Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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waren sie doch schlicht Nonsens. Einen der Nachbarn, der ein Boot hatte, brachte er auf die Palme, indem er mit roter Farbe „Boat Ack“ und „Boat people go home!“ auf die beiden Seiten des Bootsrumpfs schrieb. Eines Abends bepinselte er eine Mauer des CVJM-Gebäudes – ein fast poetischer Zug von ausgleichender Gerechtigkeit, dass er tags darauf selbst den Auftrag bekam, die Schmierereien von der Hauswand zu entfernen.

      Am Abend des 23. Juli 1985 fuhr Detective Michael Bens Streife in der Market Street, nur einen Block von der Polizeiwache von Aberdeen entfernt, als ihm in einer Gasse drei Männer und ein blonder Junge auffielen. Die Männer flohen, als Bens’ Wagen näher kam, aber der Junge erstarrte und stand wie ein verängstigter Hase im Scheinwerferlicht da. Bens sah, wie er einen dicken Filzstift wegwarf. An der Wand hinter ihm stand das prophetische Statement: „Ain’t got no how watchamacallit“, was man ungefähr mit „Ich hab kein Wiesagtmangleichwieder“ übersetzen könnte. Typografisch war der Schriftzug ein Kunstwerk, die Buchstaben wechselten zwischen Klein- und Großschreibung, und die t waren viermal so groß wie die anderen Buchstaben.

      Plötzlich rannte der Junge los und kam zwei Blocks weit, bevor der Streifenwagen ihn einholte. Darauf blieb er stehen und ließ sich Handschellen anlegen. Als Namen nannte er „Kurt Donald Cobain“, und er war ein Musterbeispiel an Höflichkeit. Auf der Wache verfasste er eine Aussage und unterschrieb sie; sie lautete folgendermaßen:

      Heute Abend habe ich, als ich mit drei anderen hinter der SeaFirst Bank in der Gasse neben der Bibliothek stand, an die Hauswand der SeaFirst Bank geschrieben. Ich weiß nicht, warum ich es gemacht habe, aber ich habe es gemacht. Ich habe an die Wand geschrieben: „Ain’t got no how watchamacallit.“ Jetzt sehe ich ein, wie dumm es von mir war, so etwas zu machen, und es tut mir leid. Als der Polizeiwagen in die Gasse kam, habe ich ihn gesehen, und ich ließ einen roten Marker fallen, mit dem ich geschrieben hatte.

      Ihm wurden die Fingerabdrücke abgenommen, er wurde fotografiert, dann konnte er gehen, musste jedoch einige Wochen später vor Gericht erscheinen. Er wurde zu einhundertachtzig Dollar Bußgeld und einer Haftstrafe von dreißig Tagen verurteilt, die jedoch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Außerdem verwarnte man ihn, er solle sich von Ärger fern halten.

      Für den achtzehnjährigen Kurt war das leichter gesagt als getan. Eines Abends, als Jesse in der Arbeit war, kamen die üblichen „Klingonen“ vorbei, und sie begannen mit ihren Gitarren zu jammen. Einer der Nachbarn, ein großer Mann mit einem Schnurrbart, polterte an die Wand und rief, sie sollten still sein. Kurt erzählte später die Geschichte, der Nachbar hätte ihn dann stundenlang gnadenlos verprügelt, aber das war nur eine weitere von Kurts vielen Storys, nach denen Aberdeens „Rednecks“ ihn praktisch pausenlos malträtierten. „Es war ganz anders“, erinnerte sich Steve Shillinger. „Der Typ kam rüber, sagte ihm, er solle Ruhe geben, und als Kurt frech wurde, hat der Typ ihm ein paar gelangt und ihm gesagt, er solle verdammt noch mal das Maul halten.“ Jesse war, wie gesagt, an jenem Abend nicht zuhause, aber in der ganzen Zeit, die er Kurt kannte, erinnerte er sich nur an eine einzige Prügelei: „Kurt war normalerweise viel zu sehr damit beschäftigt, die Leute zum Lachen zu bringen. Ich war immer dabei, um ihn zu beschützen.“ Jesse war auch nicht größer als Kurt, aber er war kräftiger gebaut und trainierte mit Gewichten.

      Während ihrer Zeit im rosa Apartment hätte Jesse wahrscheinlich sogar für Kurt gemordet, eine Tatsache, die dieser weidlich ausnutzte. Eines Tages verkündete Kurt, sie sollten sich beide Irokesenschnitte zulegen. Sie gingen runter zu den Shillingers, Haarschneider wurden gezückt, und bald stand Jesse mit einem Irokesen da. Als Kurt dran war, sich rasieren zu lassen, erklärte er, es sei doch eine blöde Idee gewesen. „Einmal sagte Kurt, wenn er mir was auf die Stirn schreiben könnte, dann könnte ich ihm was auf die seine schreiben“, erinnerte sich Jesse. „Er nahm einen wasserfesten Filzer und schrieb mir ‚666‘ aufs Hirn, dann lief er davon. Ich war immer der Trottel, mit dem jeder seine Experimente machen konnte. Wenn es eine neue Droge gab oder ein unbekanntes Getränk, war ich immer der, der das Zeug als Erster probieren musste.“ Kurts Quälereien seinem besten Freund gegenüber hatten aber auch eine finstere Seite. Obwohl Jesse mindestens so viel Blödsinn trieb wie Kurt, hatte er in jenem Frühjahr seinen Abschluss an der Highschool geschafft. Eines Abends, als Jesse in der Arbeit bei Burger King war, riss Kurt die Bilder aus Jesses Jahrbuch, klebte sie an die Wand und malte rote Kreuze darüber. Der Ausbruch war mehr eine Zurschaustellung seines Selbsthasses als dass er etwas mit Kurts Gefühlen Jesse gegen­über zu tun hatte. Trotzdem beschloss Kurt – vielleicht in einer Welle von Scham über seinen Wutanfall –, Jesse aus der Wohnung zu werfen. Dabei interessierte ihn auch nicht, dass es Jesse war, der die Kaution für das Apartment aufgebracht hatte. Bald wohnte Jesse wieder bei seiner Großmutter, und Kurt war allein. Jesse hatte ohnehin vor, zur Marine zu gehen, und Kurt fühlte sich dadurch bedroht. Es war ein Schema, das sich bei ihm zeitlebens wiederholen sollte: Bevor er jemanden verlor, den er gern hatte, zog er sich – für gewöhnlich, indem er irgendeinen hanebüchenen Konflikt aufwarf – lieber als Erster zurück, um den Schmerz des Verlassenwerdens zu mildern.

      Allein im rosa Apartment, schrieb Kurt weiter Songs, und obwohl es sich bei den meisten davon um kaum verschleierte Geschichten über Leute und Ereignisse um ihn herum handelte, waren viele davon humorig. In diesem Sommer schrieb er einen Song mit dem Titel „Spam“ – der von eben jenem Frühstücksfleisch in Dosen handelte – und einen anderen namens „The Class of 85“, einen Angriff auf Jesse und den Schuljahrgang, der seinen Abschluss nun ohne ihn gemacht hatte. Im Text hieß es: „Wir sind alle gleich, nur Fliegen auf einem Haufen Kacke.“ Obwohl seine Songs sich um eine isolierte kleine Welt drehten, dachte Kurt bereits in großen Maßstäben. „Ich werde irgendwann noch mal eine Platte machen, die größer wird als U2 oder R.E.M.“, prahlte er Steve Shillinger gegenüber. Diese beiden Bands gefielen Kurt besonders, außerdem konnte er einem endlos darüber vorschwärmen, wie toll die Smithereens waren, obwohl er diese Einflüsse Buzz gegenüber geflissentlich verschwieg, aus Angst, gegen den Punkkodex zu verstoßen, laut dem Popmusik grundsätzlich nichts taugte. Er las jedes Fanzine und jedes Musikmagazin, das er in die Finger bekam – das waren in Aberdeen nicht eben viele –, und schrieb lange imaginäre Interviews mit sich selbst für nicht existente Magazine. Kurt und Steve dachten darüber nach, selbst ein Fanzine herauszugeben, und brachten schließlich sogar eine Nullnummer zustande. Steve stieg jedoch aus dem Projekt aus, als ihm klar wurde, dass Kurt positive Rezensionen über Platten schrieb, die er sich noch nicht einmal angehört hatte. Kurt sprach auch davon, ein eigenes Plattenlabel aufzumachen, und eines Abends nahmen er und Steve einen Freund namens Scotty Karate auf, der einen gesprochenen Monolog vortrug. Wie bei so vielen seiner Ideen in jener Zeit kam jedoch nie etwas dabei heraus.

      Es fehlte einfach das Geld, sei es für ein Fanzine oder für ein Plattenlabel, allein die Miete aufzubringen war schwierig genug. Zwei Monate nachdem Jesse ausgezogen war, wurde Kurt auf die Straße gesetzt. Sein Vermieter kam in die Wohnung, während Kurt nicht zuhause war, warf seine paar Habseligkeiten – inklusive der gestohlenen Kreuze und Dreiräder – in Kartons und stellte sie raus auf die Straße.

      Zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren stand Kurt damit ohne Dach über dem Kopf da. Einmal mehr zog er in Betracht, zur Marine zu gehen. Trevor Briggs hatte sich zum Militär gemeldet und drängte Kurt mitzumachen, sodass sie vom Buddy-System der Navy Gebrauch machen könnten, das es ihnen ermöglichen würde, wenigstens die Grundausbildung zusammen zu absolvieren. Die Arbeitslosigkeit in Grays Harbor war noch gestiegen, und die Möglichkeiten für einen Achtzehnjährigen ohne Schulabschluss waren äußerst begrenzt. Kurt ging also zum Rekrutierungsbüro der Marine in der State Street und saß drei Stunden über einem Eignungstest für Berufsanfänger. Er bestand ihn, und die Navy war bereit, ihn zu nehmen – später dann behauptete Kurt, das beste Ergebnis gehabt zu haben, das je bei diesem Test erzielt worden war, aber das ist kaum glaubwürdig, da die Prüfung auch Mathematikaufgaben umfasste. Wie schon beim ersten Mal überlegte Kurt es sich anders, als es dann an den Beitritt selbst ging.

      Meistens schlief Kurt auf dem Rücksitz des Wagens von Greg Hokansons Mutter, einem ramponierten Volvo, den sie im Scherz „Vulva“ nannten. Mit dem Wetterumschwung im Oktober wurden auch die Nächte auf dem Autositz immer unfreundlicher und elender. Aber Kurt fand bald einen neuen Wohl­täter bei den Shillingers, der sich nach einigem Zureden bereit erklärte, ihn aufzunehmen.


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