Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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entwickelte Kurt außerdem ein nervöses Zucken der Augenlider. Die Familie führte das auf den Stress zurück, was wahrscheinlich zutrifft.

      Während seine Eltern sich scheiden ließen, blieb Kurt in seiner vor­puber­tären Entwicklung mit all ihren innerlichen Umwälzungen natürlich nicht stehen. Kurz bevor er in die vierte Klasse kam, begann er Mädchen als sexuelle Wesen wahrzunehmen und sich Gedanken um seinen Status in der Gesellschaft zu machen. In jenem Juli erschien ein Bild von ihm in der Aberdeen Daily World, als sein Baseballteam in der Aberdeen Timber League den ersten Platz machte – seine Mannschaft hatte von fünfzehn Spielen nur eines ver­loren. Der zweite Höhepunkt jenes Sommers war die Aufnahme eines schwarzen Kätzchens, das er durchs Viertel hatte streunen sehen. Es war sein erstes Haustier, er nannte es Puff.

      Drei Monate, nachdem die Scheidung rechtskräftig geworden war, äußerte Kurt Interesse daran, bei seinem Vater zu wohnen. Er zog zu Don, Leland und Iris in den Trailer, aber bereits Anfang Herbst mieteten Vater und Sohn sich einen eigenen, kleineren Wohnwagen, gleich auf der anderen Straßenseite. An den Wochenenden besuchte Kurt Wendy, Kim und Puff.

      Das Zusammenleben mit seinem Vater befriedigte einige von Kurts emotionalen Bedürfnissen – hier stand er im Mittelpunkt des Interesses, war praktisch wieder ein Einzelkind. Don hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Scheidung, das er mit materiellen Geschenken überkompensierte. Er kaufte Kurt eine Yamaha Enduro 80, ein Minimotorrad, das sofort die Attraktion des ganzen Viertels wurde. Lisa Rock, die nur einige Straßen weiter wohnte, lernte Kurt in jenem Herbst kennen: „Er war ein ruhiges, unheimlich sympathisches Kind. Ständig lächelte er. Er war ein bisschen schüchtern. Es gab da eine Wiese, auf der er mit seinem Minibike herumkurvte, und ich fuhr mit dem Fahrrad neben ihm her.“

      „Ruhig“: Das Adjektiv, mit dem Lisa Rock den kleinen Kurt beschrieb, findet sich auch immer wieder in Berichten über den erwachsenen Kurt. Er konnte stundenlang schweigend dasitzen, ohne auch nur das Bedürfnis nach Smalltalk zu verspüren. Kurt und Lisa waren am selben Tag geboren, und als die beiden zehn wurden, feierten sie ihren Geburtstag gemeinsam bei ihr. Kurt freute sich über die Einladung, fühlte sich angesichts all der Aufmerksamkeit aber nicht so recht wohl in seiner Haut. Als Vierjähriger war er ein furchtloser Draufgänger gewesen; als Zehnjähriger war er überraschend ängstlich. Seit der Scheidung war er im Umgang mit anderen reserviert geworden, wartete stets darauf, dass der andere den ersten Schritt tat.

      Nach der Scheidung und mit dem Einsetzen der Pubertät nahm die Bedeutung des Vaters für Kurt noch um einiges zu. Nach der Schule blieb Kurt bei den Großeltern, aber sobald Don nachhause kam, verbrachten sie den Rest des Tages zusammen, und Kurt machte gern bei allem mit, was Don von ihm verlangte, selbst wenn er dazu auf den Sportplatz musste. Nach den Baseballspielen aßen die beiden Cobains gelegentlich zusammen im örtlichen „Malt Shop“, wo Milchshakes, Limonaden, Eis, Hotdogs und Ähnliches verkauft werden. Beide genossen sie dieses Beisammensein, ohne dabei aber den Kummer über den Verlust der Familie vergessen zu können – es war, als hätte man ihnen einen Arm oder ein Bein amputiert: Es ging irgendwie ohne, aber die Erinnerung daran ließ sie nicht los. Ihre Liebe füreinander war in jenem Jahr stärker als je zuvor oder zu irgendeinem Zeitpunkt danach, trotzdem waren sie beide zutiefst einsam, Vater wie Sohn. Aus Angst, seinen Dad zu verlieren, bat Kurt Don, nicht wieder zu heiraten. Der gab seinem Sohn die Hand darauf und versprach ihm, sie beide würde immer zusammenbleiben.

      Im Winter 1976 wechselte Kurt auf die Beacon Elementary School in Montesano. Die Schulen in Montesano waren kleiner als die in Aberdeen, und schon innerhalb weniger Wochen nach dem Wechsel erfreute er sich einer Beliebtheit, wie er sie bis dahin nicht gekannt hatte – und mit ihr schien sich auch die alte Furchtlosigkeit wieder einzustellen. Aber trotz des zur Schau getragenen Selbstbewusstseins blieb ihm doch die Verbitterung über sein Schicksal: „Man sah ihm an, dass ihn die Scheidung seiner Eltern regelrecht quälte“, erinnerte sich Darrin Neathery, ein Klassenkamerad aus der Zeit.

      Als er im Herbst 1977 in die fünfte Klasse kam, war Kurt aus „Monte“, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen, nicht mehr wegzudenken – jeder Schüler der Stadt kannte ihn, und die meisten mochten ihn auch. „Er war ein hübscher Junge“, erinnerte sich John Fields. „Er war clever, und die Dinge liefen gut für ihn.“ Mit seinem blonden Schopf und den blauen Augen war Kurt bald der Liebling aller Mädchen. „Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass er eines der beliebtesten Kinder war“, bemerkte Roni Toyra. „Es gab da eine Gruppe von etwa fünfzehn Kindern, die zusammen rumzogen, und er war ein wichtiger Teil dieser Gruppe. Er war wirklich süß mit seinen blonden Haaren, den großen blauen Augen und den Sommersprossen auf der Nase.“

      Hinter der äußerlichen Attraktivität verbarg sich ein Ringen um Identität, das im Oktober 1977 einen neuen Level erreichte, als sein Vater sich mit Frauen zu treffen begann. Kurt mochte Dons erste Freundin nicht, darum gab der Vater ihr den Laufpass. Mit allem Narzissmus eines Zehnjährigen konnte Kurt das Verlangen seines Vaters nach der Gesellschaft Erwachsener einfach nicht verstehen. War ihm sein Sohn denn nicht genug? Ende Herbst lernte Don Jenny Westby kennen, selbst geschieden mit zwei Kindern: Mindy, die ein Jahr jünger, und James, der zwei Jahre jünger war als Kurt. Vom ersten Rendezvous an war Dons Werben um sie eine Familienangelegenheit – zu fünft machten sie eine Wanderung rund um den Lake Sylvia. Kurt war freundlich zu Jenny und ihren Kindern, und Don glaubte, eine passende Lebensgefährtin gefunden zu haben. Er und Jenny heirateten.

      Anfangs konnte Kurt Jenny gut leiden – sie bot ihm die Aufmerksamkeit einer Frau, die ihm fehlte –, aber seine positiven Gefühle ihr gegenüber führten bei ihm zu einem inneren Konflikt: Wenn er sie gern hatte, dann verriet er ja seine Liebe zu seiner Mutter und zu seiner „richtigen“ Familie. Wie sein Vater klammerte sich Kurt an die Hoffnung, dass die Scheidung nur ein vorüber­gehender Rückschlag sein mochte, ein böser Traum, aus dem er irgendwann wieder erwachen würde. Die erneute Heirat seines Vaters und der nun viel zu kleine Trailer zerstörten ihm diese Illusion. Don war kein Mann vieler Worte, und er hatte nie wirklich gelernt, Gefühle auszudrücken. „Du hast gesagt, du würdest nicht wieder heiraten“, warf Kurt ihm vor. „Tja, weißt du, die Dinge ändern sich eben“, antwortete der Vater.

      Jenny versuchte ihn zu erreichen, aber ohne Erfolg. „Anfänglich brachte er jedem viel Zuneigung entgegen“, erinnerte sie sich. Später hielt Kurt seinem Vater das Versprechen, nicht wieder zu heiraten, immer häufiger vor und zog sich immer tiefer in sich zurück. Don und Jenny versuchten dies zu kompensieren, indem sie Kurt in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten – so durfte er etwa seine Geschenke als Erster öffnen und hatte im Haushalt weniger Pflichten als die anderen –, aber diese kleinen Opfer sorgten nur dafür, dass er sich emotional noch weiter zurückzog. Er spielte gelegentlich ganz gern mit seinen Stiefgeschwistern, triezte sie aber auch viel. Besonders gnadenlos setzte er Mindy wegen ihres Überbisses zu und äffte ständig – vor ihr – deren Sprachfehler nach.

      Eine vorübergehende Besserung trat ein, als die Familie in ein eigenes Haus in der Fleet Street South 413 in Montesano umzog. Kurt bekam ein eigenes Zimmer, das mit seinen runden Fenstern wie eine Schiffskabine aussah. Nicht lange nach dem Umzug, im Januar 1997, brachte Jenny einen weiteren Sohn zur Welt, Chad Cobain. Damit eiferten nun neben der Stiefmutter zwei Kinder und ein Baby um die Aufmerksamkeit, die früher einmal allein Kurt gegolten hatte.

      Kurt hatte freies Feld, was Montesanos Parks, Gassen und Wiesen anging. Die Stadt war so klein, dass ein Fortbewegungsmittel kaum vonnöten war: Der Baseballplatz war vier Blocks weit weg, die Schule lag gleich die Straße hinauf, und alle seine Freunde ließen sich zu Fuß erreichen. Im Gegensatz zu Aberdeen schien Monte geradewegs aus einem Theaterstück von Thornton Wilder, dem Dramatiker, der mit Our Town (Unsere kleine Stadt) das traditionelle amerikanische Kleinstadtleben verewigt hat, zu stammen, es erschien wie ein einfacheres, freundlicheres Stückchen Amerika. Mittwochs war Familienabend im Haus der Cobains. Man spielte Brettspiele wie „Parcheesi“ (ähnlich unserem „Mensch, ärgere dich nicht“) oder „Monopoly“, Kurt beteiligte sich an diesen Aktivitäten mit derselben Begeisterung wie alle anderen auch.

      Das Geld war knapp, sodass sich die Familie in den Ferien meist nur Campingtrips leisten konnte, aber Kurt war der Erste, der im Autos saß, wenn es losging. Seine Schwester Kim durfte ebenfalls mit auf diese Ausflüge, bis Don und Wendy sich eines Tages darüber stritten,


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