Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
keine warmherzigen Wiedersehen mehr; vielmehr war es eher so, dass die Besuche bei Kurt wieder in den alten Wunden der Scheidung herumstocherten. Wendy und Don konnten schlicht und einfach nicht mehr zivilisiert miteinander umgehen, Kurts Ausflüge nach Aberdeen hießen für ihn vor allem, seinen Eltern zuzusehen, wie sie sich über die Besuchszeiten in die Haare gerieten. Und noch ein weiterer Schatten legte sich über einen seiner Wochenendbesuche: Puff, seine geliebte Katze, lief weg und wurde nie wieder gesehen.
Wie alle Kinder war Kurt ein Gewohnheitstier, er hatte seine Freude an festen Strukturen wie dem Familienabend. Aber selbst dieser kleine Trost stürzte ihn in einen Konflikt: Er sehnte sich nach Nähe, hatte aber auf der anderen Seite Angst davor, am Ende wieder verlassen zu werden. Er hatte die Pubertät erreicht, eine Lebensphase, in der heranwachsende Jungen zwischen sich und ihren Eltern zu differenzieren und nach einer eigenen Identität zu suchen beginnen. Kurt trauerte aber noch immer dem Verlust seines ursprünglichen Familiennests nach, die notwendige Abnabelung wurde für ihn zu einer von Ängsten überschatteten Angelegenheit. Er verarbeitete die vielen widersprüchlichen Gefühle, indem er sich emotional von Don und Wendy abzukapseln begann. Er sagte sich und seinen Freunden, dass er die beiden hasste, eine Gehässigkeit, mit der sich seine eigene Distanziertheit rechtfertigen ließ. Aber selbst wenn er den Nachmittag lang mit seinen Freunden herumgezogen war und über die Gemeinheit seiner Eltern geschimpft hatte – am Familienabend war er wieder dabei, und er war der Einzige im Haus, dem diese Abende nie lange genug dauern konnten.
Feiertage waren immer ein Problem. Thanksgiving und Weihnachten 1978 sah sich Kurt zwischen einem halben Dutzend Haushalten herumgeschoben. Waren seine Gefühle für Jenny eine Mischung aus Zuneigung, Eifersucht und Verrat an seiner Mutter, hatte er für Wendys Freund Frank Franich nichts als blanke Wut übrig. Wendy hatte außerdem angefangen, heftig zu trinken, und der Alkohol machte sie nur noch bissiger. Eines Abends brach Franich Wendy den Arm – Kim wurde Zeugin dieses Vorfalls –, und sie musste ins Krankenhaus. Als sie wiederhergestellt war, weigerte sie sich, Anzeige zu erstatten. Ihr Bruder drohte Franich, aber gegen Wendys Zuneigung zu Franich kam die Familie nicht an. Viele waren damals der Meinung, dass Wendy nur des Geldes wegen mit Franich zusammenblieb. Sie hatte zwar nach der Scheidung einen Job als Verkäuferin bei Pearson’s, einem Kaufhaus in Aberdeen, angenommen, aber es war Franichs Gehalt als Hafenarbeiter, mit dem sie sich nicht alltäglichen Luxus wie etwa Kabelfernsehen leisten konnten. Vor Franich war Wendy mit ihren Rechnungen derart in Verzug geraten, dass man schon gedroht hatte, ihr den Strom abzustellen.
Kurt wurde in jenem Jahr elf. Er war klein und schmächtig, aber richtig ohnmächtig und schwach fühlte er sich nur in der Gesellschaft von Franich. Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie zugleich dafür, sie bedauern zu müssen. Seine Eltern waren seine Götter gewesen, als er klein war. Jetzt waren sie gefallene Idole, falsche Götzen, denen nicht mehr zu trauen war.
Diese inneren Konflikte begannen sich schließlich in Kurts Verhalten zu äußern. Er war frech zu Erwachsenen, weigerte sich, seinen Pflichten nachzukommen, und trotz seiner Schmächtigkeit begann er einen Klassenkameraden derart zu terrorisieren, dass der nicht mehr in die Schule gehen wollte. Lehrer und Eltern schalteten sich ein, und alles fragte sich, wie so ein süßer Junge so ekelhaft hatte werden können. Am Ende ihrer Weisheit, brachten Don und Jenny Kurt schließlich zur Therapie. Man versuchte sich auch an ein wenig Familientherapie, aber Don und Wendy schafften es einfach nie, zu den gleichen Terminen aufzutauchen. Der Therapeut führte aber einige Gespräche mit Kurt. Sein Schluss war, dass Kurt eine Familie brauchte – und zwar eben nur eine. „Uns wurde gesagt, wenn er bei uns bleiben sollte, dann müssten wir uns um das Sorgerecht bemühen, damit er wüsste, dass wir ihn als Teil der Familie akzeptierten“, erinnerte sich Jenny. „Leider sorgte die Debatte darüber nur für neue Probleme zwischen Wendy und Don.“
Don und Wendy waren nun schon seit mehreren Jahren geschieden, aber ihr Zorn aufeinander hatte sich gehalten, ja hatte sich durch die Kinder noch verschärft. Wendy hatte ein schwieriges Jahr hinter sich: Ihr eigener Vater, Charles Fradenburg, war ganz plötzlich, zehn Tage nach seinem einundsechzigsten Geburtstag, an einem Herzanfall verstorben. Wendys Mutter Peggy war immer eine Einzelgängerin gewesen, und Wendy hatte Angst, der Tod ihres Mannes könnte die Isolation ihrer Mutter noch verschlimmern. Peggys merkwürdiges Verhalten mochte auf einen grausigen Vorfall in ihrer Kindheit zurückzuführen sein: Als sie zehn Jahre alt war, stach sich ihr Vater vor den Augen der Familie ein Messer in den Unterleib. James Irving überlebte den Selbstmordversuch und wurde in eben die psychiatrische Klinik eingewiesen, in der später die Schauspielerin Frances Farmer eine Elektroschocktherapie erhalten sollte. Zwei Monate später starb er an den Folgen seiner Verletzung – in einem vom Pflegepersonal unbeobachteten Augenblick hatte er sich die Stichwunde aufgerissen. Wie über so viele Tragödien der Familie wurde auch über die Geisteskrankheit von Kurts Großvater nur im Flüsterton geredet.
Aber noch nicht einmal das Leid der Fradenburgs vermochte Don und Wendy im Kummer zu vereinen. Ihre Diskussionen um Kurt endeten, wie alle ihre Gespräche, im Streit. Schließlich unterschrieb Wendy ein Dokument mit folgendem Inhalt: „Donald Leland Cobain ist hiemit alleinig verantwortlich für Pflege, Sorge und Unterhalt besagten Kindes.“ Am 18. Juni 1979, drei Wochen vor dem dritten Jahrestag der Scheidung, bekam Don offiziell das Sorgerecht für seinen Sohn zugesprochen.
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KNALLER DES MONATS
Montesano, Washington, Juli 1979 bis März 1982
Seine Lieblingsspeise ist Pizza und Coke. Sein Lieblingsspruch ist „excuse you“.
– Aus einem Profil in Puppy Press.
Im September 1979 kam Kurt in die siebte Klasse der Montesano Junior High School, für ihn ein wichtiger Meilenstein, von nun an begann die Schule eine größere Rolle in seinem Leben zu spielen. In der fünften Klasse hatte er zum ersten Mal Musikunterricht gehabt, in der siebten spielte er Schlagzeug in der Highschoolband – eine Leistung, die er seinen Freunden gegenüber herunterzuspielen versuchte, obwohl er sie auf der anderen Seite genoss. Er lernte mit der Marschkapelle und in kleinen Ensembles zu spielen und übte Snare- und Bassdrum für Songs wie „Louie, Louie“ und „Tequila“. Wirklich marschiert wurde bei der Monte Band nur selten, meist spielte sie bei Schulveranstaltungen und Basketballspielen – egal, wo: Kurt war dabei.
Tim Nelson, der Leiter der Kapelle, hat ihn als „ganz normalen, durchschnittlichen Musikschüler“ in Erinnerung. „Er war weder außergewöhnlich noch auffallend schlecht.“ Kurts Foto erschien in jenem Jahr in Montesano im „Sylvan“-Jahrbuch: Man sieht ihn bei irgendeiner Versammlung Schlagzeug spielen. Er trägt einen Pagenschnitt und sieht ein bisschen aus wie der junge Brad Pitt.
Seine Kleidung tendierte zum typischen Mittelstufenschülerstil: Hash-Jeans mit Schlag, ein gestreiftes Izod-Rugbyshirt und Nike-Sportschuhe. Er kleidete sich wie ein typischer Zwölfjähriger, nur dass er für sein Alter etwas klein und schmächtig war.
Beliebt, wie er an der Schule war, wurde er für ein kleines Porträt in der Schülerzeitung Puppy Press ausgewählt. Am 26. Oktober 1979 war dort unter der Überschrift „Meatball of the Month“ – „Knaller des Monats“ zu lesen:
„Kurt geht in die siebte Klasse unserer Schule. Er hat blondes Haar und blaue Augen. Schule findet er okay. Kurts Lieblingsfach ist die Schulband, und sein Lieblingslehrer ist Mr. Hepp. Seine Leibspeise ist Pizza und Coke. Sein Lieblingsspruch ist ‚excuse you‘. Sein Lieblingssong ist ‚Don’t Bring Me Down‘ von E.L.O., und seine Lieblingsrockgruppe ist Meatloaf. Seine Lieblings-TV-Serie ist Taxi, und sein Lieblingsschauspieler ist Burt Reynolds.“
Der Spruch „excuse you“ ist Kurts Wortspiel auf Steve Martins Saturday Night Live-Standardspruch „excuse me“ und illustriert Kurts verschrobenen, sarkastischen Humor. Er liebte es, Sätze zu verdrehen, oder stellte absurde rhetorische Fragen – man stelle sich einen halbwüchsigen Andy Rooney vor (dieser ist ein altgedienter amerikanischer Korrespondent, TV-Kommentator und Autor zahlreicher Bücher und Kolumnen und für seine trockenen Sprüche berühmt). Typisch war etwa, als Kurt angesichts