündigen und sich doch nach einem Job in der Holzbranche umzutun, nahm der Druck auf die Familie zu. Don war kein großer Kerl und hatte von Haus aus kein gesteigertes Interesse daran, Achtzig-Meter-Riesen zu fällen, und so nahm er einen Bürojob bei Mayr Brothers an. Er wusste, dass sich in der Holzbranche letztlich mehr Geld verdienen ließ als an der Tankstelle; unglücklicherweise musste er aber auf der niedrigsten Lohnstufe anfangen und bekam mit vier Dollar und zehn Cent die Stunde sogar noch weniger als als Mechaniker. Er verdiente sich etwas dazu, indem er an den Wochen­enden im Sägewerk Inventur machte, und dahin nahm er oft Kurt mit. „Er fuhr mit seinem kleinen Fahrrad auf dem Hof herum“, erinnerte sich Don. Kurt machte sich später über den Job seines Vater lustig und behauptete, es sei für ihn die Hölle gewesen, seinen Vater begleiten zu müssen. Damals aber freute er sich darüber, dass dieser ihn einbezog. Obwohl er es als Erwachsener später ­hartnäckig bestritt: Die Anerkennung und die Aufmerksamkeit seines Vaters waren von entscheidender Wichtigkeit für Kurt, und er wollte mehr davon, nicht weniger. Immerhin gestand er später, an die ersten Jahre in der kleinen Familie glückliche Erinnerungen zu haben. „Ich hatte eine wirklich schöne Kindheit“, sagte er 1992 dem Magazin Spin, nicht ohne gleich hinzuzufügen: „Bis ich so neun Jahre alt war.“

      Don und Wendy mussten sich immer wieder Geld


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