Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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Lippen hingen, wann immer er den Mund aufmachte. Buzz selbst sah mit seinem „weißen“ Afro eher wie Richard Simmons aus als der Typ von Air Supply.

      Buzz stand den „Klingonen“ mit Rat zur Seite, nahm ihnen Cassetten auf und gab den Sokrates von Montesano, den Elder Statesman, der seinem Fähnlein von Fans salbadernd seine Ansichten über Gott und die Welt kundtat. Er entschied, wer in den Übungsraum durfte und wer nicht, und gab allen Spitznamen. Greg Hokanson wurde „Cokenson“. Jesse Reed, den Kurt auf der Weatherwax High School kennen gelernt und mit dem er sich rasch angefreundet hatte, wurde „Black Reed“ nach der Band Black Flag, obwohl er – wie alle aus der Clique – weiß war. Kurt hatte nie einen Spitznamen, jedenfalls keinen, der sich gehalten hätte. Seine Freunde zu der Zeit nannten ihn einfach „Cobain“. Dass er keinen Spitznamen hatte, hieß jedoch nicht, dass er einen besonderen Status genossen hätte. Im Gegenteil war es so, dass er keinen Spitznamen hatte, weil man der Ansicht war, ein Pinscher wie er hätte eine derartige Anerkennung schlicht nicht verdient.

      Wie Kurt selbst gehörten die Melvins geografisch sowohl nach Monte (wo Buzz bei seinen Eltern wohnte) als auch nach Aberdeen (wo Crovers Übungsraum war). Der Bassist der Melvins war Matt Lukin, ebenfalls aus Monte, den Kurt vom Ringen und von der Baseball Little League her kannte; auch mit ihm freundete er sich schnell an. Wenn Kurt nach Monte kam, schaute er eher bei Buzz oder Lukin vorbei als bei seinem Vater.

      Hinter einer speziellen Fahrt nach Monte steckte jedoch etwas ganz anderes als seine neue Liebe zum Punk – diesmal ging es um ein Mädchen. Andrea Vance war die kleine Schwester von Kurts Freund Darrin Neathery. Eines Nachmittags war sie zum Babysitten in Monte, als Kurt unerwartet auftauchte. „Er war richtig lieb“, erinnerte sie sich. „Er hatte tolle blaue Augen und ein umwerfendes Lächeln. Sein Haar war richtig hübsch und ganz weich. Er trug es damals mittellang. Gesagt hat er nicht viel, und wenn, dann leise und freundlich.“ Sie sahen sich zusammen im Fernsehen Drei Mädchen und drei Jungen – The Brady Bunch an, und Kurt spielte mit den Kindern. Pünktlich auf die Minute war er am nächs­ten Tag wieder da, und Andrea belohnte ihn mit einem Kuss. Eine ganze Woche lang kam er jeden Tag, aber über etwas Geknutsche ging ihr Techtelmechtel nicht hinaus. „Er war wirklich lieb und sehr respektvoll“, erinnerte sich Vance. „Ich hatte nicht den Eindruck, er sei eines dieser Hormone auf zwei Beinen.“

      Trotzdem, unter der Oberfläche tobten die Hormone. Im selben Sommer hatte Kurt seine „erste sexuelle Begegnung“, wie er es später nannte, und zwar mit einem entwicklungsbehinderten Mädchen. Wie er in seinem Tagebuch berichtet, bemühte er sich nur um sie, weil ihn sein Leben so deprimierte, dass er an Selbstmord dachte. „Dieser Monat war der Höhepunkt des geistigen Missbrauchs durch meine Mutter“, schrieb er. „Wie sich herausstellte, half Pot mir nicht mehr so recht aus meinem Elend, und ich hatte richtig Spaß an kleinen rebellischen Akten wie Alkohol zu klauen oder Schaufenster einzuschlagen. … Ich beschloss, mich im Lauf des nächsten Monats nicht mehr nur aufs Dach zu hocken und ans Runterspringen zu denken, sondern mich tatsächlich umzubringen. Und ich wollte die Welt nicht verlassen, ohne zu wissen, wie es ist, flachgelegt zu werden.“

      Seine einzige Möglichkeit schien dieses „halb zurückgebliebene Mädchen“. Eines Tages folgten Trevor Briggs, John Fields und Kurt ihr nachhause und klauten ihrem Vater den Schnaps. Sie hatten das schon oft gemacht, aber diesmal blieb Kurt noch, nachdem seine Freunde wieder gegangen waren. Er setzte sich auf den Schoß des Mädchens und berührte ihre Brüste. Die beiden gingen in ihr Zimmer, und sie zog sich vor ihm aus, aber er war angewidert, sowohl von sich selbst als auch von ihr. „Ich versuchte sie zu ficken, wusste aber nicht, wie“, schrieb er. „Ich ekelte mich vor ihr, wie ihre Vagina roch und wie sie nach Schweiß stank, also ging ich.“ Obwohl Kurt den Rückzug angetreten hatte, sollte er sich wegen dieses Vorfalls für den Rest seines Lebens schämen. Er hasste sich dafür, das Mädchen ausgenutzt zu haben, auf der anderen Seite hasste er sich dafür, die Geschichte nicht bis zum Verkehr durchgezogen zu haben – eine fast noch größere Schande für einen noch jungfräulichen Jungen von sechzehn Jahren. Der Vater des Mädchens beschwerte sich bei der Schule, seine Tochter sei sexuell belästigt worden, und Kurt wurde als Verdächtiger genannt. Wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, verdankte er es nur einem Zufall, dass er nicht vor dem Jugendrichter landete: „Sie zeigten ihr ein Jahrbuch, damit sie den betreffenden Jungen identifizierte, was natürlich nicht ging, weil ich dieses Jahr nicht zum Gruppenfoto gegangen war.“ Er behauptet darüber hinaus, man habe ihn in Montesano auf die Wache zitiert und vernommen, er sei der Verurteilung aber entgangen, weil das Mädchen über achtzehn und vom rechtlichen Standpunkt aus auch „nicht geistig zurückgeblieben“ gewesen sei.

      Mit seinem dritten Highschooljahr an der Weatherwax High in Aberdeen begann Kurt ein romantisches Verhältnis zu der fünfzehnjährigen Jackie Hagara. Sie wohnte zwei Blocks von ihm entfernt, und er richtete sich zeitlich so ein, dass sie zusammen zur Schule gehen konnten. Er hinkte in Mathematik derart hinterher, dass er sich gezwungen sah, sich noch einmal in den Mathe-Unterricht des ersten Jahrgangs zu setzen, und da hatten sich die beiden kennen gelernt. Die meisten der Kinder in dieser Klasse fanden Kurt merkwürdig, wie er da als älterer Schüler bei ihnen nachsitzen musste, aber Jackie mochte sein Lächeln. Eines Tages nach der Schule zeigte er ihr eine seiner Zeichnungen, einen Rockstar auf einer einsamen Insel. Der Mann hatte eine Les Paul umgeschnallt und das Kabel seines Marshall-Verstärkers in eine Palme gestöpselt. Für den sechzehnjährigen Kurt war das eine Vision vom Paradies.

      Jackie sagte, ihr gefiele die Zeichnung. Zwei Tage später machte er ihr ein Geschenk: Er hatte dasselbe Bild noch einmal mit einem Airbrush und in Postergröße nachgezeichnet. „Hier, ist für dich“, sagte er und blickte dabei zu Boden. „Für mich?“, fragte sie. „Ich würd gern mal mit dir ausgehen“, erklärte er. Kurt war nur leicht geknickt, als sie ihm sagte, sie habe schon einen Freund. Sie gingen weiter zusammen zur Schule, hielten gelegentlich sogar Händchen dabei, und eines Nachmittags, vor ihrem Haus, zog er sie schließlich an sich und gab ihr einen Kuss. „Ich fand ihn so süß“, sagte Vance später.

      Während dieses entscheidenden dritten Highschooljahrs wandelte sich Kurt auch äußerlich von einem, der allgemein als „süß“ beschrieben wurde, hin zu einem Erscheinungsbild, das einige seiner Weatherwax-Klassenkameraden als „unheimlich“ bezeichneten. Er ließ sich die Haare wachsen und wusch sie kaum noch. Seine Izod-Shirts und die Rugbypullis waren verschwunden, er trug nur noch selbst designte T-Shirts, auf die er die Namen von Punkbands geschrie­ben hatte. Auf einem, das er oft trug, stand „Organized Confusion“, ein Slogan, den sich Kurt als Name für seine erste Band vorstellte. Obendrüber trug er einen Trenchcoat, und zwar das ganze Jahr über, an verregneten Wintertagen ebenso wie im Hochsommer bei dreiunddreißig Grad. In diesem Herbst traf ihn Andrea Vance, seine Freundin aus Monte vom Sommer, zufällig auf einer Party und erkannte ihn zunächst gar nicht. „Er hatte seinen schwarzen Trenchcoat an, hohe Tennisschuhe, und sein Haar war dunkelrot gefärbt“, erinnerte sie sich. „Er sah völlig anders aus.“

      Kurts Freundeskreis verlagerte sich langsam von den Kumpeln in Monte zu denen in Aberdeen, aber in beiden Cliquen ging es in der Hauptsache darum, sich auf die eine oder andere Weise die Birne zuzuknallen. Wenn sich nicht gerade eine elterliche Hausbar plündern ließ, heuerten sie einen der unzähligen Penner von Aberdeen an, ihnen Bier zu kaufen. Kurt, Jesse Reed, Greg Hokanson sowie Eric und Steve Shillinger kamen mit einem von ihnen regelrecht ins Geschäft, einem Original, dem sie den Spitznamen The Fat Man gaben, ein hoffnungsloser Alkoholiker, der mit seinem zurückgebliebenen Sohn Bobby im Morck Hotel, einer heruntergekommenen Pension, lebte. Der Fat Man war bereit, sie mit Alkohol zu versorgen, solange sie ihn dafür bezahlten – und solange sie ihm zum Laden halfen. Das war ein mühsames Unterfangen, das sich in der Praxis oft wie ein Buster-Keaton-Sketch ausnahm und den ganzen Tag dauern konnte. „Zuerst“, erzählte Jesse Reed, „mussten wir mal mit einem Einkaufswagen zum Morck. Dann ging’s rauf in sein Zimmer, wo wir ihn zum Aufstehen bringen mussten. Er lag da in seiner verkrusteten Unterwäsche rum, die zum Himmel stank, und alles war voller Fliegen, es war grauenhaft. Dann muss­ten wir ihm die Treppe runterhelfen, und der Typ wog wohl an die fünf Zentner! Er war viel zu fett, um zur Spirituosenhandlung laufen zu können, also hievten wir ihn auf den Wagen und schoben ihn hin. Wenn wir bloß Bier wollten, schoben wir ihn zum nächsten Lebensmittelladen, der Gott sei Dank näher war. Alles, was er dafür verlangte,


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