Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
kann, wurden, ohne es zu wissen, zum Thema von Kurts ersten Geschichten. Er schrieb Kurzgeschichten über die beiden, verarbeitete ihre Abenteuer zu imaginären Songs und machte Zeichnungen von ihnen in sein Tagebuch. Seine Bleistiftzeichnungen von Fat Man sahen aus wie Ignaz J. Reilly, der Antiheld aus John Kennedy Tooles Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten. Kurt hatte Spaß dran, Bobbys piepsige Stimme zu imitieren, und erntete damit bei seinen Freunden schallendes Gelächter. Seine Beziehung zum Fat Man und zu Bobby war jedoch nicht ohne eine gewisse Zuneigung; er hatte durchaus Mitgefühl für die beiden und ihre scheinbar hoffnungslose Situation. Zu Weihnachten kaufte Kurt dem Fat Man bei Goodwill einen gebrauchten Toaster und ein John-Denver-Album aus zweiter Hand. „Für mich?“, fragte der Fat Man fassungslos, als er die Geschenke in seinen Pranken hielt. Dann begann er zu weinen. Die nächsten Jahre erzählte er in ganz Aberdeen herum, was für ein prima Kerl dieser Kurt Cobain doch sei. Diese Episode ist ein kleines Beispiel dafür, wie zuweilen selbst in Kurts Schattenwelt Liebenswürdigkeit gedieh.
Vom Fat Man regelmäßig mit Nachschub versorgt, soff Kurt in diesem Frühjahr immer mehr Alkohol, was nicht zuletzt den Konflikt mit seiner Mutter verschärfte. Ihre Auseinandersetzungen waren umso schlimmer, wenn Kurt bekifft oder auf LSD war, was ihm fast schon zur Gewohnheit geworden war. Greg Hokanson erinnerte sich, wie er mit Jesse Reed zu Kurt nachhause kam, wo sie Wendy dann eine Stunde auf Kurt einschreien hörten, der derart auf Trip war, dass ihr Gezeter gar nicht zu ihm durchdrang. „Wendy war furchtbar zu ihm“, sagte Hokanson. „Er hat sie gehasst.“ Sobald es ihnen irgendwie möglich war, verdrückten sie sich und kletterten auf den Wasserturm am Think of Me Hill. Jesse und Hokanson stiegen die Leiter bis ganz nach oben, aber Kurt konnte auf halber Strecke nicht mehr weiter. „Er hatte Angst“, erinnerte sich Hokanson. Kurt schaffte es nie bis ganz hinauf.
Trevor Briggs erinnerte sich an einen Besuch bei den Cobains, bei dem sich die Schlacht zwischen Kurt und Wendy über den ganzen Abend hinzog: „Ich glaube, sie war angetrunken, jedenfalls kam sie irgendwann rauf in sein Zimmer. Sie wollte einen draufmachen und mit uns Party machen, was ihm gewaltig stank, er wurde sauer. Und sie: ‚Kurt, wenn du nicht aufpasst, dann sag ich deinen Freunden hier, was du mir erzählt hast.‘ Er schrie zurück: ‚Wovon redest du eigentlich?‘ Irgendwann ging sie dann wieder. Ich fragte ihn, was sie gemeint hatte. Er sagte: ‚Na ja, ich hab mal eine Bemerkung gemacht von wegen bloß weil einem Typ ein paar Haare auf dem Sack wachsen, heißt das noch lange nicht, dass er ein Mann ist oder erwachsen.‘“ Dieses Thema, Haare am Hodensack, war für den jungen Kurt eine Angelegenheit von höchster Peinlichkeit, weil bei ihm die Schambehaarung erst viel später zu wachsen begann als bei den meisten anderen Jungs. Wie besessen inspizierte er jeden Tag sein kahles Skrotum nach sprießenden Haaren, alle seine Freunde waren ihm weit voraus. Schamhaare waren denn auch ein immer wiederkehrendes Thema in seinem Tagebuch. „Noch immer nicht genug Schamhaare“, schrieb er. „Jahre verloren, Ideale gewonnen. Noch immer unterentwickelt. Weit über die Zeit hinaus, in denen man mit den Schamhaaren zu spät dran ist.“ Zum Sportunterricht zog er sich lieber in einer Duschkabine um, als sich in der Garderobe den inspizierenden Blicken der anderen Jungs auszusetzen. Mit sechzehn schließlich begannen ihm Schamhaare zu wachsen, aber da sie fast blond waren, waren sie trotzdem nicht so deutlich zu sehen wie bei den anderen Jungs.
Um die Zeit, als Kurt siebzehn wurde, begann Wendy ein Verhältnis mit Pat O’Connor. O’Connor war in ihrem Alter und verdiente als Hafenarbeiter zweiundfünfzigtausend Dollar im Jahr. Über sein Einkommen wusste man deshalb Bescheid, weil er in Washington einer der ersten Männer war, die von einer ehemaligen Lebensgefährtin auf Unterhalt verklagt wurden, ohne mit ihr verheiratet gewesen zu sein. Seine Ex reichte die Klage ein, kurz nachdem er sich mit Wendy eingelassen hatte. Er habe sie, so warf sie ihm vor, dazu überredet, ihren Job in einem nahe gelegenen Atomkraftwerk zu kündigen, und sie dann wegen Wendy sitzen lassen. Es war ein unappetitlicher Prozess, der sich über zwei Jahre hinzog. Die gerichtlich bestellte Auflistung seiner Habe umfasste ein kleines Haus, einige tausend Dollar Ersparnisse und einen Waffenschrank mit drei Gewehren – die auf merkwürdige Weise noch eine Rolle in Kurts Karriere spielen sollten. Pats Ex gewann den Prozess und bekam zweitausendfünfhundert Dollar in bar, ein Auto und die Anwaltskosten zugesprochen, die Pat übernehmen musste.
In diesem Winter zog er bei Wendy ein. Keines der Kinder konnte mit O’Connor etwas anfangen, Kurt entwickelte eine tiefe Abneigung gegen den Mann. Wie schon seinen leiblichen Vater und Frank Franich zog Kurt Pat in vielen seiner Songs und Cartoons durch den Kakao. Und fast vom ersten Tag an stritt sich Wendy mit Pat mit einer Heftigkeit, gegen die sich ihr Krieg mit Don harmlos ausnahm.
Eine dieser Auseinandersetzungen lieferte einen Eckpfeiler von Kurts ganz persönlicher musikalischer Mythologie. Nach einem lautstarken Streit zog Wendy los, um nach Pat zu suchen, und erwischte ihn laut Kim dabei, wie „er sie betrog. Er war betrunken, wie üblich.“ Wendy stürmte wutschnaubend nachhause und murmelte etwas davon, sie werde Pat noch umbringen. Da ihr diese Vorstellung Angst machte, ließ sie Kim die Waffen ihres Liebhabers in eine große Plastiktasche packen. Als Pat nachhause kam, erklärte Wendy, sie werde ihn umbringen. Kurt behauptete in seiner Version der Geschichte, Wendy habe Pat erschießen wollen, sei aber nicht dahinter gekommen, wie man die Gewehre lud. Seine Schwester erinnert sich daran nicht. Als Pat wieder weg war, schleppten Wendy und Kim die Tasche mit den Waffen die zwei Blocks zum Ufer des Wishkah River, wobei Wendy immer wieder vor sich hin murmelte: „Ich muss die Dinger loswerden, sonst knall ich ihn eines Tages noch ab.“ Sie warf sie ins Wasser.
Während Pat und Wendy sich am nächsten Morgen wieder versöhnten, quetschte Kurt Kim über die Stelle aus, wo sie die Waffen versenkt hatten. Nachdem seine dreizehnjährige Schwester ihm gezeigt hatte, wo, fischten Kurt und zwei Freunde die Gewehre heraus. Kurt erzählte später, er habe die Gewehre gegen seine erste Gitarre eingetauscht, obwohl er natürlich bereits seit seinem vierzehnten Geburtstag eine hatte. Aber Kurt war der Letzte, der sich eine gute Story durch die Wahrheit verderben ließ; dass er die Gewehre seines Stiefvaters versetzt haben sollte, um sich von dem Geld seine erste Gitarre zu kaufen, klang für den Geschichtenerzähler in ihm einfach viel zu gut, um es nicht weiterzuerzählen. In dieser einen Geschichte finden sich alle Elemente dessen, wie er als Künstler gesehen werden wollte: als einer, der Redneck-Schwerter zu Punkrock-Pflugscharen umschmiedete. In Wahrheit versetzte er die Gewehre zwar tatsächlich, kaufte sich von dem Erlös aber keine Gitarre, sondern einen Fender-„Deluxe“-Verstärker.
Die „Waffen im Fluss“-Episode war nur eine von vielen im Kleinkrieg zwischen Wendy und Pat. Kurts Methode, diesen Streitereien aus dem Weg zu gehen – oder gar deren Anlass zu sein, denn nichts tat Pat lieber, als Wendy Vorträge über die Erziehung ihres missratenen Sohnes zu halten –, bestand darin, sich von der Haustür aus auf direktem Weg sofort auf sein Zimmer zu begeben. Das war zwar relativ normal für einen Teenager, nur betrat und verließ Kurt das Haus regelrecht im Laufschritt. Wenn er wirklich einmal für einen Überfall auf den Kühlschrank oder um zu telefonieren aus seinem Reich auftauchen musste, timte er diese Ausfälle so, dass er dabei Pat nicht über den Weg lief. Sein Zimmer wurde seine Zufluchtsstätte, und seine Tagebuchbeschreibung eines Kurzbesuchs zuhause Jahre später ist aufgeladen mit starken sowohl emotionalen als auch physischen Eindrücken:
Jedes Mal, wenn ich nachhause komme, habe ich dasselbe Déjà-vu-Erlebnis, Erinnerungen, bei denen es mir kalt über den Rücken läuft, totale Depression, totaler Hass, Vorwürfe, die einem monatelang nachgetragen wurden, alte Ordner voller Zeichnungen von Rocktypen mit Gitarren, Monstern und Sprüchen auf dem Umschlag wie „This Bud’s for you“ oder „Get high“, ausgefeilte Skizzen von Bongs, Variationen der schweinischen Wortspiele über die fröhliche kleine Tennisspielerin. Sehe mich um, sehe ich die Iron-Maiden-Poster mit den zerrissenen, durchlöcherten Ecken, die Nägel in den Wänden, an denen noch immer die Caps mit den Traktoren drauf hängen. Die Scharten im Tisch kommen von fünf Jahren „Quarter Bounce“-Trinkspiel. Der Teppich fleckig von all den dösig umgestoßenen Bongs und Spucknäpfen. Ich sehe mich um und sehe diesen ganzen verdammten Scheißkram, und nichts erinnert mich mehr an meine nichtsnutzige Jugend, als jedes Mal beim Reingehen mit dem Finger über die Decke zu fahren und die klebrigen Ablagerungen von Pot- und Zigarettenrauch zu spüren.
Im Frühjahr 1984 erreichten Kurts Konflikte mit den Erwachsenen im Haus den Siedepunkt. Genauso, wie er sich an dem Wunsch seines Vaters gestoßen hatte,