Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
auswendig hersagen. „Beim Essen spielte er immer mit seinem Kartoffelbrei und formte daraus diesen Berg aus dem Film“, erinnerte sich James.
1981, mit vierzehn, begann Kurt mit der Super-Acht-Kamera seiner Eltern eigene Kurzfilme zu drehen. Eine seiner ersten Produktionen war eine aufwändige Film-„Hommage“ an Orson Welles’ Hörspiel Krieg der Welten mit selbst modellierten Ton-Außerirdischen, die im Hinterhof der Cobains landeten. Er zeigte den Film James und redete ihm – mit Erfolg – ein, Außerirdische hätten ihr Haus besetzt. Ein Film von 1982 offenbarte eine weitaus dunklere Seite von Kurts Psyche. Der Film heißt Kurt begeht blutigen Selbstmord und zeigt Kurt, der – mit James hinter der Kamera – so tut, als schneide er sich mit den Scharten einer aufgeschnittenen Limonadendose die Pulsadern auf. Kurt benutzte Spezialeffekte und Kinoblut und spielte seine Todesszene auf eine überdramatische Art und Weise aus, die er sich wohl in alten Stummfilmen abgeguckt hatte.
Der grausige Streifen nährte nur die Sorgen der Eltern über die dunkle Seite, die sie an ihrem Sohn immer mehr wahrzunehmen glaubten. „Irgendetwas stimmte da einfach nicht“, meinte Jenny, „irgendetwas stimmte nicht mit seinen Denkprozessen, von Anfang an. Da schien etwas aus dem Gleichgewicht zu sein.“ Kurt konnte seelenruhig über Dinge reden, die den meisten Jungs in seinem Alter Albträume bereitet hätten: Mord, Vergewaltigung, Selbstmord. Er war nicht der erste Teenager der Weltgeschichte, der je das Thema Selbstmord aufs Tapet gebracht hätte, aber die lässige Art, wie er darüber witzelte, kam seinen Freunden doch merkwürdig vor. Einmal auf dem Heimweg von der Schule schlug sein Freund John Fields Kurt vor, er solle doch Maler werden, und Kurt antwortete ganz beiläufig, er habe da andere Pläne: „Ich werde ein Rocksuperstar, bringe mich um und mache einen flammenden Abgang“, sagte er. „Das ist ja wohl das Dümmste, was ich je gehört habe“, entgegnete Fields, „Red nicht so einen Blödsinn.“ Aber Kurt blieb dabei: „Nein, ich möchte reich und berühmt werden und mich dann umbringen wie Jimi Hendrix.“ Dass Jimi Hendrix’ Tod kein Selbstmord gewesen war, wussten die Jungs damals nicht. Fields ist nicht der einzige Freund aus Kurts Zeit in Monte, der so eine Geschichte auf Lager hat – ein halbes Dutzend anderer Bekannter erzählt ihre eigenen Versionen dieser Unterhaltung, die immer dieselbe finstere Richtung nahm.
Innerhalb der Familie selbst überraschte es niemanden, dass Kurt mit seinen vierzehn so beiläufig über Selbstmord sprach. Zwei Jahre zuvor hatte sich Lelands Bruder, Kurts Großonkel Burle Cobain, im Alter von sechsundsechzig Jahren mit einem kurzläufigen Revolver, Kaliber achtunddreißig, erst in den Bauch und dann in den Kopf geschossen. Leland hatte die Leiche entdeckt. Man munkelte, Burle habe eine Anklage wegen sexueller Belästigung ins Haus gestanden. Er hatte der Familie nicht so nahe gestanden wie Kurts andere Onkel, aber sein Tod war für Kurt ein ständiges Thema. Beiläufig witzelte er, sein Onkel habe sich „wegen des Todes von Jim Morrison“ das Leben genommen, und das, obwohl Morrison bereits zehn Jahre vorher gestorben war.
Worüber Kurt seine Witze machte, war für seinen Großvater Leland ein niederschmetternder Schlag. 1978, ein Jahr vor Burles Selbstmord, war Lelands Bruder Ernest an einer Gehirnblutung gestorben. Ernests Tod im Alter von siebenundfünfzig Jahren galt zwar offiziell nicht als Selbstmord, aber später kam heraus, dass er von seinem Arzt ultimativ gewarnt worden war, er würde sterben, wenn er nicht zu trinken aufhöre. Er trank weiter und stürzte schließlich eine Treppe hinunter, was zu der inneren Blutung führte.
Dies waren nicht die einzigen Todesfälle, die auf Kurt einwirkten. Als er in der achten Klasse war, erhängte sich ein Junge aus Montesano außerhalb einer Grundschule im Ort. Kurt kannte den Jungen: Es war Bill Burghardts Bruder. Kurt, Burghardt und Rod Marsh entdeckten die an einem Ast baumelnde Leiche auf dem Weg zur Schule und starrten sie gut eine halbe Stunde lang an, bis sie schließlich von Schulpersonal verscheucht wurden. „Es war das Groteskeste, was ich je gesehen habe“, erinnerte sich Marsh. Nach diesem Vorfall und den Tragödien in seiner eigenen Familie waren das Wort und das Konzept Selbstmord für Kurt nicht mehr tabu. Es gehörte ganz einfach zu seiner Umgebung, genau wie Alkoholismus, Armut und Drogen. Kurt sagte Marsh einmal, er habe „Selbstmord-Gene“.
Kurts Experimente mit Drogen begannen in der achten Klasse, als er anfing, Marihuana zu rauchen und LSD zu nehmen. Zuerst rauchte er Pot auf Partys, dann zusammen mit Freunden, und schließlich rauchte er täglich allein. In der neunten Klasse war er bereits ein ausgewachsener Kiffer. Marihuana war in Monte billig und in rauen Mengen zu haben, meist zuhause selbst gezogen, und es half Kurt dabei, die Zustände zuhause zu vergessen. Was als geselliges Ritual begonnen hatte, wurde für Kurt zum Anästhetikum seiner Wahl.
Zu der Zeit, als er mit den Drogen anfing, begann er auch regelmäßig die Schule zu schwänzen. Wenn er zusammen mit seinen Freunde blaumachte, kauften sie sich Gras oder jemand ließ aus der Hausbar seiner Eltern eine Flasche Sprit mitgehen. Bald begann Kurt aber auch allein blauzumachen, oder er ging in die Schule und verdrückte sich nach der ersten Stunde wieder. Er traf seine Freunde immer seltener und schien sich überhaupt von allem zu entfremden – außer seinem Zorn. In der Silvesternacht 1980 begegnete Trevor Briggs Kurt, der mutterseelenallein in einem Park von Montesano auf einer Schaukel saß und vor sich hin pfiff. Trevor lud Kurt zu sich nachhause ein, die beiden sahen sich im Fernsehen die Dick Clark Show an und rauchten sich zu. Das alte Jahr endete für sie mit dem Gesicht über der Kloschüssel, so viel „Home-grown“ hatten sie geraucht.
Was ein paar Jahre zuvor noch geradezu wie ein Idyll geschienen hatte, der ideale Ort, um dort zur Schule zu gehen, wurde für Kurt bald zu einer Art Gefängnis. Im Gespräch mit Freunden zog er neben seinen Eltern auch über Montesano her. Er hatte Harper Lees Wer die Nachtigall stört gelesen und erklärte, das Buch schildere bis aufs i-Tüpfelchen Montesano. Anfang 1981 begann sich mehr und mehr ein anderer Kurt zu zeigen – oder eben gerade nicht zu zeigen: Er verbrachte immer mehr Zeit in Isolation. Im Haus in der Fleet Street hatte er ein ausgebautes Kellerzimmer bezogen. Seinen Freunden erzählte er, der Umzug komme ihm wie eine Verbannung vor. In seinem Kellerzimmer vertrieb er sich die Zeit mit einem Flipperautomaten aus dem Versandhaus, den er zu Weihnachten bekommen hatte, einer gebrauchten Stereoanlage von Don und Jenny und einem Stapel Platten. In seiner Plattensammlung hatte er Grand Funk Railroad, Boston und Elton John. Kurts Lieblingsplatte in diesem Jahr war Evolution von Journey.
Seine Konflikte mit Don und Jenny hatten einen kritischen Punkt erreicht. All ihre Bemühungen, Kurt wieder in die Familie einzubinden, waren fehlgeschlagen. Er fing an, den Familienabend zu boykottieren, und weil er sich innerlich verlassen fühlte, entschloss er sich, im Gegenzug seine Familie äußerlich zu verlassen. „Er hatte im Haushalt ein paar Aufgaben, ganz normale kleine Pflichten, aber er hörte einfach auf und machte keinen Finger mehr krumm“, erinnert sich Don. „Wir versuchten, ihn mit Taschengeld zu bestechen, und wenn er gewisse Hausarbeiten nicht machen wollte, dann zogen wir ihm etwas ab. Aber er wollte einfach gar nichts mehr machen. Das ging dann so weit, dass er uns Geld schuldete. Da rastete er dann immer aus, knallte die Türen und rannte in seinen Keller.“ Kurt schien auch nicht mehr so viele Freunde zu haben. „Mir fiel damals auf, dass einige von seinen Freunden nicht mehr kamen“, sagte Jenny. „Er verbrachte viel mehr Zeit zuhause, aber dass er da war, hieß noch lange nicht, dass er bei uns war. Er schien mir immer introvertierter zu werden. Er war still und brummelig.“ Rod Marsh erinnerte sich, wie Kurt in diesem Jahr die Katze eines Nachbarn umbrachte. In einem Anfall von Halbwüchsigen-Sadismus – der in auffallendem Kontrast zu seinem späteren Charakter als Erwachsener steht – warf er die lebendige Katze in den Kamin des elterlichen Hauses und lachte, als sie starb und es im ganzen Haus zu stinken begann.
Im September 1981 begann Kurt sein erstes Highschooljahr. In einem Versuch, sich anzupassen, bewarb er sich im Herbst für das Footballteam. Trotz seiner kleinen Statur kam er durch das Auswahlverfahren – ein deutliches Zeichen dafür, wie klein die Schule in Montesano war. Er trainierte zwei Wochen lang mit, stieg dann aber wieder aus, weil es ihm angeblich zu viel Arbeit war. In selben Jahr hatte er sich auch bei den Leichtathleten eingeschrieben, Diskuswerfen – eine erstaunliche Leistung bei seiner Statur – und Zweihundert-Yards-Lauf. Er war sicher nicht der beste Sportler, schon allein weil er viel zu oft das Training schwänzte, aber er gehörte zu den Schnelleren unter den Jungs. Auf dem Gruppenfoto der Sportler im Jahrbuch sieht man ihn mit verkniffenen Augen in die Sonne blinzeln.
Im Februar dieses Jahres – wie durch eine glückliche