Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown
sicher, dass er das selbst auch weiß.“ – J.K. Rowling
„Man kann mich mögen oder nicht, ich bin und bleibe ein Individualist … und als solcher entweder zum Kotzen oder interessant. Der Schlüsselbegriff in meinem Vokabular ist Individualismus.“ – Morrissey
Vorwort: „It’s Time The Tale … Zeit, dass die Geschichte erzählt wird.“
Vor vielen Jahren trat ich schon einmal mit der Idee einer Biografie an Morrissey heran. Es war irgendwann zwischen dem Tod der Smiths und der (was Morrissey anbelangt) ungewollten Geburt von Johnny Rogans The Severed Alliance. Als Morrissey im Falle Rogan seine berühmte Fatwa erklärte, nahm ich davon jedoch trotz mehrerer Treffen mit ihm wieder Abstand. Im Sommer 2003 aber traf ich mich mit ihm in Manchester in einem Pub in der Nähe der Granada-Fernsehstudios auf ein Glas Bier. Auf dem Rückweg schlenderten wir die Deansgate entlang. Da fragte er mich, ob ich Inhaber der Rechte an meinen Interviews mit ihm sei. Als ich seine Frage bejahte, wirkte er erstaunt, dass ich daraus noch keine biografische Zusammenstellung oder etwas Ähnliches gemacht hatte. Ich bin zwar etwas langsam, aber das machte mich doch nachdenklich. Als ich ihn später nochmals auf das Buch ansprach, war er wenig interessiert, doch bei einem Konzert im Manchester Opera House am 7. Mai 2006 verkündete er von der Bühne: „Wie Len Brown euch noch berichten wird, habe ich hier im November 1973 Mott the Hoople und Queen gesehen.“ (Eine Woche zuvor hatte ich mit meinem Bruder Don in der Newcastle City Hall ein anderes Konzert derselben Tournee besucht.)
Trotzdem bin ich ein eher zurückhaltender Biograf. Als jemand, der einer Karriere als Musikkritiker bewusst abgeschworen und sich gegen eine Laufbahn im Dunstkreis der „Prominenz“ entschieden hat, mangelt es mir zunächst vielleicht an der Arroganz und dem Selbstbewusstsein, das man braucht, um diese Geschichte zu erzählen. Zweitens kann ich natürlich nicht so tun, als wäre ich ein Vertrauter, Liebhaber oder enger Freund meines Objekts, obwohl ich dieses als Journalist und Musikfan gut kenne. Vielmehr ist es so, dass ich bei unseren Treffen und oft langen Gesprächen Morrissey stets als Menschen geschätzt habe und seine Kunst immer noch sehr bewundere. Seine Stimme und seine Texte haben in meinem Leben bis heute eine wichtige Rolle gespielt. Als Interviewpartner bringt er mich immer zum Lachen, er ist provokativ und geistreich und definitiv eine der interessantesten und originellsten Persönlichkeiten in der Populärkultur. Wenn man einmal jemandem wie Morrissey begegnet ist, erscheinen einem 99 Prozent aller anderen Interviewpartner unintelligent, gewöhnlich, spießig und sogar nichtssagend.
Dies ist keine autorisierte Biografie, und ich will mich auch nicht dafür entschuldigen, wenn ich abgegraste Themenbereiche nochmals anspreche. Es sind bereits einige Morrissey-Biografien erschienen, doch scheinen die meisten von geldgierigen Opportunisten, aufdringlichen Fans, schwulen Kavalieren oder findigen Internetsurfern zusammengeschrieben worden zu sein. Die Autoren lassen sich nach Belieben in alle möglichen Kategorien einordnen. Sämtliche bis heute verfassten Biografien sind jedoch von Personen geschrieben (oder besser zusammengetragen) worden, die nicht ein einziges Interview mit Morrissey geführt haben. Im Großen und Ganzen haben diese Bücher trotzdem eine gewisse Berechtigung: Sie erzählen die offensichtlichen Geschichten aus einer distanzierten, journalistischen Vogelperspektive heraus. Mit einer erwähnenswerten Ausnahme hat es jedoch beinahe den Anschein, als wären sie an einem einzigen Nachmittag heruntergerattert worden, um schnell noch auf den letzten Smiths- oder Morrissey-Zug aufzuspringen.
Die Ausnahme ist natürlich Johnny Rogans Buch The Severed Alliance. Zwar hat sich Rogan nicht mit Morrissey getroffen, doch er sprach mit den anderen Smiths und fand durch sorgfältige Nachforschungen die Wahrheit (besser gesagt, Rogans Version der Wahrheit) über Morrisseys Leben heraus. Wie bei allen anderen von Rogans Themen – The Byrds, Neil Young, Van Morrison, The Kinks, John Lennon – ist auch hier die detektivische Kleinarbeit beeindruckend. Doch trotz sauberer Recherche und akademischer Vorgehensweise gelingt es The Severed Alliance meiner Meinung nach nicht, zum Herzen und der Seele seiner zentralen Figur vorzudringen.
Der vorliegende bescheidene Wälzer versucht, einer gewissen Nachfrage gerecht zu werden, vielleicht sogar eine Lücke zu schließen. Es ist die erste Biografie bzw. es sind die ersten Memoiren, deren Autor über mehrere Jahre in direktem Kontakt zu Morrissey gestanden hat. Es ist daher unvermeidlich, dass das Buch randvoll mit meinen eigenen Kommentaren und persönlichen Eindrücken von Morrissey ist, doch ich hoffe, dass sich durch meine journalistischen Begegnungen mit ihm – vom Besuch meines ersten Smiths-Konzerts im Jahre 1983 bis zu einem Treffen auf der „Ringleader Of The Tormentors“-Tournee 2006 – ein runderes und lebendigeres Bild des Künstlers, seiner Musik und seiner Inspirationsquellen ergibt.
Er ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Durch meine Arbeit als freier Journalist und als Fernsehproduzent/-regisseur hatte ich das Glück, viele berühmte Musiker kennenzulernen: inspirierende Künstler wie Kate Bush, Youssou N’Dour, Noel Gallagher, Gil Scott-Heron und Peter Gabriel; sympathische, aber schüchterne Charaktere wie Rod Stewart, Ringo Starr und Elton John; sogar brillante und schwierige Talente wie etwa Ray Davies oder Dusty Springfield. Morrissey jedoch schien immer etwas Besonderes zu sein. Nicht nur aufgrund der Qualität seiner Texte, ihrer geistreichen Querverweise oder weil er stets den Mut hatte, Tabuthemen anzusprechen, sondern auch, weil er seinen Hang zur Depression und eine fast schon kriminelle Schüchternheit auf eine ganz eigene Weise überwunden und so sein Ziel erreicht hat.
Zu seinen großen Verdiensten gehört zwar die Verherrlichung der Außenseiterrolle – in Texten, Interviews und sogar bei der Covergestaltung der Smiths-Platten –, aber ich würde gerne versuchen, ihn von jenen Minderheiten zurückzufordern, die zu glauben scheinen, er wäre ihr Eigentum. Obwohl er von vielen Mitgliedern der lesbischen und schwulen Gemeinde zu Recht als Vorbild verehrt wird und daneben zur Galionsfigur der Tierschützer- und Vegetarier-Lobby geworden ist, denke ich doch, dass es wichtig ist, seine Kunst in einem weiteren und weniger eingeengten Kontext zu betrachten. Kurz gesagt, hat er während der letzten 25 Jahre versucht, auf dem Gebiet der Popmusik das zu leisten, was sein Held Oscar Wilde exakt ein Jahrhundert vor ihm auf solch dramatische Weise erreicht hat.
Wilde vertrat die Ansicht, dass Kunst an sich grundsätzlich abweichlerisch sei, und sagte einmal, „jeder Versuch, das Themenspektrum der Kunst zu erweitern“, erscheine „der Öffentlichkeit extrem geschmacklos; und doch hängen die Lebendigkeit und die Weiterentwicklung der Kunst zu einem großen Teil davon ab, dass sie ihr Themenspektrum ständig erweitert.“ Morrissey hat diese Ansicht verinnerlicht und Wildes Herausforderung angenommen. Man kann ihn mögen oder hassen – dazwischen gibt es nichts –, doch hat er eindeutig das Themenspektrum der Popmusik erweitert. Den meisten Popsongs gelingt es nicht, einen Bezug zum wirklichen Leben herzustellen oder auf dessen viele Missstände aufmerksam zu machen. Stattdessen bedienen sie kommerziell attraktive, radiofreundliche Klischees von Liebe, Geld, „konventionellem“ Sex, dem Streben nach Wohlstand und dem Wunsch nach Statussymbolen. Morrisseys Texte hingegen haben den Status quo stets in Frage gestellt und angezweifelt.
Wenn man diese Richtung einschlägt und sich derart gegen den Wind stemmt, löst man freilich Kontroversen aus. Im Jahre 1992 sagte er: „Die Wahrheit ist, dass wir in dieser aufregenden Welt der Popmusik eingeschränkt sind. Ob man nun über Leute schreibt, die an den Rollstuhl gefesselt sind, wie in ‚November Spawned A Monster‘ oder den Rassismus thematisiert wie in ‚The National Front Disco‘, so wird der Kontext doch meist übersehen. Die Leute lesen den Titel, wenden sich mit Grausen ab und sagen: ‚Worum es in diesem Song auch geht – so etwas sollte es nicht geben, weil Millionen von Menschen dieses Thema grässlich finden.‘“
Das ist es, was Morrissey so anders und interessant macht und diejenigen, die ihn nicht mögen, so sehr irritiert. Weit davon entfernt, das traditionelle, PR-taugliche Bild von Großbritannien zu bedienen, jenes arroganten, überlegenen Englands mit Weltherrschaftsanspruch, hält Morrisseys Kunst dem modernen Großbritannien bewusst und schonungslos einen Spiegel vor, in welchem häufig die Opfer und die Schurken aus den dunklen Tagen der Vergangenheit zu sehen sind. Viele von ihm still verehrte schwule Ikonen beispielsweise – von Oscar Wilde über Joe Meek bis hin zu Joe Orton – wurden von der bürgerlichen Gesellschaft gestoßen und getreten. Offensichtlich ist Morrissey überzeugt, dass wir von unseren Opfern mehr lernen können als von unseren Berühmtheiten.
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