Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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Er fing an, bei Wendys Brüdern und Schwestern ein- und auszuziehen. „Kurt wurde von Verwandten zu Verwandten gereicht“, erinnert sich Jim. Kurt war der Archetyp eines Schlüssel­kindes. Er kam mit seinen Onkeln und Tanten besser aus als mit seinen Eltern, aber seine Prob­leme mit Autorität nahm er mit. Seine Onkel und Tanten waren weniger streng, aber in den Haushalten, in denen es lockerer zuging, gab man sich auch weniger Mühe, das familiäre Beisammensein zu strukturieren. Seine Verwandten hatten ihre eigenen Probleme, ihren eigenen Existenzkampf – nirgendwo hatte man wirklich Platz für ihn, weder physisch noch emotionell, und Kurt wusste das.

      Er verbrachte einige Monate bei seinem Onkel Chuck, wo er anfing, Gitarrenstunden zu nehmen. Chuck spielte in einer Band mit einem Kumpel namens Warren Mason, einem der heißesten Gitarristen der Bucht. Wenn sie – mit viel Pot und einer Flasche Jack Daniel’s – bei Chuck zuhause probten, saß Kurt in einer Ecke und hörte zu und starrte Warren dabei an wie ein Verhungernder ein Frikadellensandwich. Eines Tages fragte Chuck Warren, ob er dem Jungen nicht Unterricht geben wolle, und so begann Kurts formelle Musikausbildung.

      Laut Kurt selbst nahm er nur zwei, drei Stunden und lernte in dieser kurzen Zeit alles, was er wissen musste. Warren jedoch erinnert sich, ihm monatelang Unterricht gegeben zu haben und dass Kurt die Stunden ausgesprochen ernst nahm und sich wirklich bemühte. Das Erste, worum Warren sich dabei kümmern musste, war Kurts Gitarre – sie mochte wohl gut genug sein, um sie in der Schule herumzuzeigen, aber zum Spielen taugte sie kaum. Warren besorgte für Kurt eine Ibanez für einhundertfünfundzwanzig Dollar. Der Unterricht selbst kostete fünf Dollar die halbe Stunde. Wie alle seine Schüler fragte Warren Kurt, welche Songs der denn gern lernen würde. „‚Stairway To Heaven‘“, antwortete Kurt. Eine krude Version von „Louie, Louie“ hatte er bereits drauf. Die beiden erarbeiteten sich also „Stairway To Heaven“, dann ging es weiter mit AC/DCs „Back In Black“. Der Unterricht endete, als Kurts lausige Noten seinen Onkel irgendwann auf den Gedanken brachten, dass Kurt seine Nachmittage auch besser nutzen könnte.

      Von seinem zweiten Highschooljahr absolvierte Kurt noch zwei Monate in Montesano, dann wechselte er an die Weatherwax High in Aberdeen. Es war die Schule, an der auch seine Eltern ihren Abschluss gemacht hatten, aber trotz dieser Wurzeln und der Nähe zum Haus seiner Mutter war er dort ein Außen­seiter. Die 1906 erbaute Weatherwax High School erstreckte sich über drei Blocks und umfasste fünf separate Gebäude; in Kurts Jahrgang waren dreihundert Schüler, dreimal so viele wie in Montesano. In Aberdeen fand Kurt sich an einer Schule mit vier Fraktionen: Kiffer, Sportler, Preppies und Streber – und er passte in keine davon. „In Aberdeen gab’s lauter Cliquen“, bemerkte Rick Gates, ein anderer Junge, der nach Weatherwax übergewechselt war. „Keiner von uns kannte dort wirklich jemanden. Obwohl Aberdeen im Vergleich zu Seattle ein Provinz­kaff war, war es von Monte aus ein ziemlicher Schritt. Wir kamen nie so recht dahinter, wo wir reinpassten.“ Die Highschool im zweiten Jahr zu wechseln wäre schon für die meisten angepassten Teenager problematisch gewesen, für Kurt war es eine Tortur.

      War er in Monte noch beliebt gewesen – immerhin war er Sportler und ging seiner Izod-Hemden wegen als Preppy durch –, so war er hier in Aberdeen ein Außenseiter. Er hielt den Kontakt zu seinen Freunden in Monte aufrecht, aber obwohl er sie fast jedes Wochenende traf, fühlte er sich einsamer denn je. Sein Talent als Sportler reichte nicht aus, um ihn an einer so großen Schule bekannt zu machen, also gab er Sport ganz auf. Beladen mit den Selbstzweifeln aufgrund seiner kaputten Familie und seines nomadischen Lebensstils, zog sich Kurt immer weiter von der Welt zurück. Später erzählte er immer wieder, man habe ihn in Aberdeen verprügelt, ständig hätten ihm irgendwelche Rednecks – wie er die Leute dort nannte – zugesetzt. Doch seine Klassenkameraden in Weatherwax erinnern sich an nichts dergleichen – Kurt übertrieb nur die emotionelle Isolation, in der er sich sah, und machte daraus Geschichten über physische Gewalt.

      Etwas Gutes hatte Weatherwax immerhin, und das war der Kunstunterricht, ein Gebiet, auf dem Kurt weiterhin Beachtliches leistete. Sein Lehrer Bob Hunter hielt ihn für einen außergewöhnlichen Schüler: „Er hatte Talent fürs Zeichnen, gepaart mit viel Fantasie.“ Hunter erlaubte seinen Schülern, während des Unterrichts Radio zu hören, da er selbst Maler und Musiker war, und ermutigte seine Schüler, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Für Kurt war er der ideale Lehrer, und wie schon Mr. Kanno vor ihm erwies er sich als eins der wenigen erwachsenen Vorbilder, zu denen der Junge aufsehen konnte.

      In diesem ersten Jahr in Weatherwax belegte Kurt die Kurse für Werbegrafik und Grundlagen der Kunst, die nacheinander in der fünften und sechsten Stunde stattfanden. Diese beiden Fünfzig-Minuten-Stunden gleich nach der Mittagspause waren die einzigen, in die er auch tatsächlich jeden Tag ging. Sein Talent beeindruckte Hunter und schockte seine Klassenkameraden zuweilen richtiggehend. Für eine Karikatur-Aufgabe zeichnete Kurt Michael Jackson, eine behandschuhte Hand in der Luft, die andere im Schritt. In einer anderen Stunde sollten die Schüler einen Gegenstand in seiner Entwicklung zeigen – Kurt zeichnete die Entwicklung einer Samenzelle zum Embryo. Seine Fertigkeit mit dem Zeichenstift war mustergültig, aber es war seine verkorkste Fantasie, mit der er die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler gewann. „Das mit dem Sperma hat uns alle geschockt“, erinnerte sich die Klassenkameradin Theresa Van Camp. „Er tickte geistig einfach anders als wir. Die Leute fingen an, über ihn zu reden, alle überlegten: Was geht in dem wohl vor?“ Als Hunter Kurt erklärte, dass man die Michael-Jackson-Karikatur womöglich nicht auf dem Flur der Schule würde aushängen können, zeichnete dieser stattdessen ein wenig schmeichelhaftes Porträt von Ronald Reagan mit einem faltigen Rosinengesicht.

      Kurt hatte schon immer wie ein Besessener gezeichnet, jetzt jedoch, unter Hunters Zuspruch, begann er sich selbst als Künstler zu sehen. Seine Skizzen und Kritzeleien wurden Teil seiner Ausbildung. Er war ein außerordentlich geschick­ter Cartoonist, und über dieses Medium kam er auf die Kunst des Erzählens. Ein Cartoon, von dem er in dieser Zeit immer wieder Fortsetzungen zeichnete, waren die Abenteuer von Jimmy, the Prairie Belt Sausage Boy, benannt nach einer Fleischkonserve. Diese Geschichten dokumentierten die schmerzliche Kindheit eines Jungen namens Jimmy – ein kaum verschleierter Kurt –, der unter seinen strengen Eltern zu leiden hatte. Eine der kolorierten Bildserien erzählte – und das nicht etwa durch die Blume – die Geschichte von Kurts Konflikten mit seinem Vater. Im ersten Bild liest der Vater Jimmy gerade die Leviten: „Das Öl ist ja völlig verdreckt! Man riecht ja das Benzin drin. Gib mir mal den Neunerschlüssel, du kleiner Mistkäfer. Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst, hältst du dich gefälligst an meine Regeln, und damit ist es mir ernst: Ehrlichkeit, Loyalität, Ehre, Tapferkeit, Disziplin, Gott und Vaterland haben Amerika zur Nummer eins gemacht.“ In einem anderen Bild schreit eine Mutter: „Ich schenke dir einen Sohn, aber deine Tochter treib ich ab. Um sieben Elternabend, Töpferkurs um halb drei, Bœuf Stroganoff, um halb vier den Hund zum Tierarzt, die Wäsche, ja, ja, mmmh, Schatz, in den Arsch tut’s besonders gut, mmm. Ich liebe dich.“

      Es ist unklar, ob die Mutter in dem Comic Jenny oder Wendy sein soll, jedenfalls bedeutete für Kurt die Entscheidung, nach Weatherwax zu wechseln, dass er wieder bei seiner Mutter in der East First Street einzog. Das Haus mit der Nummer 1210 kam einem festen Zuhause am nächsten, da sein Zimmer im Obergeschoss nicht angerührt worden war und fast wie ein Schrein zur Erinne­rung an die alten Tage wirkte, in denen die kleine Familie noch intakt gewesen war. Er hatte dort hin und wieder Wochenenden verbracht, hatte die Wände weiter mit Rockpostern geschmückt, von denen mittlerweile viele selbst gemalt waren. Natürlich war das Beste in dem Zimmer – wie in seinem Leben überhaupt – die Gitarre. Bei Wendy zuhause war weniger los als bei den Leuten, bei denen er in diesen Jahren sonst so wohnte, und er konnte entsprechend ungestört üben. Die Verhältnisse im Haus hatten sich freilich nur geringfügig gebessert. Kurts Mutter hatte es zwar endlich geschafft, sich von Frank Franich zu befreien, aber Mutter und Sohn stritten sich nach wie vor.

      Wendy hatte sich verändert, sie war nicht mehr die Mama von vor sechs Jahren. Sie war jetzt fünfunddreißig, ging aber mit jüngeren Männern und machte eine Phase durch, die man nur als die Art Midlifecrisis beschreiben kann, wie man sie sonst eher mit kürzlich geschiedenen Männern assoziiert. Sie trank viel und war Stammgast in vielen Bars von Aberdeen – mit ein Hauptgrund, weshalb Kurt nicht sofort bei ihr untergebracht worden war, nachdem er bei Don ausgezogen war. In diesem Jahr hatte sie eine lockere Beziehung mit dem zweiundzwanzigjährigen


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