Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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seine Tante nicht dahinter kam, wie man sein Bettchen tiefer stellte, war der Anderthalbjährige clever genug, es selbst zu verstellen.

      Wendy war so hingerissen von den Faxen ihres Sohnes, dass sie immer wieder eine Super-Acht-Kamera mietete und Filme mit dem kleinen Kurt schoss – eine Ausgabe, die die Familie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Einer dieser Filme zeigt einen selig lächelnden kleinen Jungen an seinem zweiten Geburtstag beim Anschneiden der Torte. Er schien für seine Eltern der Mittelpunkt des Universums zu sein.

      Bereits an seinem zweiten Weihnachtsfest zeigte Kurt Interesse an der Musik. Die Fradenburgs waren eine musikalische Familie – Wendys älterer Bruder Chuck spielte in einer Band, die sich The Beachcombers nannte; Mari spielte Gitarre, und Großonkel Delbert verdiente sein Geld als irischer Tenor – er hatte sogar in einem Film mitgespielt, The King of Jazz. Wenn die Cobains in Cosmopolis auf Besuch waren, saß Kurt fasziniert bei den Familien-Jamsessions dabei. Seine Onkel und Tanten nahmen ihn sogar beim Singen auf: „Hey Jude“ von den Beatles, Arlo Guthries „Motorcycle Song“ und den Titelsong der Fernsehserie The Monkees. Schon als Kleinkind hatte Kurt Spaß daran, seine eigenen Liedertexte zu basteln. Als er einmal – er war vier – mit Mari vom Park zurückkam, setzte er sich an das Familienklavier und klimperte ein einfaches Liedchen über ihr Abenteuer. „Wir waren im Park und haben Bonbons gekauft“, sang er vor sich hin. „Ich war völlig baff“, erinnerte sich Mari. „Ich hätte das Tonband anmachen sollen – das war wahrscheinlich sein erster Song.“

      Kurz nach seinem zweiten Geburtstag legte Kurt sich einen imaginären Freund zu, den er Boddah nannte. Schließlich machten sich seine Eltern Sorgen um seine Bindung zu dem Phantomkameraden, und als ein Onkel nach Vietnam musste, erzählten sie dem Kleinen, Boddah sei mit ihm eingezogen worden. Aber so ganz kaufte Kurt ihnen diese Geschichte nicht ab. Als er drei Jahre alt war, spielte er mit dem Tonbandgerät seiner Tante herum, das zufällig auf „Echo“ gestellt war. Als Kurt das Echo hörte, fragte er: „Redet diese Stimme mit mir? Boddah? Boddah?“

      Im September 1969 – Kurt war zweieinhalb Jahre alt – kauften Don und Wendy sich ihr erstes eigenes Haus. Die Nummer 1210 East First Street in Aberdeen war ein zweigeschossiges Häuschen mit gut neunzig Quadratmeter Wohnfläche, dazu Garten und Garage. Sie bezahlten siebentausendneunhundertfünfzig Dollar dafür. Das Gebäude aus den Zwanzigerjahren befand sich in einer Gegend, die gelegentlich schon mal abschätzig als Verbrecherviertel bezeichnet wurde. Nördlich des Häuschens schob sich der Wishkah River, der bei Hochwasser immer wieder einmal über die Ufer trat, in die Bucht. Im Südosten lag ein bewaldeter Steilhang, den die Einheimischen „Think of Me Hill“ nannten – um die Jahrhundertwende hatte dort eine Zigarrenreklame der Marke Think of Me gestanden.

      Es war ein Mittelschichthaus in einer Mittelschichtgegend – „White trash, der auf Mittelschicht machte“, sagte Kurt später über die Gegend. Im Erd­geschoss befanden sich Wohn- und Esszimmer, die Küche sowie das Schlafzimmer von Wendy und Don. Das Obergeschoss hatte drei Zimmer: ein kleines Spielzimmer und zwei Kinderzimmer, von denen eins für Kurt bestimmt war. Das andere war für Kurts Geschwister eingeplant – Wendy hatte diesen Monat erfahren, dass sie zum zweiten Mal schwanger war.

      Kurt war drei, als seine Schwester Kimberley zur Welt kam. Schon als Säugling sah sie ihrem Bruder bemerkenswert ähnlich: Sie hatte dieselben hypnotischen blauen Augen, dasselbe flachsblonde Haar. Als Kimberley aus der Klinik nachhause gebracht wurde, bestand Kurt darauf, sie ins Haus zu tragen. „Er war so was von vernarrt in sie“, erinnerte sich sein Vater. „Und zuerst waren die beiden wirklich ein Herz und eine Seele.“ Der Altersunterschied von drei Jahren war ideal, Kimberleys Wohlergehen wurde ein Hauptgesprächsthema von Kurt. Hier lag der Ursprung eines Charakterzugs, der Kurt sein ganzes Leben lang mitbestimmen sollte: die Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen und dem Kummer anderer – ein Einfühlungsvermögen, in das er sich bisweilen übermäßig hineinsteigern konnte.

      Die beiden Kinder veränderten den Alltag im Hause Cobain grundlegend, und das bisschen Freizeit, das den Eltern geblieben war, wurde von Besuchen bei der Familie und Dons Interesse am Sport aufgefressen. Don spielte den Winter über in einer Basketballliga, im Sommer spielte er Baseball; ein gut Teil ihres sozia­len Umgangs bestand darin, zu Spielen oder Partys nach den Spielen zu gehen. Über den Sport lernten die Cobains auch Rod und Dres Herling kennen und freundeten sich mit ihnen an. „Sie waren gute Leute mit Familiensinn, die viel mit ihren Kindern unternahmen“, erinnerte sich Rod Herling. Im Vergleich zu Altersgenossen in den Sechzigerjahren waren sie auffallend spießig: Nicht einer in ihrem Freundeskreis rauchte Pot, und auch Alkohol gab es bei den beiden kaum.

      Eines Abends im Sommer waren die Herlings auf eine Kartenspielpartie bei den Cobains zu Besuch, als Don ins Wohnzimmer kam: „Ich habe eine Ratte erwischt“, sagte er. Ratten waren in Aberdeen nichts Ungewöhnliches, so tief gelegen und feucht, wie die Gegend war. Don befestigte ein Fleischermesser an einem Besenstiel, schon hatte er einen primitiven Speer. Der fünfjährige Kurt war sofort Feuer und Flamme und folgte dem Vater in die Garage, wo der Nager in einer Mülltonne saß. Don sagte Kurt, er solle Abstand halten, aber einem neugierigen Kerlchen wie ihm war das unmöglich. Er rückte langsam näher und hatte schließlich das Hosenbein des Vaters in der Hand. Rod Herlings Plan sah vor, dass er den Deckel der Mülltonne anheben würde, damit Don die Ratte aufspießen konnte. Herling hob den Deckel, Don warf den Besenstiel, verfehlte die Ratte jedoch, und der Speer bohrte sich in den Boden. Während Don den Spieß vergeblich herauszuziehen versuchte, kletterte die Ratte – ruhig und leicht verwirrt – den Besenstiel hinauf, huschte über Dons Schulter, seinen Rücken hinab und lief über Kurts Füße nach draußen. Das Ganze passierte in Sekundenbruchteilen, aber die Kombination von Dons Gesichtsausdruck und Kurts weit aufgerissenen Kulleraugen ließ die Gruppe in heulendes Gelächter ausbrechen. Stundenlang konnten sie sich nicht beruhigen, und der Vorfall hielt Einzug in die Familiengeschichte: „He, weißt du noch, wie Dad die Ratte aufspießen wollte?“ Keiner lachte lauter als Kurt, aber als Fünfjähriger fand er so gut wie alles zum Schießen. Er hatte ein schönes Lachen, das klang, als kitzelte man ein Baby, und es war ständig hören.

      Im September 1972 kam Kurt in den Kindergarten der Robert Gray Elementary, der Grundschule, die nur drei Straßen vom Haus entfernt war. Wendy ging am ersten Tag mit ihm zur Schule, danach war er auf sich allein gestellt; die Gegend um die First Street war längst sein Revier geworden. Seine Lehrer kannten ihn als frühreifen, neugierigen Schüler mit einem Snoopy auf der Brotbox. In seinem Zeugnis stand in jenem Jahr: „Ein wirklich guter Schüler.“ Und schüchtern war er auch nicht. Als zum Anschauungsunterricht ein Bären­junges in die Schule gebracht wurde, war Kurt eines der wenigen Kinder, die sich damit fotografieren ließen.

      Kunsterziehung war mit Abstand sein bestes Fach. Schon als er fünf war, zeigte sich deutlich, dass er künstlerisch außergewöhnlich begabt war. Die Bilder, die er malte, wirkten bereits völlig realistisch. Tony Hirschman, der Kurt im Kindergarten kennen lernte, war von dem Geschick seines Klassenkameraden beeindruckt: „Er konnte einfach alles zeichnen. Einmal haben wir uns Bilder von Werwölfen angeschaut, und danach hat er einen gezeichnet, der genauso aussah wie die auf dem Foto.“ Noch im selben Jahr zeichnete Kurt eine Reihe von Bildern mit den Comicfiguren Aquaman, Micky Maus, Pluto und dem Kiemenmann aus dem Schrecken vom Amazonas. Wenn es Geschenke gab, bekam er von der Familie Mal- und Zeichenutensilien, sein Zimmer sah langsam, aber sicher aus wie ein Atelier.

      Zuspruch in diese Richtung erfuhr Kurt vor allem durch seine Großmutter väterlicherseits, Iris Cobain. Sie sammelte Norman-Rockwell-Memorabilia, hauptsächlich die Teller der Franklin Mint mit Rockwells Illustrationen für die Saturday Evening Post. Sie selbst kopierte Rockwells Arbeiten als Stickereien, und ein Druck seines berühmtesten Bildes – „Freedom from Want“, der Archetyp einer amerikanischen Thanksgiving-Szene – hing an der Wand ihres Wohnwagens in Montesano. Iris brachte Kurt sogar dazu, eines ihrer Lieblings­hobbys aufzunehmen: Sie kratzte mit Zahnstochern Rockwells Bilder in die Hüte frisch gepflückter Pilze. Nach dem Trocknen der großen Pilze blieben diese „Radierungen“ erhalten, wie bei einer Elfenbeinschnitzerei.

      Iris’ Mann, Kurts Großvater Leland Cobain, hatte sein Leben lang Straßenwalze gefahren, was ihn den Großteil seines Gehörs gekostet hatte. Er hatte selbst keine künstlerische Ader, aber er brachte Kurt die Arbeit mit Holz bei. Leland war ein eher schroffer,


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