Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross


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Krankenhaus beherrscht der sechstgrößte Hafen an der Pazifikküste der USA. Im Fluss darunter, dem Chehalis, trieben damals so viele Baumstämme, dass man sich vorstellen konnte, auf ihnen über die zwei Meilen breite Bucht zu spazieren. Im Osten liegt das Zentrum von Aberdeen, wo die Geschäftsleute über das unablässige Rumpeln der Holztransporter klagten, das ihnen ihrer Ansicht nach die Kundschaft vertrieb. Es war eine arbeitsame Stadt, und Arbeit hatte hier fast ausschließlich mit den Douglasfichten zu tun, die auf den umliegenden Bergen geschlagen wurden. Siebenunddreißig Sägewerke, Schindel- und Zellstofffabriken gab es in Aberdeen, deren Schornsteine das höchste Haus der Stadt mit seinen gerade mal sieben Stockwerken bei weitem überragten. Direkt unterhalb des Hügels, auf dem das Krankenhaus stand, befand sich der gigantische Schlot der Rayonier Mill, der höchste dieser Türme, der sechzig Meter in den Himmel ragte und die ewige Wolke aus Zellstoffteilchen nährte, die über Aberdeen lag.

      Aber so betriebsam Aberdeen auch sein mochte, zur Zeit von Kurts Geburt ging das Geschäft bereits langsam, aber stetig zurück. Der Landkreis war einer der wenigen im Staat mit rückläufiger Bevölkerung, da den Arbeitslosen nichts anderes übrig blieb, als ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Holzindustrie hatte die Folgen sowohl der Konkurrenz aus Übersee als auch der radikalen Überbewirtschaftung ihrer Forste zu spüren begonnen. Die Zeichen dieser Überbeanspruchung waren längst allenthalben sichtbar. Die nackten Hügel vor der Stadt erinner­ten an die ersten Siedler, die sich bereits am Kahlschlag versucht hatten, wie man in einem lokalen Geschichtsbuch erfährt. Die Arbeitslosigkeit forderte einen fins­teren Zoll: Alkoholismus, Gewalt in den Familien und die Selbstmordrate nahmen zu. 1967 gab es siebenundzwanzig Wirtshäuser, im Zentrum stand eine ganze Reihe Häuser leer, von denen einige einmal Bordelle gewesen waren, die Ende der 1950er-Jahre geschlossen worden waren. Aberdeen war für seine Hurenhäuser so berühmt gewesen, dass das Magazin Look die Stadt 1952 als einen der „Brennpunkte in Amerikas Kampf gegen die Sünde“ bezeichnete.

      Gelindert wurden diese Probleme allenfalls durch die enge soziale Verbundenheit der Gemeinschaft, an der sie nagten: Man half sich unter Nachbarn, die Eltern engagierten sich in den Schulen, und die Familienbande innerhalb der verschiedenen Einwanderergruppen blieben stark. Es gab mehr Kirchen als Kneipen, und wie in vielen amerikanischen Kleinstädten Mitte der Sechzigerjahre ließ man dort Kindern auf Fahrrädern freien Lauf. Für den heranwachsenden Kurt war die ganze Stadt ein einziger Hinterhof.

      Wie meist bei Erstgeburten war auch Kurts Ankunft ein Grund zum Feiern – für die Eltern wie für den den ganzen erweiterten Familienkreis. Kurt hatte sechs Onkel und Tanten mütterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits, dar­über hinaus war er der erste Enkel für beide Großelternseiten. Zwei große Familien waren da zusammengekommen: Von den Karten, die Kurts Mutter nach seiner Geburt drucken ließ, brauchte sie allein schon fünfzig für die unmittelbare Verwandtschaft. Am 23. Februar verkündete eine Zeile in der Rubrik „Geburten“ der Aberdeen Daily World dem Rest der Welt Kurts Ankunft: „To Mr. and Mrs. Donald Cobain, 2830½ Aberdeen Avenue, Hoquiam, February 20, at Community Hospital, a son.“

      Kurt wog bei der Geburt knapp sieben Pfund, und seine Haare waren so dunkel wie sein Teint. Innerhalb von fünf Monaten sollte er blond werden, und auch seine Haut sollte sich aufhellen. Die Familie seines Vaters hatte französische und irische Wurzeln, sie war 1875 aus Skey Townland im irischen County Tyrone nach Amerika emigriert; von dieser Seite hatte Kurt das kantige Kinn. Von den Fradenburgs, der Familie seiner Mutter, die deutscher, irischer und englischer Abstammung war, bekam er die rosigen Bäckchen und die blonden Locken mit auf den Weg. Das bei weitem Auffälligste an ihm waren jedoch seine himmelblauen Augen, über deren Schönheit sich sogar die Schwestern im Krankenhaus gar nicht beruhigen konnten.

      Es waren die Sechzigerjahre, in Vietnam tobte ein Krieg, aber von den Meldungen in den Nachrichten einmal abgesehen, nahm Aberdeen sich eher wie eine amerikanische Stadt der Fünfziger aus. An dem Tag, als Kurt zur Welt kam, stand in der Aberdeen Daily World die große Nachricht über einen amerikanischen Sieg in Quang Ngai neben den Zahlen der lokalen Holzwirtschaft und Anzeigen von JCPenney, wo anlässlich eines Sonderverkaufs zu George Washingtons Geburtstag Flanellhemden für zwei Dollar und achtundvierzig Cent zu haben waren. Am Nachmittag war in Los Angeles Wer hat Angst vor Virginia Woolf? für dreizehn Oscars nominiert worden, aber im Autokino von Aberdeen lief Girls on the Beach.

      Kurts Vater Don war einundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Automechaniker bei der Chevron-Tankstelle in Hoquiam. Er sah gut aus und war athletisch, aber sein Flattop-Haarschnitt und die Buddy-Holly-Brille verliehen ihm etwas Linkisches. Kurts Mutter Wendy war neunzehn und im Gegensatz zu Don eine klassische Schönheit, die ein bisschen aussah und sich kleidete wie Marcia Brady aus der Fernsehserie The Brady Bunch (Drei Mädchen und drei Jungen). Die beiden hatten sich auf der Highschool kennen gelernt, wo Wendy den Spitznamen „Breeze“ getragen hatte. Im Juni zuvor, kurz nach ihrem Highschoolabschluss, war Wendy schwanger geworden. Don hatte sich unter einem Vorwand den Wagen seines Vaters geliehen, und die beiden waren nach Idaho gefahren, wo man ohne die Einwilligung der Eltern heiraten konnte, was sie dann auch taten.

      Zum Zeitpunkt von Kurts Geburt wohnte das junge Paar in einem winzigen Häuschen im Hinterhof eines anderen Hauses in Hoquiam. Don machte an der Tankstelle Überstunden, während Wendy sich um das Baby kümmerte. Kurt schlief in einer weißen Korbwiege mit einer knallgelben Schleife obendrauf. Geld war knapp bei den jungen Eheleuten, aber einige Wochen nach der Geburt des Kleinen hatten sie genügend zusammengekratzt, um aus dem winzigen Häuschen in ein größeres in der Aberdeen Avenue 2830 zu ziehen. „Die Miete da war nur um fünf Dollar im Monat höher“, erinnerte sich Don, „aber fünf Dollar waren damals ein Haufen Geld.“

      Wenn sich die späteren Probleme der Familie damals schon in irgendetwas andeuteten, dann in ihren permanenten finanziellen Schwierigkeiten. Obwohl Don seit Anfang 1968 die Tankstelle leitete, verdiente er gerade mal sechstausend Dollar im Jahr. Die meisten ihrer Nachbarn und Freunde arbeiteten in der Holzwirtschaft, wo die Jobs den Arbeitern körperlich einiges abverlangten – laut einer Studie war die Branche „tödlicher als ein Krieg“ –, aber dafür waren sie auch besser bezahlt. Die Cobains strampelten sich entsprechend ab, innerhalb ihres Budgets zu bleiben, aber was Kurt anbelangte, sorgten sie dafür, dass er stets ordentlich gekleidet war, und ließen immer wieder Geld für professionelle Fotografen springen. In einer Serie von Bildern aus dieser Zeit trägt Kurt einen grauen Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und wirkt mit seinem Babyspeck und den Pausbäckchen wie der kleine Lord Fauntleroy. Auf einem anderen trägt er eine blaue Anzugjacke mit passender Weste und einen Hut, der eher zu Philip Marlowe gepasst hätte als zu einem Jungen von anderthalb Jahren.

      Im Mai 1968, Kurt war fünfzehn Monate alt, schrieb Wendys vierzehnjährige Schwester Mari im Hauswirtschaftsunterricht einen Aufsatz über ihren Neffen: „Meistens kümmert sich seine Mutter um ihn“, schrieb Mari. „[Sie] zeigt ihm ihre Zuneigung, indem sie ihn auf den Arm nimmt, ihn lobt, wenn er es verdient hat, und indem sie an vielen von seinen Aktivitäten teilnimmt. Er reagiert auf seinen Vater, indem er lächelt, wenn er ihn sieht, und er hat es gern, wenn sein Vater ihn auf den Arm nimmt. Wenn er etwas will, macht er zunächst durch lautes Geschrei darauf aufmerksam, und wenn das nicht hilft, verlegt er sich aufs Heulen.“ Außerdem weiß Mari zu berichten, Kurts Lieblingsspiel sei „Kuckuck“ gewesen und dass er mit acht Monaten den ersten Zahn bekam. Sein erstes Dutzend Wörter war „Coco, Momma, Dadda, Ball, Toast, bye-bye, hi, Baby, mich, Liebe, Hotdog und miez“.

      Unter Lieblingsspielzeug listet Mari eine Mundharmonika, eine Trommel, einen Basketball, Autos, Laster, Bauklötze, einen Spielzeugfernseher, ein Telefon und ein Holzgebilde auf, mit dem seine Mutter Nähte flach klopfte. Über Kurts Tagesablauf schreibt sie: „Auf Schlaf reagiert er mit Heulen, wenn man ihn dazu ins Bettchen legt. Er interessiert sich derart für die Familie, dass er sie nicht verlassen will.“ Abschließend meinte die Tante: „Er ist ein glückliches, lächelndes Baby, und seine Persönlichkeit entwickelt sich so wegen der Aufmerksamkeit und der Liebe, die er erfährt.“

      Wendy war eine aufmerksame Mutter; sie las Bücher über den Lernprozess, sie kaufte Lernkarten mit Wörtern und Buchstaben darauf und sorgte, mit Unterstützung ihrer Brüder und Schwestern, dafür, dass es Kurt an nichts fehlte. Die ganze Großfamilie feierte den Kleinen mit vereinten Kräften, und Kurt blühte auf unter all der Aufmerksamkeit. „Ich kann unmöglich


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