Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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also außerhalb der Saison, sodass im Restaurant kaum Betrieb herrschte, was Kurt nur recht war.

      Es waren die Beziehungen zu Dave Reed sowie Onkel Chuck und Tante Mari, durch die Kurt überhaupt erst auf den Gedanken kam, eines Tages vielleicht eine Zukunft in der Musikbranche haben zu können. Dave und Chuck hatten in ihrer Jugend eine Single mit den Beachcombers aufgenommen: „Purple Peanuts“, die Rückseite hieß „The Wheelie“; die Single gehörte mit zum Kostbarsten, was es im Haus der Reeds gab. Bei Kurt und Jesse lief die Platte pausen­los, und sie spielten sie auf ihren Gitarren nach. Kurt schrieb aber auch selbst flei­ßig Songs; er hatte bereits mehrere Ordner voller Texte mit Titeln wie „Wat­tage In The Cottage“ und „Samurai Sabotage“. Auch über Mr. Reed hatte er einen Song geschrieben: „Diamond Dave“. Und dann hatte er noch einen, in dem er sich über einen Klassenkameraden aus Aberdeen lustig machte, der Selbstmord begangen hatte. Der Junge hieß Beau und der Song, eine Country & Western-Nummer, trug den Titel „Ode To Beau“.

      Ein Mitglied der ehemaligen Beachcombers arbeitete mittlerweile in der Promotionabteilung bei Capitol Records in Seattle, und als Kurt das erfuhr, klammerte er sich an dieses Wissen wie an einen Rettungsring. Ständig setzte er Dave zu, ob er ihn dem Mann vorstellen könne; er wusste damals noch nicht, dass Promotionleute keine Talentsucher waren. „Kurt wollte ihn unbedingt kennen lernen, weil er dachte, er könnte ihm zu einer Karriere verhelfen“, erinnerte sich Jesse. Es waren dies die ersten Ansätze von Kurt Cobain, dem Berufsmusiker, und das ständige Drängen, dem Mann vorgestellt zu werden – wozu es übrigens nie kommen sollte –, belegt, dass sich Kurt bereits als Siebzehnjähriger eine Laufbahn als Musiker vorstellen konnte. Hätte Kurt seine Ambitionen in Richtung Major-Label im Proberaum der Melvins erwähnt, wäre er als Ketzer gebrandmarkt worden. Also behielt er sie für sich, hielt aber trotzdem ständig die Augen nach einer Möglichkeit offen, seiner Situation zu entfliehen.

      Das Leben bei den Reeds war für Kurt beinahe so, als hätte er die Familie zurück, die er mit der Scheidung seiner Eltern verloren hatte. Die Reeds aßen gemeinsam zu Abend, gingen zusammen in die Kirche, die musikalischen Talente der Jungen wurden gefördert. Es war offensichtlich, dass die Zuneigung, ja die Liebe zwischen den Familienmitgliedern echt war, und man nahm Kurt da nicht aus. Als Kurt im Februar 1985 achtzehn wurde, gaben die Reeds eine Geburtstagsparty für ihn. Seine Tante Mari schickte ihm zwei Bücher: die Led-Zeppelin-Biografie Hammer of the Gods und einen Band mit Illustrationen von Norman Rockwell. In einem Dankesbrief an seine Tante schilderte Kurt ihr die Party: „Sämtliche Kids aus der Kirchengruppe kamen rüber, alle brachten Kuchen für mich und Jesse, dann spielten wir irgendwelche dussligen Spiele, und Pastor Lloyd sang ein paar Lieder (er sieht übrigens genau wie Mr. Rogers aus Mr. Rogers’ Neighborhood [einer amerikanischen TV-Kinderserie, die seit 1963 gesendet wird] aus). Aber es ist schön zu sehen, dass den Leuten was an einem liegt.“

      Aber noch nicht einmal mit Pastor Lloyd, einer Ersatzfamilie wie den Reeds und einer Jugendgruppe im Rücken konnte Kurt sich von dem Gefühl befreien, von seiner eigenen zerrissenen Familie ausgesetzt worden zu sein. „Er war recht hart gegen sich“, bemerkte Dave Reed. Obwohl Kurt kaum noch Kontakt zu seiner Mutter hatte, hielt Dave Reed sie Monat für Monat auf dem Laufenden. Im August 1984 hatte sie Pat O’Connor geheiratet, und schon im Frühjahr darauf war sie schwanger. Während ihrer Schwangerschaft schaute Kurt einmal bei ihr vorbei, und als Wendy sah, wie verloren er wirkte, brach sie in Tränen aus. Kurt ging auf die Knie, nahm seine Mutter in die Arme und sagte ihr, es gehe ihm gut.

      Und das stimmte durchaus, wenigstens für den Augenblick, aber dann stand auch bereits die nächste Krise ins Haus. Im März 1985 schnitt Kurt sich beim Geschirrspülen im Restaurant in den Finger und schmiss den Job in einem Anfall von Panik hin. „Er musste genäht werden“, erinnerte sich Jesse, „und mir hat er gesagt, wenn er seinen Finger verliert und nicht mehr Gitarre spielen kann, dann bringt er sich um.“ Ohne Job und mit einer Verletzung, mit der er die Gitarre nicht halten konnte, igelte sich Kurt im Haus ein. Er überredete Jesse, die Schule zu schwänzen, und die beiden hockten den lieben langen Tag zuhause, nahmen Drogen und soffen sich zu. „Er hat sich mehr und mehr zurückgezogen“, erinnerte sich Ethel Reed. „Wir versuchten ihn dazu zu bekommen, mehr aus sich rauszugehen, aber es gelang uns einfach nicht. Mit der Zeit wurde uns klar, dass wir ihm nicht wirklich halfen, sondern ihm vielmehr einen Ort boten, an dem er sich noch mehr vor den Leuten verkriechen konnte.“

      Zur endgültigen Entfremdung zwischen Kurt und der Familie kam es, als er eines Nachmittags im April seine Schlüssel vergaß und ein Fenster eintrat, um ins Haus zu kommen. Das war der sprichwörtlich letzte Tropfen für die Reeds, und sie erklärten ihm, er müsse anderswo unterkommen. Es war ein verregneter April in Grays Harbor, und während die meisten jungen Leute seines Alters damit beschäftigt waren, sich auf den Schulball oder die Abschluss­prüfung vorzubereiten, machte Kurt sich wieder einmal auf die Suche nach einem Unterschlupf.

      Wieder auf der Straße, fügte sich Kurt neuerlich in sein nomadisches Leben mit Übernachtungen in Garagen von Freunden und fremden Hausfluren. In seiner Verzweiflung wandte er sich schließlich an das staatliche Wohlfahrtsamt und bekam pro Monat Lebensmittelmarken im Wert von vierzig Dollar zugesprochen. Über das Arbeitsamt fand er zum 1. Mai eine Stellung beim CVJM. Es war nur ein Teilzeitjob, der mit einem Zuschuss der örtlichen Youth-Work-Zweigstelle finanziert wurde, aber Kurt sollte diese kurze Anstellung später als seinen liebsten Job bezeichnen. Im Grunde war es nur ein besserer Hausmeisterjob, aber wenn einer der anderen dort krank war, sprang er auch als Bademeis­ter oder Sportinstruktor ein. Kurt jedenfalls gefiel der Job, vor allem die Arbeit mit Kindern. Obwohl er kein sonderlich guter Schwimmer war, sprang er besonders gern als Bademeister ein. Kevin Shillinger, der nur einen Block vom CVJM entfernt wohnte, beobachtete Kurt einmal dabei, wie er einer Gruppe von Fünf- und Sechsjährigen T-Ball, ein Spiel, das dem Baseball nicht unähnlich ist, bei dem der Ball jedoch auf einen Pfahl gelegt und von dort geschlagen und nicht geworfen wird, beibrachte – während der ganzen Stunde strahlte er nur so. In der Arbeit mit Kindern fand er endlich das Selbstwertgefühl, das ihm in anderen Lebensbereichen abging. Er kam mit Kindern gut zurecht, und sie beurteilten ihn nicht.

      Er nahm einen zweiten Teilzeitjob an, den er jedoch auch später nur selten erwähnte: einen Posten als Hausmeistergehilfe an der Weatherwax High School. Jeden Abend schlüpfte er in einen braunen Overall und schob einen Wischmopp durch die Flure der Schule, aus der er ausgetreten war. Obwohl das Schuljahr fast vorbei war, als er seine Stellung antrat, ließ ihn der Kontrast zwischen seinen Altersgenossen, die sich aufs College vorbereiteten, und seiner Situation seine vermeintliche Minderwertigkeit mehr spüren denn je. Er hielt es zwei Monate aus, bevor er aufhörte.

      Nachdem Kurt den Haushalt der Reeds verlassen hatte, ging auch Jesse von zuhause weg. Eine Weile wohnten die beiden bei Jesses Großeltern in Aberdeen. Am 1. Juni 1985 schließlich zogen sie in ein Apartment in der North Michigan Street 404. Die winzige Einzimmerwohnung für einhundert Dollar im Monat, deren rosa Anstrich ihr den Spitznamen „das rosa Apartment“ einbrachte, war ein Loch, aber es war ihr Loch. Die Wohnung war spärlich möbliert, eine Einrichtung, die sie durch Kram wie Dreiräder und Liegestühle ergänzten, die sie aus den Gärten in der Nachbarschaft stahlen. Zur Straße hinaus hatten sie ein Panoramafenster, das Kurt zu seiner öffentlichen Leinwand erklärte: mit Seife schrieb er „666“ und „Satan regiert“ auf die Scheiben. Von einer Henkersschlinge hing eine mit Rasiergel der Marke Edge eingeschmierte Gummipuppe. Das Edge-Gel war überall in der Wohnung. In der Nachbarschaft waren kostenlose Proben verteilt worden, und Kurt und Jesse hatten herausgefunden, dass man das Gas aus den Dosen saugen und darauf high werden konnte. Eines Tages – sie hatten LSD eingeworfen – klopfte ein Sheriff des Grays Harbor County an die Tür und wies sie an, die Puppe aus dem Fenster zu nehmen. Glücklicherweise kam der Polizist nicht in die Wohnung: Er hätte nicht nur das verkrustete Geschirr der letzten drei Wochen in der Spüle gefunden, sondern auch zahlreiche geklaute Gartenmöbel, Rasiergel überall an den Wänden und die Beute ihres neuesten Zeitvertreibs, von den Grabsteinen auf dem Friedhof Kreuze zu klauen und sie mit lustigen Tupfenmustern zu bemalen.

      Der Kurzbesuch des Deputys sollte im Sommer 1985 jedoch nicht Kurts einzige Begegnung mit der Polizei bleiben. Wie Werwölfe warteten Kurt, Jesse und ihre Kumpel jeden Abend auf den Einbruch der Dunkelheit und machten sich dann auf ihre Randalezüge durch das Viertel, wobei sie Gartenmöbel stahlen


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