Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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Wasser, indem er sich Konflikten mit Witzeleien entzog und seinen Quälgeistern gegenüber seine überlegene Intelligenz ausspielte und sie durch den Kakao zog.

      Zahllose Stunden saß Kurt vor dem Fernseher, und andauernd lag er deswegen mit Don und Jenny im Clinch. Sie wollten ihm die Zeit vor der Glotze einschränken, aber er schrie und bettelte ständig nach mehr. Wenn er nicht mehr fernsehen durfte, besuchte er einfach seinen besten Freund, Rod Marsh, der einen Block weiter wohnte, und setzte sich dort vor den Kasten. Obwohl Saturday Night Live eigentlich nach seinem Zapfenstreich lief, versäumte er kaum eine Sendung, am Montag darauf spielte er dann in der Schule die besten Sketche nach. Außerdem konnte er täuschend echt Latka imitieren, die Rolle, die der Komiker Andy Kaufman in der Serie Taxi spielte.

      Im Sommer zuvor hatte Kurt in der Little League aufgehört, im Winter jedoch trat er in die Ringer-Juniorenriege der Schule ein, zur ganz besonderen Freude seines Vaters, der keinen Kampf verpasste und ihn endlos über seine Fortschritte ausfragte. Kurts Trainer war Kinichi Kanno, der Kunsterzieher der Schule, Kurt hatte nicht zuletzt mit dem Ringen angefangen, um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. In Kanno fand Kurt ein Vorbild, das ihn in seiner Kreativität unterstützte, und bald war er Kannos Lieblingsschüler. Eine von Kurts Zeichnungen erschien zu Halloween auf dem Titelblatt der Puppy Press. Sie zeigte eine Bulldogge, das Maskottchen der Schule, die eine Tüte mit Süßigkeiten über einer Hundehütte ausleert. Der typische Cobain-Touch war, dass Kurt zwischen all den Schleckereien eine Bierdose versteckt hatte. Als Weih­nachtskarte zeichnete Kurt in diesem Jahr mit Tusche ein Bild von einem kleinen Jungen, der zu angeln versuchte, dessen Haken sich aber in seinem Hintern verfangen hatte – die Karte war mindestens so gut wie die meisten Karten, die man von Hallmark kaufen konnte. Wie Nikki Clark aus seiner Klasse sich erinnerte, waren Kurts Zeichnungen „immer sehr gut. Kanno brauchte ihm nie zu helfen, weil er den anderen immer weit voraus war.“ Auch außerhalb des Kunstunterrichts hatte Kurt seinen Zeichenstift immer griffbereit: „Im Unterricht war er ständig am Kritzeln, in jedem Fach.“

      Bei diesen „Kritzeleien“ handelte es sich meist um Autos, Laster und Gitarren, zunehmend versuchte er sich auch an kruden pornografischen Zeichnungen. „Einmal zeigte er mir eine Skizze, die er gemacht hatte“, erzählte Klassenkamerad Bill Burghardt, „ein völlig realistisches Bild einer Vagina. Ich habe ihn gefragt, was das sei, und er lachte.“ Nicht dass Kurt damals bereits eine Vagina aus der Nähe gesehen hätte – außer in Büchern und den Pornoheften, die die Jungs untereinander herumreichten. Eine weitere Spezialität von ihm war Satan, eine Figur, die er während der Unterrichtsstunden immer und immer wieder zeichnete.

      Roni Toyra war in der siebten Klasse Kurts Freundin, aber es war eine unschuldige erste Verknalltheit, aus der nie etwas Ernstes wurde. Er schenkte ihr eine Zeichnung, um das Band zwischen ihnen zu besiegeln. „Es gab Kinder an der Schule, die ganz eindeutig gestört oder Außenseiter waren, aber er war bestimmt keins davon“, sagte sie. „So ziemlich das Einzige, worin er sich unterschied, war, dass er stiller war als die meisten anderen. Nicht ungesellig, nur eben still.“

      Zuhause war Kurt alles andere als das. Ständig beschwerte er sich lautstark über die seiner Ansicht nach unfaire Behandlung durch Jenny oder Don. Wenn Kinder in eine Ehe mitgebracht werden, geht es in den seltensten Fällen problemfrei ab, aber hier war die Situation besonders heikel. Ständig und aufreibend wurde in der Familie über Bevorzugung und Fairness diskutiert. Kurts Klagen führten für gewöhnlich zu Streit zwischen Don und Jenny oder fachten den Hass zwischen Don und Wendy an, deren Streitereien um Besuchsrechte und Unterhaltszahlungen ständig am Köcheln waren. Don schimpfte darüber, dass Wendy immer sofort Kim anrufen ließ, wenn er mit seinem Unterhaltsscheck mal auch nur einen Tag zu spät dran war.

      Gegen Ende der siebten Klasse rief die Krankenschwester der Schule zuhause an und teilte mit, Kurts Körperproportionen ließen auf eine Skoliose schließen, eine krankhafte Seitenverbiegung der Wirbelsäule. Don und Jenny gingen daraufhin mit ihm zum Arzt, der nach einer gründlichen Untersuchung zu dem Schluss kam, Kurt leide nicht an Skoliose, er habe nur einfach längere Arme als die meisten Kinder seiner Größe, weshalb seine Maße nicht so recht zusammenzupassen schienen. Wendy jedoch überzeugte das ganz und gar nicht. Über die Kommunikationswege zwischen den beiden Familienhälften, die mit einer lausigen Runde „Stille Post“ vergleichbar waren, hatte Wendy erfahren, Kurt leide an Skoliose. Sie war entsetzt darüber, wie gelassen Don das hinnahm und dass Kurt nicht schon im Ganzkörpergips steckte. Kurt schloss sich der Diagnose seiner Mutter an und gab Jahre später an „im ersten Highschooljahr eine kleine Skoliose“ gehabt zu haben. Obwohl diese Behauptung im Widerspruch zu den Fakten steht, führte Kurt sie als weiteres Beispiel dafür an, wie sein Vater ihn im Stich gelassen hatte.

      Wie viele Scheidungskinder war Kurt ein Meister darin, seine Eltern gegeneinander auszuspielen. Als etwa Wendy 1980 als Bürokraft beim County Commissioner in der Kreisverwaltung von Montesano arbeitete, besuchte Kurt sie des Öfteren nach der Schule, nur um zu petzen, wie Don und Jenny ihm wieder zugesetzt hätten. Je unerträglicher Kurts Situation in Monte wurde, desto mehr hoffte er, Wendy würde ihn wieder bei sich aufnehmen. Seine Mutter aber hatte ihre eigenen Probleme, und zwar mit Frank. Kim gegenüber erwähnte sie einmal, sie habe Angst, wenn Kurt mitbekäme, wie ungut es bei ihnen zuhause zugeht, würde er womöglich schwul werden. Jahre später, als Kurt das Thema Wendy und Kim gegenüber zur Sprache brachte, sagte seine Mutter ihm: „Kurt, du hast ja keine Ahnung, wie das damals war. Du wärst doch nur in einer Erziehungsanstalt, wenn nicht gar im Gefängnis gelandet.“

      Wiederholt beklagte sich Kurt Wendy gegenüber, Jennys Kinder würden in der Familie bevorzugt. Wenn Jennys Ex-Mann Mindy und James etwas schenkte, war Kurt eifersüchtig. Jede Disziplinarmaßnahme gegen ihn sah er vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er nicht Jennys leibliches Kind war. Seinen Freunden erzählte er, dass er Jenny nicht mochte; er maulte über ihr Essen und behauptete sogar, sie würde ihm die Limonade rationieren. Jenny, so sagte er, höre „das Zischen einer Pepsi-Dose noch drei Zimmer weiter“, und aufs Pausenbrot gebe es „nur zwei Scheiben Carl-Buddig-Schinken pro Sandwich und zwei Grandma’s Cookies dazu“.

      Leland Cobain machte Don Vorhaltungen über die Ungerechtigkeit Kurt gegenüber: „Die hatten Obst auf dem Tisch stehen, und Mindy und James konnten jederzeit hergehen und sich einen Apfel nehmen. Wenn Kurt sich einen nahm, dann machte Donnie ihm die Hölle deswegen heiß.“ Lelands Ansicht nach hatte Don derartige Angst davor, Jenny könnte ihn verlassen, dass er sich auf die Seite ihrer Kinder stellte. Don gab zu, dass es in Sachen Disziplin mit Kurt mehr Probleme gab als mit Jennys Kindern, aber das hatte seiner Meinung zufolge nichts mit Bevorzugung, sondern nur mit Kurts Charakter zu tun. Aber es stimmte schon: Don machte sich tatsächlich Sorgen, Jenny würde ihn sitzen lassen, wenn Kurt zu viele Scherereien machte: „Ich hatte Angst, es könnte so weit kommen, dass es hieß: ‚Entweder er oder ich.‘ Und ich wollte sie nicht verlieren.“

      Kurts Beziehung zu seinen Geschwistern und Stiefgeschwistern wurde ausgeglichener, je älter er wurde. Seinen Halbbruder Chad vergötterte er, weil er Babys einfach von Haus aus gern hatte. Mindy bekam dann und wann einen Boxhieb ab, aber wenn keine Schule war, spielte er auch mal den ganzen Tag mit ihr. Schulkameraden, die auf seine Familie zu sprechen kamen – einige seiner Kumpel fanden Mindy süß –, beeilte er sich zu korrigieren, wenn sie Mindy seine „Schwester“ nannten. Seinen Freunden gegenüber bezeichnete er Mindy als „nicht meine Schwester, sondern die Tochter der neuen Frau von meinem Dad“ und sprach diese Worte aus, als wäre Mindy eine Art Folter, die er täglich zu ertragen verdammt sei.

      Mit James kam er besser aus, weil er bei ihm nicht Gefahr lief, von ihm in den Schatten gestellt zu werden. James war der batboy in einem von Kurts Baseballteams und hatte sich da um die Schläger der batters, der Schlagleute, zu kümmern, und wenn andere Jungs auf James herumhackten, ging Kurt dazwischen und drohte den Angreifern. Außerdem interessierten sie sich beide fürs Kino. Im Sommer fuhr die Familie oft in ein Autokino mit zwei Leinwänden – mit zwei Autos. Das mit den Kindern wurde dann vor der Leinwand mit dem jugendfreien Film geparkt, während die Eltern sich im anderen Wagen den Streifen für Erwachsene ansahen. Kurt brachte James bei, dass sie sich nicht unbedingt die x-te Don-Knotts-Komödie reinziehen mussten, sie brauchten nur aufs Klo zu gehen und konnten sich dann von draußen etwas für Ältere anschauen, wie zum Beispiel Heavy Metal, der Kurt besonders gefiel. Kurt liebte


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