Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown
Die Leute kennen zwar viele Shakespeare-Zitate, wissen aber nicht, was sie eigentlich bedeuten.“
Ich näherte mich Oscar Wilde aus einer ganz anderen Richtung als Morrissey. Für die meisten christlich erzogenen Kinder schien in den Sechzigern und Siebzigern die allgemeine Botschaft von der Kanzel zu lauten, dass heterosexuell gleich gut und homosexuell gleich böse war. (Unter dem liberalen Deckmäntelchen der anglikanischen Kirche des 21. Jahrhunderts hat sich an dieser Gleichung nicht viel geändert.) Obwohl Wildes Stücke in meiner Jugend regelmäßig im Theater und im Fernsehen liefen, sah man es nur ungern, wenn sich die Schuljungen für das Leben oder die Persönlichkeit des Künstlers interessierten.
Wir beschäftigten uns mit dem Leben von Shakespeare und Dickens, später sogar mit Hardy und Lawrence, doch niemals mit Wilde. Das warf die Frage auf: „Wer war dieser Mann, und warum weigerten sich die Lehrer so hartnäckig, über ihn zu sprechen?“ Ich weiß, es klingt hoffnungslos übertrieben (und steht mit dem Bild des Durchschnittsmachos, das ich nach außen zu tragen versuche, überhaupt nicht in Einklang), aber als ich im Alter von 13 Jahren mit meinem Vortrag von Wildes The Remarkable Rocket einen Lesewettbewerb an der Schule gewann, riet man mir nachdrücklich, den erhaltenen Buchgutschein nicht für eine Biografie des Autors einzulösen. Das steigerte freilich nur meine Neugier.
Als ich bei meinen Eltern in deren Ausgabe von Chambers Biographical Dictionary (erschienen 1946) den kurzen Eintrag zu Oscar Wilde las, bekam ich den Eindruck, dass er eine wahrhaft abstoßende Figur in der britischen Geschichte gewesen sein musste. Der Abriss über sein Leben endete mit dem Satz: „The Ballad Of Reading Gaol (1898) und De Profundis (1905) zeigen die Spuren von zwei Jahren Zwangsarbeit für unzüchtige Praktiken.“ Ich nahm an, dass Wilde ein Massenmörder wie Jack The Ripper oder ein Giftmörder wie Dr. Crippen gewesen sein musste.
Als ich schließlich in einem zerlesenen Taschenbuch einen Bericht mit den Einzelheiten seiner Gerichtsverhandlung fand, schockierten oder verdarben mich diese Erkenntnisse nicht, sie machten mich nur unsagbar traurig. Schon damals schien die Moral der Geschichte dieselbe zu sein wie später bei Joe Orton: Wenn man ein sexuell „schlechtes“ oder anderes Leben führte, dann erwartete einen der Tod oder ein Schicksal, das schlimmer als der Tod war – trotz aller kreativen Begabungen. (Wie der Carry On-Star Charles Hawtrey einmal so trefflich bemerkte: „Oh, puh! Ich weiß nichts über den Tod, aber ich habe die andere Sache ausprobiert. Der Tod kann nicht halb so schlimm sein, wie immer behauptet wird.“)
Als frommer Teenager aus einer Familie der Mittelschicht im Nordosten Englands begriff ich nicht, warum meine Eltern und deren Bekannte einerseits Vorurteile, Rassismus und Sexismus stets scharf verurteilten, mich aber andererseits vor allen und allem fernhielten, was sie als sexuell unkonventionell betrachteten.
In der Schule war es Pflicht, normal auszusehen, sich männlich zu verhalten und diejenigen Kinder links liegen zu lassen, die nicht so aussahen und sich nicht so kleideten oder verhielten wie wir anderen. Ich habe sie nicht tyrannisiert oder gedemütigt, sondern wollte einfach nichts von ihnen wissen und blieb auf Abstand, als hätten sie eine ansteckende Krankheit. Wenn ich zusammen mit Steven Patrick Morrissey die Schule besucht hätte, hätte ich ihn vielleicht auch links liegen lassen.
Im wirklichen Leben der Siebziger, in der schwarzweißen Männerwelt des St. James Park in Newcastle an einem Samstagnachmittag, waren rassistische und schwulenfeindliche Übergriffe an der Tagesordnung. Manchmal wurden auch langhaarige Fußballer aus London beschimpft, weil sie ein bisschen anders aussahen oder schlicht und einfach mit der Mode gingen. Frisierte Spieler wie Rodney Marsh und Mervyn Day wurden mit dem Gegröle „Wie ist das, wenn man eine Schwuchtel ist?“ empfangen. (Manche mögen nun sagen, dass alles bloß ein Scherz war, doch ist dies dasselbe engstirnige, schwulenfeindliche Newcastle, vor dem auch Pet Shop Boy Neil Tennant in „Being Boring“ flüchtete.)
Seltsamerweise schien es jedoch gestattet, über nicht-maskuline Männer zu lachen, etwa über Stanley Baxter, der im Sunderland Empire als Mutter Goose auftrat, oder über John Inman in Are You Being Served?, über Dick Emery in Frauenkleidern, über Larry Grayson oder über die schwächlichen, aber sehr lustigen Charaktere Hawtrey und Kenneth Williams in den Carry-On-Filmchen. Vielleicht waren sie nicht „gefährlich“, wenn sie sich im Fernsehen oder auf der Bühne schwul produzierten, solange sie bloß nicht zu nahe kamen.
Als ich etwa siebzehn war, wurde meine Mutter zum ersten Mal in ein Schiedsgericht berufen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mit ein paar Schulfreunden in einem Pub im Bezirk Cowgate in Newcastle saß, als ein Mann, den wir alle aus der Kirche kannten, zu uns herkam und fragte, ob er mich einmal unter vier Augen sprechen könne. Das Ganze erschien mir äußerst seltsam. Im Vertrauen sagte er mir, dass ihn die Polizei auf einer Toilette in der Nähe der Kathedrale erwischt habe und er nun fürchte, dass meine Mutter den Fall vor Gericht verhandeln müsse. Zu meiner Schande ging ich einfach weg, wütend, verwirrt und angeekelt, und sah oder hörte nie wieder von ihm. Ich weiß nur, dass er für schuldig befunden (wenn auch nicht von meiner Mutter), abgeurteilt und von der örtlichen Presse zerrissen wurde. Er sollte den Namen unserer Kirche nie wieder beschmutzen.
Im Gegensatz zu meiner „normalen“ schwulenfeindlichen Jugend scheint Morrissey schon in einem frühen Alter über Oscar Wildes Leben bestens Bescheid gewusst zu haben. Infolgedessen hat ihn Wildes tragisches Ende zutiefst bewegt, und auch sein eigenes Leben ist eindeutig vom Schicksal des Schriftstellers beeinflusst. Von der viktorianischen Gesellschaft ausgestoßen und vom Rechtssystem angeklagt und verurteilt, fiel Wilde einer drakonischen Gesetzesänderung Ende des 19. Jahrhunderts zum Opfer, bei der die Höchststrafe für Homosexualität auf zwei Jahre Zwangsarbeit erhöht wurde. (Wilde war das einzige prominente Opfer dieser rasch vollzogenen, grausamen und ungewöhnlichen Gesetzesänderung.)1
Morrissey haben stets Menschen fasziniert, die versucht haben, ihr Leben vollkommen anders zu gestalten, selbst auf die Gefahr hin, vom System gebrochen zu werden. Diese Obsession hat seine eigenen radikalen politischen und sexuellen Ansichten geprägt. Seine gesamte Karriere hindurch hat Morrissey versucht, Künstler zu feiern, die als Ausgestoßene und Außenseiter lebten und starben.
Für die bodenständigen Konservativen des viktorianischen England (eine Philosophie, die im England der Achtziger unter Thatcher wiederbelebt wurde) war Wilde das ultimative Beispiel für jemanden, der den Status quo bedrohte: ein verheirateter Mann, der sich den herrschenden Moralvorstellungen widersetzte und durch seine Handlungen öffentliche Entrüstung hervorrief. Für Morrissey war Wilde immer der wichtigste Einfluss. Er stand für Geschmack und Mut und Schönheit und den Willen, das Establishment herauszufordern; für den Willen, anders, individuell und stark zu sein, sich der Freude und der Kunst hinzugeben und die Wahrheit zu suchen.
Gehasst für die Liebe („die Liebe, die ihren Namen nicht auszusprechen wagt“ – so die umstrittene Zeile aus Two Loves von seinem Geliebten Lord Alfred Douglas), ertrug Wilde seine zwei Jahre harter Zwangsarbeit in Pentonville, Wormwood Scrubs und schließlich in Reading Gaol, wo er seine berühmte Ballade über die Grausamkeit und Ungerechtigkeit des viktorianischen Strafsystems verfasste. Nach seiner Entlassung aus der Haft verbrachte Wilde den Rest seines kurzen Lebens mittellos und krank als Bettler in den Straßen von Paris. Viele Freunde, die nur wenige Jahre zuvor seinen brillanten Witz und seine großartigen Werke gepriesen hatten, rümpften nun über ihn, den Paria, verächtlich die Nase.
Es ist Teezeit in Wildes Hotelzimmer im Cadogan Hotel (das einst auch die Heimat von Oscars Freundin und Geliebter, der legendären Schauspielerin Lillie Langtry war). Ich esse einen Obstkuchen, während Morrissey mit einem Käsesandwich kämpft – „Gurken rühre ich nicht an“, verkündet er. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals muss der große irische Denker und Dramatiker jetzt friedlich auf seinem Pariser Knochenacker schlummern.
Erzählen Sie mir mehr über Wildes Persönlichkeit. Was war an ihm so anders, was schockierte vielleicht sogar?
Morrissey antwortet freundlich, leidenschaftlich, als ginge es um die Liebe seines Lebens: „Er war ein bemerkenswert großzügiger Mensch, eine bemerkenswert offene Persönlichkeit. Er verpackte seinen Spott zwar sehr geschickt, aber er verspottete trotzdem die britische Gesellschaft, den Adel und so weiter. Und das ist der