Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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wenn man ihn wegwarf: Jeden Monat liehen sie ihn ihrem Sohn für Lebensmittel, und kaum hatte Don das Geld zurückgezahlt, borgte er es sich auch schon wieder. „Er machte die Runde, zahlte seine Rechnungen, und dann kam er zu uns“, erinnerte sich Leland. „Er gab uns die zwanzig Dollar zurück, und dann meinte er: ‚Mensch, da hab ich ja wieder gut abgeschnitten diese Woche. Ich hab noch fünfunddreißig, vierzig Cent übrig.‘“ Leland, der Wendy nicht mochte, weil sie sich seiner Ansicht nach benahm, als sei sie „etwas Besseres als die Cobains“, erinnerte sich, wie die junge Familie dann immer am Blue Beacon, einem Drive-in-Restaurant in der Boone Street, vorbeifuhr und den Rest für Hamburger ausgab. Obwohl Don mit seinem Schwiegervater Charles Fradenburg, der bei der Bezirksstraßenmeisterei Planierraupe fuhr, gut auskam, fanden Leland und Wendy nie so recht zusammen.

      Aus den ständigen Spannungen zwischen den beiden wurde ein offener Streit, als Leland beim Umbau des Hauses in der First Street mithalf. Er baute Don und Wendy einen Zierkamin ins Wohnzimmer und passte ihnen neue Arbeitsplatten für die Küche ein, aber er und Wendy gerieten sich zunehmend in die Haare. Schließlich erklärte Leland seinem Sohn, wenn er Wendy nicht dazu brächte, ihn mit ihrem Genörgel in Ruhe zu lassen, würde er den Kram halb fertig liegen lassen und gehen. „Es war das erste Mal, dass ich gehört habe, dass Donnie ihr widersprach“, erinnerte sich Leland. „Sie meckerte über irgendwas, und irgendwann sagte er: ‚Jetzt halt doch endlich mal deine verdammte Klappe, sonst packt er sein Werkzeug zusammen und geht.‘ Und da hat sie dann doch einfach mal den Mund gehalten.“

      Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein „kleiner Erwachsener“ benehmen. Wie alle Kinder war Kurt hin und wieder einfach eine richtige Plage. Das meiste von dem, was er anstellte, wenn er sich mal abreagierte, war nicht der Rede wert – er schmierte an die Wände, schlug Türen zu oder triezte seine kleine Schwester. Trotzdem setzte es dafür öfter mal eine Tracht Prügel, aber Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen. Solche abgeschlossenen, engen Räume, die bei anderen Panik­attacken hervorgerufen hätten, suchte er sich als Zufluchtsort.

      Und es gab einiges, wovor man sich gern versteckte: Beide Eltern konnten sarkastisch und spöttisch sein. Einmal, als Kurt noch klein und unreif genug war, um so etwas zu glauben, warnten Don und Wendy ihn: Wenn er nicht brav sei und vor allem nicht endlich aufhörte, mit seiner Schwester zu streiten, würde er zu Weih­nachten wohl nur einen Brocken Kohle bekommen. Als Streich steckten sie ihm dann ein Stück Kohle in den Weihnachtsstrumpf. „Es war nur ein Scherz“, erinnerte sich Don. „Wir haben das jedes Jahr gemacht. Er hat schon seine Geschenke bekommen und so – er hat nie nichts bekommen.“ Der kleine Kurt freilich verstand diese Art von Humor nicht, zumindest erzählte er die Geschichte später so. Einmal, so behauptete er, hätten seine Eltern ihm eine Starsky & Hutch-Spielzeugpistole versprochen, die er aber nie bekam. Stattdessen habe er nur ein fein säuberlich verpacktes Brikett in seinem Strumpf gefunden. Kurt übertrieb bei dieser Geschichte, aber in seiner inneren Vorstellung hatte das Bild von seiner Familie bereits einen ganz persönlichen Dreh bekommen.

      Gelegentlich kamen Kim und Kurt ganz gut miteinander aus, spielten zuweilen sogar miteinander. Obwohl Kim nicht das künstlerische Talent ihres Bruders hatte – und mit ihm ständig um die Aufmerksamkeit der Familie rivalisierte –, entwickelte sie einiges Geschick als Stimmenimitatorin. Besonders gut hatte sie Micky Maus und Donald Duck drauf, und mit solchen Einlagen konnte sich Kurt stundenlang amüsieren. Kims stimmliche Fertigkeiten brachten Wendy gar auf eine ganz neue Fantasie. „Der große Traum meiner Mutter“, erklärte Kim später, „war, dass Kurt und ich in Disneyland enden würden, dass wir beide dort arbeiten würden. Er als Zeichner, ich mit meinen Stimmen.“

      Der März 1975 brachte viel Freude für den achtjährigen Kurt: Er durfte endlich Disneyland besuchen und dazu noch das erste Mal mit dem Flugzeug fliegen. Leland war 1974 in den Ruhestand gegangen und hatte den Winter mit Iris in Arizona verbracht. Don und Wendy fuhren Kurt nach Seattle, setzten ihn in eine Maschine, und Leland holte den Jungen in Yuma ab, bevor es nach Südkalifornien ging. Sie erlebten zwei völlig überdrehte Tage: Sie besuchten Disneyland, Knotts Berry Farm, einen südkalifornischen Fantasypark nach dem Muster von Disneyland, und die Universal Studios. Kurt war völlig hin und weg. Gleich dreimal wollte er in Disneyland mit den „Pirates of the Caribbean“ fahren. In Knotts Berry Farm wagte er sich in die riesige Achterbahn, war aber blass wie ein Gespenst, als er wieder ausstieg. Als Leland seinen Enkel fragte, ob er nun genug habe, bekam der sofort wieder Farbe – und fuhr gleich noch einmal mit der Achterbahn. Bei der Tour durch die Universal Studios lehnte Kurt sich an der Stelle, wo der weiße Hai aus dem Wasser auf den Tourzug zuschießt, so weit aus dem Waggon, dass einer der Sicherheitsleute den Großeltern zurief: „Holen Sie den kleinen Blondschopf da lieber rein, bevor ihm noch der Kopf abgebissen wird!“ Kurt widersetzte sich dem Befehl und schoss ein Foto vom Rachen des Hais, der nur Zentimeter an seiner Kamera vorbeizog. Später, auf dem Freeway, schlief Kurt auf dem Rücksitz ein, und wohl nur deshalb gelang es seinen Großeltern, ihn am Magic Mountain, einem weiteren Entertainment-Park in Kalifornien, vorbeizuschmuggeln – sonst hätten sie da auch noch reingemusst.

      Von all seinen Verwandten stand Kurt seiner Großmutter Iris am nächsten. Die beiden teilten ein Interesse an der Kunst und hingen zuweilen einer gewissen Melancholie nach. „Die beiden vergötterten einander“, erinnerte sich Kim. „Ich glaube, Kurt erkannte instinktiv, dass sie die Hölle durchgemacht hatte.“ Sowohl Iris als auch Leland hatten eine schwierige Kindheit hinter sich. Bittere Armut und der frühe Tod ihrer Väter durch Arbeitsunfälle hatten bei beiden tiefe Narben hinterlassen. Iris’ Vater war an giftigen Dämpfen in der Rayonier Pulp Mill, einer Zellstofffabrik, gestorben; Lelands Vater war County-Sheriff gewesen und umgekommen, als sich aus seiner Dienstwaffe versehentlich ein Schuss löste. Leland war fünfzehn, als sein Vater starb. Er ging zu den Marines und wurde nach Guadalcanal geschickt, aber nachdem er einen Offizier zusam­mengeschlagen hatte, musste er zur psychiatrischen Beobachtung in eine ­Klinik. Nach seiner Entlassung heiratete er Iris, aber er kämpfte mit dem Alkohol und seinem Jähzorn, vor allem nachdem ihr dritter Sohn Michael geistig zurück­geblieben zur Welt kam und im Alter von sechs Jahren in einer Anstalt starb. „Freitagabend, wenn es die Lohntüte gab, kam er betrunken nachhause“, erinnerte sich Don. „Er hat meine Mutter verprügelt. Er hat mich verprügelt. Er hat meine Großmutter verprügelt und den Freund meiner Großmutter. Aber so war das damals nun mal.“ Als Kurt heranwuchs, war Leland bereits wesentlich sanfter geworden, seine schlimmste Waffe war seine vulgäre Sprache.

      Wenn Leland und Iris nicht zur Verfügung standen, musste eines der Fradenburg-Geschwister als Babysitter für Kurt herhalten – drei von Kurts Tanten wohnten in einem Umkreis von vier Blocks. Auch Dons jüngerer Bruder Gary musste den Kleinen ein paar Mal hüten, und eine dieser Gelegenheiten bescherte Kurt seinen ersten Trip zurück in das Krankenhaus, in dem er geboren worden war. „Ich habe ihm den rechten Arm gebrochen“, erzählte Gary. „Ich lag auf dem Rücken und er auf meinen Füßen, und ich stieß ihn mit den Füßen in die Luft.“ Kurt war ein ausgesprochen lebhaftes Kind, und so, wie er den ganzen Tag herumrannte, waren die Verwandten ohnehin überrascht, dass er sich nicht öfter etwas brach.

      Kurts gebrochener Arm heilte wieder, und die Verletzung schien ihn beim Sport nicht weiter zu stören. Don hatte seinen Sohn zum Baseballspielen angehalten, kaum dass dieser laufen konnte, und deckte ihn mit Bällen, Schlägern und Handschuhen ein. Als Kleinkind hatte Kurt es noch interessanter gefunden, die Baseballschläger als Percussioninstrumente einzusetzen, aber schließlich begann er sich sportlich zu betätigen, erst in der Nachbarschaft, dann in der Mannschaft. Mit sieben spielte er zum ersten Mal in einem Little-League-Team. Sein Dad war der Coach. „Er war nicht der Beste im Team, aber auch nicht schlecht“, erinnerte sich Gary Cobain später. „Ihm lag nicht wirklich viel am Spiel, dachte ich mir immer, so mental,


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