Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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kennen. „Ich hatte den Eindruck, sie sei allein stehend“, erinnerte sich Medak. „Es war nicht so, dass wir Freitagabend herumstanden und auf den Babysitter warten mussten – es war einfach, als hätte sie keine Kinder.“ Seine Beziehung zu Wendy unterschied sich nicht unbedingt von der Beziehung mit einer Gleichaltrigen. „Wir gingen in die Kneipe oder zum Tanzen. Und dann machten wir einen drauf.“ Wendy jammerte darüber, wie Franich ihr den Arm gebrochen hatte und wie schlecht es ihr finanziell ging – und darüber, dass Don Distanz hielt. Eine der wenigen Geschichten, die sie von Kurt erzählte, war die, wie er als Fünfjähriger einmal mit einer Erektion ins Wohnzimmer gekommen war, als Don gerade mit einigen Freunden beisammensaß. Don war das so peinlich gewesen, dass er seinen Sohn aus dem Zimmer trug. Der Vorfall ging in die Familiengeschichte ein; Wendy musste noch immer lachen, wenn sie die Anekdote erzählte.

      Als Zweiundzwanzigjähriger, der etwas mit einer Fünfunddreißigjährigen hatte, ging es Medak hauptsächlich um Sex; für ihn war Wendy eine attraktive ältere Frau, eine ideale Partnerin, wenn einem nicht nach einer festen Beziehung war. Selbst der fünfzehnjährige Kurt spürte dies und war mit seinem Urteil schnell bei der Hand. Er diskutierte die Affären seiner Mutter mit seinen Freunden, und seine Kommentare fielen sehr hart aus. Über die psychologischen Probleme, die er dabei gehabt haben musste, seine Mutter mit einem Liebhaber zu sehen, der gerade mal sieben Jahre älter war als er selbst, sprachen sie dabei freilich nicht. „Er sagte immer, er hasse seine Mutter, dass sie seiner Ansicht nach eine Schlampe sei“, erinnerte sich John Fields. „Er konnte der Art, wie sie lebte, nichts abgewinnen. Er mochte sie überhaupt nicht mehr und sprach immer davon, einfach abzuhauen. Wenn sie zuhause war, verdrückte Kurt sich normalerweise, weil sie ihn ständig nur anschrie.“

      Wendys Geschwister erinnern sich, dass sie sich wegen ihres Alkohol­konsums Sorgen machten, aber da man in der Familie grundsätzlich niemanden direkt mit etwas konfrontierte, wurde das Thema letztlich kaum diskutiert.

      Für Kurt war die Attraktivität seiner Mutter ein zusätzliches Problem, da alle seine Freunde in sie verknallt waren, und wenn sie sich mal wieder hinter dem Haus im Bikini sonnte, spähten sie durch den Zaun. Wenn Freunde bei ihm übernachteten, witzelten sie, sie würden auch jederzeit bei Wendy schlafen, falls in Kurts Zimmer kein Platz für sie sein sollte. Kurt schlug zu, wenn ein solcher Scherz gemacht wurde, und er musste eine Menge Schläge verteilen. Wendy schien den halbwüchsigen Jungs doppelt attraktiv, weil sie ihnen gelegentlich Alkohol kaufte. „Kurts Mom hat uns ein paar Mal Sprit mitgebracht“, erinnert sich Mike Bartlett. „Unter der Bedingung, dass wir ihn im Haus tranken.“ Einmal spendierte Wendy den Jungs Bier und ließ sie ihr Video von Pink Floyds Film The Wall sehen. „Einmal, als ein paar von uns über Nacht blieben“, erzählt Trevor Briggs, „haben wir seine Mutter überredet, uns eine Flasche Tequila zu kaufen. Wir haben uns betrunken und sind dann spazieren gegangen. Als wir zurückkamen, knutschte sie auf dem Sofa mit einem Typ rum.“ Kurts Reaktion war typisch für einen Fünfzehnjährigen im Suff: „Gib’s auf, Mann!“, rief er dem Lover seiner Mutter zu. „Die lässt dich ja doch nicht drüber. Geh lieber nachhause!“ Es war ein Witz, aber an Kurts Sehnsucht nach einer normalen Familie war überhaupt nichts Komisches.

      Zu Weihnachten wünschte Kurt sich in diesem Jahr, mehr als alles andere, die Oingo-Boingo-LP Nothing To Fear. Auf der Weihnachtsfeier bei den Fraden­burgs fotografierte ihn seine Tante damit. Mit seinem nach wie vor kurzen Haar und dem knabenhaften Äußeren schien er jünger als die fünfzehn Jahre, die er tatsächlich war. Tante Mari schenkte ihm das Album Tadpoles von der Bonzo Dog Band. Der Blödelsong „Hunting Tigers Out In Indiah“ wurde zu Kurts Lieblingslied dieses Winters, er brachte es sich auf der Gitarre bei. Seine Tante Mari war mittlerweile nach Seattle gezogen, und Kurt hatte sie direkt vor Weih­nachten dort besucht, um sich nach Plattenläden umzusehen. Eines der Alben auf Kurts Wunschliste war der Soundtrack zu der Fernsehserie H. R. Pufnstuf, einer Live-Action-Comedy-Serie aus den Jahren 1969 bis 1977 mit vielen musikalischen Einlagen, die er liebte. Von einem anderen Album auf der Liste, Hi-Infidelity von REO Speedwagon, hatte Mari noch nie gehört.

      Im Februar wurde er sechzehn und bestand die Fahrprüfung. Das größte Ereignis für Kurt in jenem Frühjahr stellte den Anfängerführerschein jedoch in den Schatten – es war für ihn ein Meilenstein, über den er den Rest seiner Jugendzeit sprach, um ihn als Erwachsener dann nie mehr zu erwähnen. Am 29. März 1983 fuhr Kurt nach Seattle, um sich im Center Coliseum Sammy Hagar und Quarterflash anzusehen – sein erstes Konzert. Als großer Fan von KISW, einer Radiostation in Seattle, die besonders nachts klar zu empfangen war, hatte Kurt Hagars Hardrock ins Herz geschlossen, und auch Quarterflashs Hit „Harden My Heart“ gefiel ihm. Zu dem Konzert ging er zusammen mit Darrin Neathery, dessen ältere Schwester die beiden chauffierte. „Es war eine Riesensache für uns, weil es unser erstes Konzert war“, weiß Neathery zu erzählen. „Irgendwie waren wir zu einem Sixpack Schmidt gekommen. Auf der Hinfahrt saßen Kurt und ich auf dem Rücksitz und hatten einen Mordsspaß. Vom Konzert weiß ich dann noch, dass wir nach Quarterflash irgendwo weit hinten standen, beim Schaltpult für die Scheinwerfer. Wir haben bloß so gestaunt: die Scheinwerfer, die Produktion. Und irgendwann kam eine Whiskeyflasche aus den Rängen geflogen und zerplatzte direkt neben uns auf dem Boden. Wir hätten uns beinahe in die Hosen geschissen. Also haben wir uns verdrückt und uns einen Platz im Gebälk gesucht, von wo aus wir uns dann Sammy ansahen. Ich habe mir ein T-Shirt gekauft, Kurt auch.“

      Kurt sollte später die Geschichte umschreiben und behaupten, die Punkband Black Flag sei sein erstes Konzert gewesen. Aber jeder seiner Klassenkame­raden in Weatherwax erinnerte sich noch genau, wie der sechzehnjährige Kurt am nächsten Tag mit einem übergroßen Sammy-Hagar-T-Shirt in die Schule kam und erzählte wie ein Pilger nach einem Besuch im Heiligen Land.

      Gegen Ende des Schuljahrs 1983 entdeckte Kurt Punk. Das Sammy-Hagar-T-Shirt landete in der untersten Schublade und ward nie wieder gesehen. In diesem Sommer sah er zum ersten Mal die Melvins, und dieses Ereignis veränderte sein Leben. In sein Tagebuch schrieb er:

      Im Sommer 1983 … erinnere ich mich, dass ich in Montesano in einer Washington-Thriftway-Supermarktfiliale rumhing, als mir dieser kurzhaarige Angestellte, ein Boxboy, der ein bisschen wie der Typ von Air Supply aussah, einen Flyer in die Hand drückte. „The Them Festival. Morgen Abend auf dem Parkplatz hinter Thriftway. Free Live Rock Music.“ Monte war keine Stadt, in der man Livekonzerte von Rock-Acts gewöhnt war, es war ein Dorf, die Bevölkerung bestand aus ein paar tausend Holzarbeitern und ihren unterwürfigen Frauen. Ich fuhr mit einigen von meinen Kifferkumpeln im Van hin. Und da stand dieser Air-Supply-Boxboy mit einer Les Paul mit einer Anzeige für Kool-Zigaretten aus einem Magazin draufge­klebt. Sie spielten schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte, und mit mehr Energie, als meine Iron-Maiden-Platten leisten konnten. Das war genau das, wonach ich gesucht hatte. Ah, Punkrock. Die anderen Kiffer langweilten sich und riefen: „Spielt was von Def Leppard.“ Gott, ich hasste diese Arschgeigen mehr denn je. Der Parkplatz hinter einem Lebensmittelmarkt war das Gelobte Land, in dem mein Leben einen Sinn bekam.“

      Den Satz „Das war genau das, wonach ich gesucht hatte“ hatte Kurt zweimal unterstrichen.

      Das Konzert war seine Epiphanie – der Augenblick, in dem seine kleine Welt sich plötzlich öffnete. Der „Air-Supply-Boxboy“ war Roger „Buzz“ Osborne, den Kurt als zurückhaltenden älteren Jungen von der Montesano High in Erinnerung hatte. Dass Kurt Buzz nach dem Auftritt gratulieren kam, schmeichelte Osborne, und bald wurde Buzz zu einer Art Mentor, indem er Kurt Punkplatten, ein Buch über die Sex Pistols und einige abgegriffene Ausgaben des Creem-Magazins lieh. Aber auch wenn sich das in Kurts Tagebuch so anhören mag, es war keine totale Konversion – Kurt ging sich trotzdem im Sommer noch Judas Priest im Tacoma Dome anschauen. Wie die meisten anderen Kids in Aberdeen mischte er seinen Punk mit Heavy Metal, auch wenn er das nicht gerade Buzz auf die Nase binden wollte und auf jeden Fall ein für alle Mal auf Punk-T-Shirts umstellte.

      The Melvins – spöttisch benannt nach einem anderen Angestellten bei Thriftway – gab es seit einem Jahr. Buzz behauptete, sich das Gitarrenspielen anhand der ersten beiden Clash-LPs selbst beigebracht zu haben. 1983 hatten die Melvins noch keine wirkliche Fangemeinde, im Gegenteil, die meisten Metalheads in Grays Harbor machten sich über sie lustig und buhten sie aus. Trotzdem fand sich regelmäßig ein Dutzend empfänglicher Jungs im Übungsraum hinter Drummer Dale


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