Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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und um Bier zu kaufen, musste man entweder durch die Streikposten, oder man fuhr nach Olympia, sodass Kurt für gewöhnlich lieber Acid einwarf. Wenn er Bier kaufte, dann nahm er normalerweise „Animal Beer“, sprich Schmidt, auf dessen Dosen Tierbilder aufgedruckt waren. Wenn er es sich leisten konnte, gönnte er sich das teurere Rolling Rock, weil sich das „fast anhört wie Rock ’n’ Roll rückwärts“, wie er seinen Freunden sagte.

      Das „Hüttenjahr“ stellte eine von Kurts längsten und extremsten Drogenperio­den dar. Früher hatte er nach Exzessen immer wieder drogenfreie Pausen eingelegt, in seiner Hütte jedoch machte er sich mit einem Eifer dicht, wie er ihn nur für wenig anderes aufbrachte. „Er musste immer bis an die Grenzen“, erinnerte sich Steve Shillinger, „immer nahm er mehr als die anderen, gerade mal so ein bisschen, und sobald er runterkam, legte er gleich wieder nach.“ Wenn er kein Geld für Pot, Acid oder Bier hatte, schnüffelte er wieder Aerosol. „Er stand wirklich drauf, sich komplett platt zu machen, Pot, Acid, egal, welche Drogen“, bemerkte Novoselic. „Oft war er schon mitten am Tag völlig hinüber. Er war ein totaler Kaputtnik.“

      Kurt sprach auch immer noch ständig von Selbstmord und einem frühen Tod. Ryan Aigner wohnte nur einen Block weiter, und von dem Moment an, als er Kurt kennen lernte, erinnert er sich an tägliche Gespräche über den Tod. „Was willst du mit dreißig machen?“, fragte Ryan Kurt einmal. „Ich zerbrech mir nicht den Kopf darüber, was ich mit dreißig mache“, antwortete Kurt in demselben Tonfall, in dem man über eine kaputte Zündkerze sprach, „weil ich es eh nicht bis dreißig schaffe. Du weißt doch, wie das Leben nach dreißig aussieht – darauf kann ich verzichten.“ Ryan, der dem Leben und seinen Möglichkeiten mit aller Zuversicht eines jungen Mannes entgegenblickte, war eine solche Sichtweise so fremd, dass er im ersten Augenblick sprachlos war. Ryan sah, dass Kurt tief in sich drin Qualen litt: „Er war der wandelnde Selbstmord. Er sah aus wie Selbstmord, er ging wie Selbstmord, und er sprach über Selbstmord.“

      Zum Ende des Frühjahrs hatte Kurt den Job im Ferienkomplex hingeschmissen. Da er verzweifelt Geld brauchte, arbeitete er gelegentlich mit Ryan als Teppichleger. Die Leute bei der Teppichfirma mochten Kurt, und Ryan richtete ihm aus, dass er dort auch einen richtigen Job haben könnte. Aber Kurt sträubte sich dagegen. Schon der Gedanke an einen ernsthaften Job war ihm ein Gräuel, außerdem hatte er eine Heidenangst davor, sich mit den scharfen Teppichmessern seine Gitarrenhand zu verletzen. „Meine Hände sind mir zu wichtig“, argumentierte Kurt. „Ich könnte mir meine Karriere als Gitarrist versauen.“ Wenn er sich in die Hand schnitte und nicht mehr spielen könnte, sagte Kurt, wäre sein Leben zu Ende.

      Allein schon die Tatsache, dass Kurt von einer „Karriere“ sprach, um seine musikalischen Ambitionen zu beschreiben, zeigt, dass er wenigstens in diesem Bereich optimistisch war. Die endlosen Stunden des Übens machten sich langsam, aber sicher bezahlt. Beim Songschreiben war er geradezu sagenhaft produktiv geworden, kritzelte seitenweise Texte in sein Notizbuch. Er lernte so schnell, absorbierte so viel bei den Konzerten, die er besuchte, und den Platten, die er hörte, dass man fast hören konnte, wie sein Verstand an einem Plan arbeitete. Dabei hatte er noch nicht „die Band“ im Fokus, weil es eine feste Band ja noch gar nicht gab; stattdessen jonglierte er in seinem Überschwang, Musik zu machen, mit drei, vier Gruppen gleichzeitig. Eine der ersten Gruppierungen, die in der Hütte probten, bestand aus Kurt an der Gitarre, Krist am Bass und einem Drummer aus der Gegend namens Bob McFadden. Bei einer anderen saß Kurt hinter dem Schlagzeug, Krist spielte Gitarre und Steve „Instant“ Newman bediente den Bass. Hier überhaupt von Gruppen zu sprechen, wie Kurt das später machen sollte, war leicht übertrieben. Über die gelegentlichen Jam­sessions hinaus existierten sie lediglich in Kurts Kopf, und er stellte sie zusammen, wie Baseballfans in Gedanken ihre Traummannschaft zusammenstellen. Als er mitbekam, dass die Melvins sechzig Dollar pro Gig bekamen, gründeten Kurt und Krist kurzerhand eine Band namens The Sellouts, die ausschließlich Songs von Creedence Clearwater Revival probte, weil er wusste, wie gut die in Aberdeens Kneipen ankommen würden. Kurt sprach über diese Bands, als hätten sie schon alle längere Karrieren laufen, obwohl die meisten davon nur zum Jammen zusammenkamen. Nur eine dieser Truppen, The Stiff Woodies, trat einmal öffentlich auf, bei einem Besäufnis von Highschoolkids, die sie völlig ignorierten.

      Sosehr die Jamsessions und Partys Kurt auf Trab hielten, ab Anfang 1987 fühlte er sich in Aberdeen immer weniger wohl, eine gewisse Rastlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Für die meisten seiner Freunde war das Musikmachen vor allem eine lustige Art, einen Freitagabend totzuschlagen, und sie waren zufrieden damit; Kurt hingegen saß auch am Samstagvormittag schon wieder da und übte ein Riff oder schrieb an einem Song. Ihm fehlte nur noch ein Vehikel für seine kreative Vision, aber das sollte sich bald ändern. Er und Krist begannen mit Aaron Burckhard, einem Drummer aus dem Viertel, zusammenzuspielen, in einer Gruppe, der sie zunächst gar keinen Namen gaben; Krist spielte Bass, Burckhard trommelte, und Kurt spielte Gitarre und sang. In dieser Vorstufe zu Nirvana zeigte Kurt erste Ansätze seiner Rolle als musikalisches Alphatier. Die ersten Monate des Jahres 1986 probten sie fast jeden Abend, sie hörten erst auf, wenn Kurt der Ansicht war, es sei genug für den Tag. Nach der Probe fuhren sie zu Kentucky Fried Chicken. „Kurt stand auf die Chicken Littles von KFC“, erinnerte sich Burckhard. „Einmal nahm Kurt eine Rolle Isolierband mit und klebte ein umgedrehtes Kreuz auf den Lautsprecher des Drive-in. Wir schauten vom Van aus zu und lachten uns einen Ast, als die Angestellten herauskommen mussten, um das Band wieder abzufitzeln.“

      Im Frühjahr gab Buzz bekannt, er werde nach Kalifornien ziehen, und die Melvins würden sich auflösen. Das war für Aberdeens Musikszene ein einschneidendes Ereignis, und Kurt muss wohl gedacht haben, sie hätten einen Judas in ihrer Mitte. „Es war einfach so“, erinnerte sich Matt Lukin, „dass ich zurück­bleiben sollte. Die Band hatte sich angeblich aufgelöst, aber letztlich nur, um mich loszuwerden. Buzz sagte: ‚Ach was, ich hab noch nicht mal vor, in einer Band zu spielen. Ich zieh einfach nach Kalifornien.‘ Aber dann, einen Monat nachdem sie umgezogen waren, spielten sie wieder als Melvins zusammen. Das war hart, weil Buzz unseren letzten Drummer schon auf dieselbe Weise rausgetrickst hatte, und ich hatte mitgemacht.“

      Der Ausschluss seines Mitbewohners aus den Melvins war ein Meilenstein in Kurts eigener Entwicklung: Jeder bezog in diesem Knatsch Stellung, und Kurt wagte zum ersten Mal, Buzz zur Rede zu stellen. „Kurt hat an diesem Tag künstlerisch und gefühlsmäßig Distanz zu den Melvins genommen“, erzählte Ryan. Kurt hatte längst eingesehen, dass er mit seinen Popeinflüssen Buzz’ Erwartungen ohnehin nie und nimmer gerecht würde. Obwohl er weiterhin davon sprach, wie er die Melvins liebte, war er längst dabei, sich über sein Vorbild Buzz hinauszuentwickeln. Es war ein Schritt, der einfach notwendig war, wenn er jemals eine eigene Stimme entwickeln wollte, und so schmerzhaft er auch war, er stellte eine kreative Befreiung dar, die künstlerisch für Spielraum sorgte.

      Kurt und Lukin gingen einander ebenfalls schon länger auf den Geist – Kurt konnte einige von Lukins Freunden nicht ausstehen. Wie in einer Szene direkt aus einer doofen Sitcom nahm Kurt eine Rolle Isolierband, klebte einen Strich mitten durchs Haus und sagte Lukin und seinen Freunden, sie sollten auf ihrer Seite bleiben. Als einer von Lukins Kumpel meinte, er müsse ja schließlich über die Linie, um aufs Klo zu gehen, sagte Kurt nur: „Geh und piss in den Garten, das Klo ist auf meiner Seite.“ Lukin zog aus. Kurt lebte eine Weile ohne Mitbewohner, dann zog ein Freund aus Olympia, Dylan Carlson, bei ihm ein. Mit seinem langen braunen Haar und dem gammeligen Bart sah Dylan aus wie Beach Boy Brian Wilson in seinen „verlorenen Jahren“, aber er hatte ausgesprochen abgefahrene Ansichten über Religion, Rassenproblematik und ­Politik. Dylan war ein Original, und er war gescheit, talentiert und freundlich – alles Eigenschaften, die Kurt bewunderte. Sie hatten einander auf dem Konzert von Brown Cow kennen gelernt und schließlich angefreundet.

      Dylan zog nach Aberdeen, angeblich, um mit Kurt als Teppichleger zu arbeiten. Der Job jedoch ließ einiges zu wünschen übrig: „Unser Boss war ein Vollalkoholiker“, erinnerte sich Dylan. „Wenn wir morgens zur Arbeit kamen, lag er manchmal schon bewusstlos in seinem Büro auf dem Boden. Einmal lag er vor der Tür, und wir konnten nicht rein, um ihm auf die Beine zu helfen.“ Mit ihren Jobs war es bald Essig, aber die Freundschaft zwischen Dylan und Kurt sollte halten. Mit einer Band, einem neuen besten Freund und einigen großartigen Songs ging Kurt 1987 sein zwanzigstes Lebensjahr positiv wie lange nicht an. Und bald sollte


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