Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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vor die Tür gesetzt – fand der Rekrutierungsoffizier ein trauriges, gebrochenes Kind vor. Zur Überraschung aller hörte Kurt sich die Ausführungen des Mann sogar an. Am Ende des Abends meinte Kurt, sehr zur Erleichterung seines Vaters, er würde es sich überlegen. Für Kurt hörte sich der Militärdienst wie die Hölle an, aber es war eine Hölle mit einer anderen Postleitzahl. Zu Jesse Reed bemerkte er: „Wenigs­tens geben sie dir bei der Navy drei warme Mahlzeiten und eine Pritsche.“ Für einen Jungen, der auf der Straße gelebt und im Wartesaal eines Kranken­hauses genächtigt hatte, erschien die Vorstellung von Sicherheit und regelmäßiger Verpflegung ohne elterliche Störfaktoren durchaus attraktiv. Aber als Don ihn zu überreden versuchte, den Mann von der Marine am nächsten Tag gleich noch einmal einzuladen, sagte Kurt, er solle die Sache vergessen.

      Verzweifelt auf der Suche nach Halt, wie er war, entdeckte er schließlich die Religion. Er und Jesse waren im Lauf des Jahres 1984 unzertrennlich geworden, und dazu gehörte, dass die beiden zusammen in die Kirche gingen. Jesses Eltern, Ethel und Dave Reed, waren Born Again Christians, die Familie besuchte die Central Park Baptist Church, die auf halbem Weg zwischen Monte und Aberdeen lag. Kurt begann regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst zu erscheinen und ließ sich sogar hin und wieder am Mittwochabend bei der Jugendgruppe der Kirche bli­cken. Im Oktober ließ er sich in der Kirche taufen, eine Zeremonie, zu der nicht einer aus seiner Familie auftauchte. Laut Jesse hatte Kurt sogar eine für Konvertiten typische spirituelle Gotteserfahrung. „Eines Abends, wir gingen grade über die Brücke am Chehalis River, blieb er plötzlich stehen und sagte, er sei bereit, Jesus in sein Leben aufzunehmen. Er bat Gott, ‚in sein Leben zu treten‘. Ich erinnere mich noch genau, dass er über die Offenbarungen sprach und die Ruhe, von der jeder erzählte, der Jesus akzeptiert hat.“ Während der nächsten Wochen nahm Kurt den Predigerton eines wiedergeborenen Christen an. So begann er etwa Jesse zu tadeln, weil der Pot rauchte, die Bibel missachte und überhaupt ein lausiger Christ sei. Kurts Konversion fiel mit einer seiner drogenfreien Perioden zusammen; in der Geschichte seines Drogenkonsums wechselten einander Exzesse immer wieder mit Fastenperioden ab. Im selben Monat schrieb er seiner Tante Mari einen Brief, in dem er ihr seine Ansichten über Marihuana kundtat:

      Ich habe gerade auf MTV Reefer Madness gesehen … Der Film stammt aus den Dreißigerjahren, und wenn die Leute auch nur einen Zug von der Teufelsdroge nahmen, flippten sie total aus, brachten einander um, hatten Affären, überfuhren mit dem Auto Unschuldige. Ein Teenager, der ein bisschen wie Beaver aus der Fernsehserie Leave it to the Beaver (Mein lieber Biber) aussah, musste wegen Mordes ins Gefängnis. Wow, das ist echt mehr, als ich vertrage. Ich meine, das Ganze war schon ziemlich übertrieben. Aber ich akzeptiere den Gedanken dahinter. Pot ist Scheiße. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, weil ich selbst eine Zeit lang fast so lethargisch war wie verschimmelter Käse. Ich glaube, das war wohl ein großes Problem zwischen Mom und mir.

      Aber kaum hatte er den Brief abgeschickt und sich in seinem neuen Leben als Kirchenmitglied eingerichtet, ließ Kurt den Glauben auch schon wieder fallen wie eine Hose, die ihm zu klein geworden war. „Er war hungrig darauf gewesen“, sagte Jesse, „aber es war eine Übergangsperiode, er hatte nur einfach Angst.“ Als die Angst sich wieder legte, begann Kurt auch wieder Pot zu rauchen. Er ging zwar noch drei weitere Monate zur Messe, aber was er sagte, erzählte Jesse, „richtete sich immer mehr gegen Gott. Und dann war er plötzlich auf einem richtigen Anti-Gott-Trip.“

      Jesses Eltern mochten Kurt gut leiden, und da er ohnehin schon so oft bei ihnen zuhause war, schlugen sie vor, er solle doch gleich zu ihnen ziehen. Sie wohnten auf dem Land, in North River, etwa vierzehn Meilen außerhalb von Aberdeen. Zu dieser Zeit schienen sich die beiden Jungs gegenseitig etwas geben zu können, was im Leben des jeweils anderen fehlte. Die Reeds diskutierten die Möglichkeit, Kurt könnte nach North River ziehen, und Don, Wendy und Jenny waren sich einig, es sei einen Versuch wert. Wendy sagte den Reeds, sie sei „mit ihrer Weisheit am Ende“, bei Don und Jenny hörte sich das sehr ähnlich an. „Dave Reed kam bei uns vorbei“, erinnerte sich Jenny, „und sagte, er könnte etwas für den Jungen tun. Die Reeds waren gläubige Leute, und Dave meinte, ihm die Disziplin geben zu können, die er sonst nirgendwo fand.“ Und Ethel Reed erklärte: „Wir hatten Kurt wirklich gern. Er war ein so netter Junge, er wirkte nur einfach so verloren.“ Im September packte Kurt wieder einmal seine Siebensachen, diesmal in einen Matchsack, und zog nach North River.

      Die Reeds wohnten in einem Haus mit gut dreihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche, und die Jungs konnten in dem riesigen Obergeschoss praktisch tun und lassen, was sie wollten. Das Beste an dem Haus war seine Abgeschiedenheit – sie konnten ihre E-Gitarren bis zum Anschlag aufdrehen. Und sie spielten den ganzen Tag. Obwohl Dave Reed ein Jugendberater bei der Christian Youth war und mit seinem Schnurrbart und dem kurzen Haar ein bisschen wie Ned Flanders, der gottesfürchtige Nachbar aus Die Simpsons, aussah, war er beileibe kein Spießer. Reed hatte selbst zwanzig Jahre Rock ’n’ Roll gemacht und mit Kurts Onkel Chuck bei den Beachcombers gespielt, war also auch kein Unbekannter bei den Cobains. Das ganze Haus war voll gestopft mit Gitarren, Verstärkern und Platten. Dazu waren die Reeds auch weit weniger streng als Don. Sie ließen Kurt mit Buzz und Lukin nach Seattle fahren, um Black Flag, die richtungsweisende Punkband um Henry Rollins, zu hören. The Rocket kürte das Konzert zum zweitbesten des Jahres 1984, aber für Kurt kam ihm nur der Auftritt der Melvins auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt gleich. In jedem seiner späteren Interviews behauptete er, dies sei das erste Konzert seines Lebens gewesen.

      Im Haus der Reeds jammte Kurt denn auch zum ersten Mal mit Krist Novoselic. Novoselic war zwei Jahre älter als Kurt und rund um die Bucht von Grays Harbor praktisch nicht zu übersehen: Knappe zwei Meter groß, erinnerte er an den jungen Abraham Lincoln. Krist war kroatischer Abstammung und kam aus einer ebenfalls durch Scheidung zerrütteten Familie, die mindestens so kaputt war wie die von Kurt (in Aberdeen kannte man Krist als „Chris“, aber 1992 änderte er die Schreibweise seines Vornamens in die ursprüngliche kroatische Form).

      Kurt kannte Krist von der Highschool und aus dem Übungsraum der Melvins, aber ihr Lebensweg hatte sich auch noch woanders gekreuzt, auch wenn sie davon nie wieder sprechen sollten, nämlich in der Central Park Baptist Church. Wenn Krist auch aus anderen Gründen in die Kirche gegangen war – selbst die Älteren wie Mr. Reed wussten, dass Krist „bloß wegen der Mädchen“ kam. Jesse jedenfalls lud Krist eines Nachmittags zu sich nachhause ein, und die drei jammten miteinander. Krist spielte damals wie Jesse und Kurt Gitarre, sodass sich ihre Session ein bisschen nach Wayne’s World anhörte, als sie ihre Jimmy-Page-Imitationen abzogen. Krist und Jesse tauschten zwischendurch für eine Weile die Gitarren, Linkshänder Kurt blieb bei seiner eigenen. Auch einige von Kurts eigenen Songs probierten sie mit ihrer Drei-Gitarren-Gewitter-Besetzung aus.

      Nachdem Kurt bei den Reeds eingezogen war, unternahm er mehrere Anläufe, noch einmal auf die Highschool zu gehen. Er hinkte in Weatherwax allerdings bereits derart hinterher, dass er den Abschluss unmöglich zusammen mit seinem Jahrgang hätte machen können. Seinen Freunden sagte Kurt, er überlege, auf zurückgeblieben zu machen, um in die Klasse für Sonderschüler zu kommen. Jesse zog Kurt auf und gab ihm seiner schlechten Noten wegen den Spitznamen „Slow Brain“. Das einzige Schulfach, bei dem er wirklich mitmachte, war Kunsterziehung; sie war das einzige Gebiet, auf dem er sich nicht inkompetent vorkam. 1985 reichte er eines seiner Projekte aus dem Kunstunterricht zur Regional High School Art Show ein, einer Ausstellung, bei der Kunstwerke aus allen Highschools der Gegend zu sehen waren, und seine Arbeit wurde in die ständige Sammlung des Bezirksschulamts aufgenommen. Mr. Hun­ter sagte Kurt, wenn er sich anstrenge, bekäme er womöglich ein Stipendium für eine Akademie. Ein Stipendium setzte allerdings, wie das College, einen Highschoolabschluss voraus, eine Möglichkeit, die Kurt längst nicht mehr sah, es sei denn, er hängte noch ein Jahr dran. Später behauptete er fälschlicherweise, man habe ihm mehrere Stipendien angeboten. Schließlich ging Kurt von der Schule ab, schrieb sich aber in Aberdeens alternativer Continuation High School ein. Der Lehrplan dort ähnelte dem von Weatherwax, nur gab es keine formellen Klassen; die Schüler erhielten von den Lehrern Einzelunterricht. Mike Poitras war etwa eine Woche lang Kurts Tutor, aber der blieb nicht lange genug bei der Sache, um auch nur über die Orientierungsphase hinauszukommen. Nach zwei Wochen schmiss Kurt auch die Schule für Drop-outs.

      Nachdem klar war, dass Kurt das Kapitel Schule abgeschlossen hatte, besorgte Dave Reed ihm einen Job im Lamplighter


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