Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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war die Vogel-Lady. Sie leitete in Aberdeen eine Organisation zur Rettung von Wildvögeln, aber für gewöhnlich riefen die Leute an, wenn es um einen verletzten Vogel ging. Noch nie war jemand einfach bei ihr zuhause aufgetaucht, schon gar nicht zwei bekiffte Teenager.

      Kurt sagte, er habe die Taube unter der Young Street Bridge gefunden, und sie seien eine Viertelstunde gelaufen, um ihr den Vogel zu bringen. Woher die beiden wussten, dass sie die Vogel-Lady war, erfuhr Richrod nie. Auf jeden Fall sahen die Besucher aufmerksam zu, als sie das Tier zu versorgen begann. Auf dem Weg durchs Haus sahen sie eine Gitarre, die Richrods Mann gehörte, und Kurt hatte sie sofort in der Hand und begutachtete sie: „Eine alte Les Paul. Eine Kopie, aber eine sehr frühe Kopie.“ Er bot an, sie zu kaufen, aber Richrod sagte, sie sei nicht zu verkaufen. Einen Moment lang überlegte sie, ob die Jungs versuchen würden, sie zu stehlen.

      Aber die interessierten sich für nichts weiter, als dass der kleine Vogel versorgt wurde. In der Küche sahen sie zu, wie Richrod vorsichtig den Flügel des Tiers bewegte, um festzustellen, wie schlimm er gebrochen war. „Er ist verletzt, oder?“, fragte Kurt. Richrod hatte zwei Nachtfalken in der Küche, die beiden einzigen Exemplare dieser Spezies, die es in Gefangenschaft gab, und sie erzählte den Jungs, die beiden Vögel hätten sogar schon in der Zeitung gestanden, in einer Titelgeschichte der Aberdeen Daily World.

      „Ich spiele in einer Band“, erwiderte Kurt, so beiläufig, als sei das ohnehin allgemein bekannt. „Aber noch nicht mal ich komme auf die Titelseite der Daily World. Diese Vögel sind mir echt weit voraus.“

      –6–

      HABE IHN NICHT GENUNG GELIEBT

      Aberdeen, Washington, September 1986 bis März 1987

      Offensichtlich habe ich ihn nicht genug geliebt, nicht so wie jetzt.

      – Tagebucheintrag von 1987.

      Am 1. September 1986 lieh Wendy ihrem Sohn zweihundert Dollar für ­Kaution und erste Monatsmiete, und Kurt zog in sein erstes „Haus“. Das Gebäude Nummer 1000½ in der East Second Street in Aberdeen ein Haus zu nennen ist ausgesprochen schmeichelhaft. Es war eine Hütte, die in manch anderer Gemeinde für unbewohnbar erklärt worden wäre. Das Dach war am Verrotten, die Dielen auf der Veranda nach vorn hinaus durchgebrochen, es gab weder einen Kühlschrank noch einen Herd. Trotz seiner kleinen Wohnfläche war es bizarrerweise in fünf winzige Räume aufgeteilt: zwei Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, ein Klo. Das Häuschen stand im Hinterhof eines anderen Hauses, daher die merkwürdige Hausnummer.

      Trotzdem, die Lage dieser Bude – zwei Blocks vom Haus seiner Mutter entfernt – war ideal für den Neunzehnjährigen, der sich noch immer nicht ganz von Wendys psychischer Fuchtel losgelöst hatte. Ihre Beziehung hatte sich während des letzten Jahres etwas gebessert. Seit Kurt aus dem Haus war, kamen sie einander gefühlsmäßig wieder etwas näher. Er brauchte nach wie vor Wendys Anerkennung und Aufmerksamkeit, ließ sie diese Schwäche aber nicht wissen. Sie brachte ihm gelegentlich etwas zu essen, und er konnte bei ihr seine Wäsche waschen, telefonieren oder auch mal an den Kühlschrank gehen, vorausgesetzt, sein Stiefvater war nicht im Haus. Kurts Hütte stand in der Nähe der Heils­armee und hinter einem Lebensmittelgeschäft. Da er im Haus keinen Kühlschrank hatte, verstaute Kurt sein Bier in einer Eisbox auf der hinteren Veranda – jedenfalls, bis die Nachbarskids dahinter kamen.

      Als Mitbewohner suchte Kurt sich Matt Lukin von den Melvins. Kurt wäre immer gern Mitglied der Melvins gewesen – näher, als mit Lukin zusammenzuwohnen, kam er diesem Ziel nicht. Kurts wesentlicher Beitrag zur Gestaltung des Hauses war eine Badewanne voller Schildkröten mitten im Wohnzimmer, für die er ein Loch in den Fußboden bohrte, damit der Dreck, den sie produzieren, unter die Dielen abfließen konnte. Lukin dagegen nutzte seine handwerklichen Fähigkeiten wenigstens dazu, die Wände ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Dazu brachte er den Bonus mit, dass er bereits einundzwanzig war und somit Bier kaufen konnte. Der Fat Man war bald nur noch eine ferne Erinnerung.

      Das Haus war sowohl sturmfreie Partybude als letztlich auch schließlich ein Bandraum. Durch Lukin als Mitbewohner kamen Buzz Osborne und Dale Crover häufig zu Besuch, und da das Wohnzimmer ohnehin voller Musikgerät stand, kam es häufig zu spontanen Jams. Auch ein buntes Häuflein von „Klingonen“ ließ sich in der Hütte häuslich nieder. Auch wenn diese Freundschaften in der Hauptsache auf dem gemeinsamen Ziel bauten, sich zu besaufen, waren diese glücklichen Tage in der East Second Street 1000½ die geselligsten, die Kurt je erleben sollte. Sogar mit seinen Nachbarn freundete er sich an, zumindest mit deren Kindern, die selbst Teenager waren. Dass sie an einem fetalen Alkoholsyndrom litten, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft zu viel getrunken hatte, hielt ihn nicht davon ab, ihnen Bier zu spendieren. Ein anderer Nachbar, ein seniler alter Mann mit dem Spitznamen „Lynyrd Skynyrd Hippie“, kam jeden Tag vorbei, um sich Kurts Greatest Hits von Lynyrd Skynyrd anzuhören und dazu Schlagzeug zu spielen.

      Um die Miete aufzubringen, nahm Kurt einen Job als Hauswart im Polynesian Condominium Resort, einem Ferienkomplex im fünfundzwanzig Meilen entfernten Ocean Shores, an. Es war ein leichter Job, da er hauptsächlich für Reparaturen verantwortlich war und in der Sechsundsechzig-Zimmer-Anlage so gut wie keine Reparaturen anfielen. Als ein Job als Zimmermädchen frei wurde, empfahl er Krists Freundin Shelli. „Kurt schlief immer im Bus auf dem Weg zur Arbeit“, erinnerte sie sich. „Das Lustige an dem Job war, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, wie man Sachen reparierte. Er hat in den leer stehenden Motelzimmern geschlafen oder sich über die Kühlschränke hergemacht, wenn die Leute weg waren.“ Abgesehen von dem Anfangsgehalt von vier Dollar die Stunde hatte der Job noch den Vorteil, dass er nur ein braunes Arbeitshemd zu tragen brauchte und nicht etwa eine Uniform, wovor ihm graute.

      Seinen Freunden gegenüber prahlte er, wie kinderleicht sein Job als „Wartungsarsch“ war und dass er sich den ganzen Tag in irgendwelche Zimmer schleichen und fernsehen konnte; dass er in den Zimmern gelegentlich auch putzen musste, verschwieg er geflissentlich. Sie brauchten nicht zu wissen, dass Kurt Cobain, der so ein Weltklasseschlamper war, dass er eigentlich in eine entsprechende Hall of Fame hätte aufgenommen gehört, als Zimmermädchen arbeiten musste. Morgens im Bus zur Arbeit, für gewöhnlich gewaltig verkatert, träumte Kurt von einer Zukunft, in der keine Toiletten zu schrubben oder Betten zu machen waren.

      Ein Gedanke, der ihn mittlerweile ständig beschäftigte, war die Gründung einer eigenen Band. Er drehte sich ein einem fort in seinem Kopf, und Kurt grübelte Stunden und Stunden darüber nach, wie er es anstellen sollte. Buzz hatte es getan – und wenn Buzz es hingekriegt hatte, dann konnte er das ja wohl auch. 1987 war er etwa ein Dutzend Mal mit den Melvins als Roadie zu Gigs in Olympia gefahren, einer Collegestadt eine Autostunde östlich von Aberdeen. Dort gab es, wie er beobachtet hatte, ein kleines, aber begeistertes Publikum für Punkrock. Einmal war er mit der Band sogar in Seattle, und obwohl er dabei Equipment schleppen und am nächsten Morgen ohne Schlaf an die Arbeit ­musste, hatte es doch den Geschmack einer größeren Welt. Roadie bei den Melvins zu sein war alles andere als ein glamouröser Job: Von Bezahlung oder Groupies konnte nicht wirklich die Rede sein, und Buzz war berüchtigt dafür, die Leute wie Dienstboten zu behandeln. Aber Kurt ließ sich das gern gefallen, solange sich etwas lernen ließ, und es entging ihm kaum etwas. Kurt arbeitete an sich und war darauf dann auch stolz, vor allem was sein Gitarrenspiel anbelangte. Wenn er Buzz seinen Verstärker auf die Bühne schleppte, stellte er sich die Szene mit vertauschten Rollen vor. Er übte jede freie Minute, und dass er immer besser wurde, gab ihm das Selbstvertrauen, das er sonst kaum irgendwo fand. Seine Hoffnungen wurden erhört, als Buzz und Dale ihn eines Tages aufforderten, mit ihnen bei der Abschiedsparty des Gessco zu jammen, eines Clubs in Olympia, der schließen musste. Obwohl nur etwa zwanzig Leute die Show sahen – auf dem Plakat wurden sie als Brown Towel angekündigt, obwohl sie sich eigentlich Brown Cow nannten –, war es für Kurt doch das erste Mal vor einem zahlenden Publikum. Kurt spielte aber nicht Gitarre, sondern las Gedichte vor, während Buzz und Dale ihre Instrumente bearbeiteten.

      Viele der selbstzerstörerischen Gewohnheiten, die er schon im rosa Apartment an den Tag gelegt hatte, waren auch in der Hütte zu beobachten. Tracy Marander, die ihn in dieser Zeit kennen gelernt hatte, erzählte, dass er damals beträchtliche Mengen LSD nahm. „Kurt warf eine Menge Acid ein, manchmal fünf Trips die Woche“, erinnerte


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