Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown

Im Gespräch mit Morrissey - Len  Brown


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Gründen glaube ich mittlerweile, dass in einigen Bibliotheken versucht wird, Oscar Wildes Bücher auf den Index zu setzen, weil in ihnen eine ganz bestimmte Geisteshaltung zum Ausdruck kommt. Die Dinge ändern sich nicht wirklich.“

      Diese „ganz bestimmte Geisteshaltung“ – die Richard Ellmann in seinem biografischen Meisterwerk Oscar Wilde als Wildes Herausforderung der „traditionellen Männlichkeit“ bezeichnete – ziert auch viele von Morrisseys Texten; Worte, die soziale Konventionen ins Lächerliche ziehen und die traditionelle Rollenverteilung auf den Kopf stellen; Pop-Poesie voller verwirrender, verführerischer, stichelnder und alles durchdringender sexueller Doppeldeutigkeit.

      Dem NME gegenüber sagte Morrissey vor längerer Zeit einmal: „Mir gefällt die Vorstellung einer männlichen, aber ziemlich verletzlichen Stimme, die ein bisschen künstlich klingt – statt dieses andauernden Macho-Gehabes, das alle nur noch langweilt … Ich finde, es ist einfach Zeit für eine Stimme mit einem etwas anderen Ausdruck.“

      In Ihren eigenen Texten haben Sie die „traditionelle Männlichkeit“ ebenfalls sehr häufig in Frage gestellt. Können Sie erklären, wie Wilde das getan hat?

      „Mit der Kraft der Sprache. Das war Teil seiner Rebellion und gleichzeitig der Grund, warum man ihn so fürchtete – weil den Leuten so etwas noch nie untergekommen war. Es war zu verwirrend für sie, und sie kamen damit einfach nicht zurecht.“

      Stieß auch jemand wie Joe Orton auf eine ähnliche Reaktion?

      „Ich finde, es ist okay, wenn man sich in seinem eigenen Zuhause verhält, wie man will, solange man nicht im Licht der Öffentlichkeit steht. Man lebt ja sozusagen nicht draußen auf der Straße. Doch sobald man bekannt wird und loyale Zuhörer gewinnt, wird es ziemlich schnell gefährlich, das ist klar.“

      Sie glauben also nicht, dass sich die Gesellschaft seit den Zeiten von Oscar Wilde sonderlich verändert hat?

      „Ich glaube, dass sie sich überhaupt nicht verändert hat, in keinerlei Hinsicht. Sie steht Individualisten immer noch vollkommen intolerant gegenüber. Ich finde sogar, dass es Rückschritte gegeben hat. Nicht nur in der Literatur, sondern ganz eindeutig auch in der Popmusik. Nein, die Gesellschaft hat sich keinesfalls verändert.“

      Wie denken Sie über dieses Zimmer – wo Oscar vor über hundert Jahren seinen letzten Abend in Freiheit verbrachte?

      Er lässt seine Blicke traurig umherschweifen und sagt: „Ich glaube, sie haben die Energie übermalt. Es würde mich sehr überraschen, wenn sich hier noch etwas fände, das aus seinen Tagen übrig geblieben ist.“

      Ein paar Monate später staune ich nicht schlecht, als eines Nachmittags eine obskure Verfilmung von Oscar Wildes Leben im Fernsehen läuft. Hauptdarsteller ist der korpulente Robert Morley als Oscar, während Ralph Richardson Wildes irischen Schulfreund Carson spielt, der später vor Gericht gegen ihn aussagte. Hinsichtlich der Natur von Wildes Verbrechen bleibt der Film begreiflicherweise vage – er entstand zu einer Zeit, als Homosexualität in Großbritannien immer noch illegal war. Trotzdem ist Gregory Ratoffs Oscar Wilde (1960) ein bewegender und mitfühlender Versuch, das tragische Leben des irischen Dramatikers nachzuzeichnen.

      Neben John Neville als Lord Alfred Douglas und Dennis Price als Wildes Vertrauter und loyaler Freund Robert Ross sollte aufmerksamen Morrissey-Kennern außerdem Tony Doonan in der Rolle des 17-jährigen Strichjungen und Erpressers Alfred Wood auffallen. Doonans Sohn Patric, der später Suizid beging, wurde in einer von Morrisseys besten Solonummern unsterblich gemacht: „Now My Heart Is Full“ auf Vauxhall & I.

      Während der Abspann läuft, klingelt in meiner Wohnung in Brixton das Telefon, und Morrisseys herzlich-schwule Stimme fängt an, über den Film zu sprechen, als wäre unsere frühere Unterhaltung über Oscar Wilde noch in vollem Gange.

      „Es ist ein sehr selten gezeigter Film, der im selben Jahr gedreht wurde wie The Trials Of Oscar Wilde (deutscher Verleihtitel: Der Mann mit der grünen Nelke), ein anderer Film mit Peter Finch als Oscar Wilde. Weil The Trials Of Oscar Wilde in Farbe gedreht wurde, überschattete er Morleys Version fast vollständig. Außerdem war The Trials Of Oscar Wilde fantastisch. Und Robert Morley hat mir nie so recht gefallen.“

      Er war kein besonders attraktiver Wilde.

      Er lacht: „Nein, zumindest nicht für mich.“

      Wir sprechen über Richard Ellmanns hoch gelobte Wilde-Biografie. Ellmann ist im Jahr zuvor gestorben und hat noch weitere wegweisende Studien über berühmte Iren hinterlassen, darunter Bücher über Yeats und Joyce.

      „Ziemlich bemerkenswert, dass Ellmanns Buch einer der größten Verkaufsschlager des Jahres ist. Es ist ein ausgezeichnetes Buch, das viel Vergnügen bereitet, denn ganz abgesehen von seinem Thema ist Ellmann auch ein bemerkenswerter Autor. Wie er das Buch geschrieben hat, ist ganz erstaunlich. Haben Sie diese irische Dokumentation über Wilde mit dem Titel Spendthrift Of Genius gesehen?“ (Spendthrift … war eine Produktion des irischen Fernsehens. Das Drehbuch stammt von Ellmann, als Produzent und Regisseur fungierte Sean O’Mordha.) „Darin wurde zum ersten Mal eine Tonaufzeichnung ausgestrahlt, von der man annimmt, dass es sich um Wildes Stimme handelt.

      „Wildes Stimme zu hören, ist wirklich ziemlich bewegend. Er erscheint dadurch mehr als reale Person und wird viel greifbarer. Interessanterweise erinnerte der Klang der Stimme stark an die von John Hurt in Der Elefantenmensch. Wissen Sie noch, wie er sprach? Mit ganz sanfter Stimme. Ich glaube, sie war den damaligen Theatersprechstimmen nachempfunden, weil sich John Merrick fürs Theater interessierte. Und genau so sprach Wilde.“

      (Leider bestehen Zweifel an der Echtheit dieser angeblich wenige Monate vor Wildes Tod entstandenen Aufnahme. Im Sommer 1900 besuchte er die Weltausstellung in Paris und soll dabei einen Auszug aus The Ballad Of Reading Gaol gelesen haben. Wie Morrissey möchte ich gern glauben, dass die Aufnahme echt ist, doch viele Wilde-Experten behaupten das Gegenteil.)

      „Haben Sie von diesem anderen Buch über Oscar Wilde gehört?“, fährt Morrissey fort. „Es trägt den Titel Who Was That Man? Der Autor ist ein gewisser Neil Bartlett. Noch nie von ihm gehört. Das Buch bietet einen ganz anderen Blickwinkel auf Wildes Leben. Es beleuchtet den Londoner Untergrund im Jahre 1888. Wirklich hochinteressant.“

      Das Buch eröffnet tatsächlich einen ganz anderen Blickwinkel. Bartletts Who Was That Man? A Present For Mr Oscar Wilde (Wer war dieser Mann? Ein Geschenk für Herrn Oscar Wilde) wurde von Edmund White als „fantastische, persönliche Betrachtung über Oscar Wilde und die letzten hundert Jahre englischer Homosexualität“ gelobt. Der Schauspieler und Autor Simon Callow beschrieb es ebenfalls als „wichtiges Gegenstück zu Ellmanns vielleicht etwas zu ausgewogener Biografie“.

      In seinem Buch vergleicht und kontrastiert Bartlett das schwule Leben der 1880er mit dem der 1980er Jahre, beschreibt sexuelle Begegnungen in heutiger und viktorianischer Zeit, geht Wildes Kontakten zum Straßenstrich und zur Sado-Maso-Szene nach und erörtert die im schwulen Untergrund des viktorianischen England gebräuchliche Geheimsprache „Polari“ oder „Palare“. Diese Sprache inspirierte Morrissey später dazu, ein Album Bona Drag zu nennen, dessen Titel auch eine Hommage an Hugh Paddick und Kenneth Williams ist, die als Julian und Sandy in der BBC-Radioserie Round The Horne zwischen 1965 und 1968 auf ebenso komödiantische wie radikale Weise Palare einsetzten. Darüber hinaus kam Morrissey so auch auf die Idee, sein als Single veröffentlichtes Stück „Piccadilly Palare“ über männliche Prostitution zu schreiben.

      Wilde ist also immer noch einer der wichtigsten Einflüsse in Ihrem Leben?

      „Oh, ja, absolut! Und er wird immer stärker. Der NME behauptet jedoch immer, ich hätte in seinem Haus gewohnt, was vollkommen falsch ist.“

      Das Haus in der Tite Street?

      „Die Wohnungen dort, genauer gesagt. Eine wurde neulich für 130 000 Pfund zum Verkauf angeboten.“

      Für Sie ist das doch nur ein Wochenlohn, oder?

      „Ja, die Tantiemen aus einem Extra-Song auf CD. Wenn nur …“

      In diesem Augenblick begann es mir zu dämmern, wie stark diese eine außergewöhnliche


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