Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown
Erscheinungen des modernen Lebens: auf die Rassisten, Kindsmörder, korrupten Polizisten, Schläger, Schwulenhasser, Hooligans, Bandenchefs und Heuchler … Andere indes haben ihm mit derselben Vehemenz vorgeworfen, er sei nostalgisch und hänge einem mythischen England aus der guten alten Zeit nach. Das trifft jedoch ganz und gar nicht zu. Morrissey selbst kommentierte dies einmal so: „Wenn ich etwas aus den Sechzigern lobe, einen Film oder eine Platte, dann meine ich das auch so. Ich grabe keinen Wikingerhelm aus und fange an, mir irgendetwas zusammenzuträumen. Ich finde, dass es eine sehr produktive und interessante Zeit war. Insbesondere mit der Kunst ist es seit Beginn der Siebziger bergab gegangen. Die Siebziger waren grauenvoll.“
In diesem Kontext ist es unbedingt notwendig, die Ereignisse zu verstehen, die ihn als Kind in den Sechzigern und als Teenager in den Siebziger geprägt, frustriert und beeinflusst haben. Es ist nicht das harmlose, unkritische Opium fürs Volk, das Rohmaterial der vorherrschenden christlichen und heterosexuellen Populärkultur, sondern die härteren, aber reizvolleren Aspekte des wirklichen Lebens: der inter-rassische Sex und die Minderjährigenschwangerschaft in Bitterer Honig, der Klassenkampf der Arbeiterschaft in Samstagnacht und Sonntagmorgen, die (bis 1967) illegale Darstellung homosexueller Ängste in Filmen wie Victim oder The Leather Boys und der Aufstieg des Feminismus im Norden, verkörpert von Pat Phoenix als Elsie Tanner, die er einmal als erste „zornige junge Frau“ in der Seifenoper Coronation Street beschrieb.
Für meine Ohren und mein Verständnis wirft Morrissey einen eher realistischen denn verklärenden Blick zurück und dokumentiert durch seine Musik und Poesie viele der extremen Ereignisse und Elemente, die ihn aufgewühlt und geängstigt haben – von der durch die Regierung geschürten öffentlichen Feindseligkeit den Iren gegenüber bis zum Aufstieg rechtspolitischer Kräfte; von der organisierten Kriminalität der Krays, der Richardsons und Manchesters Quality Street Gang bis hin zu den Moormorden, die für viele das Ende aller Unschuld bedeuteten.
Im Jahre 1995 verglich Michael Bracewell im Observer Morrissey mit Alan Bennett und nannte ihn den Chronisten eines aussterbenden Britentums. Er verwies darauf, dass „er im Gegensatz zu Bennett die Existenz eines fatalen und fehlgeleiteten Nationalismus erforscht hat – die widerwärtige Politik der Perspektivlosen aus dem East End.“ Nicht alle sind in ihrer Analyse so großzügig gewesen. Anfang bis Mitte der Neunziger – exakt ein Jahrhundert nach dem Ruin Wildes – wurde Morrissey kritisiert und sogar diffamiert (insbesondere von der Musikpresse, die ihn in den Achtzigern wie einen Gott verehrt hatte), weil er das Tabuthema Rechtsextremismus auch nur angeschnitten hatte. Dabei hatte es im England seiner und unserer Jugend eine aggressive und verheerende Rolle gespielt.
Rückblickend erscheint es so, dass Morrissey sich weigerte, uns die Probleme vergessen zu lassen, mit denen wir als Nation konfrontiert waren und sind, und ganz bewusst jene durchgestylten Jubelveranstaltungen verderben wollte, deren einziges Ziel es war, Großbritannien als uneingeschränkt großartig darzustellen. Er ist ganz eindeutig jemand, den die konservative Partei Margaret Thatchers als „Nörgler“ gebrandmarkt hätte, einer jener Störenfriede, die es sich offenbar zum Ziel gesetzt haben, viele der unter den Tisch gekehrten und bewusst vergessenen Aspekte der Geschichte unseres schönen Landes ans Tageslicht zu zerren.
Meiner Meinung nach macht ihn gerade dies zu einem einzigartigen Künstler. Freilich haben auch viele andere in anderen Medienbereichen schwierige politische und soziale Probleme angesprochen, insbesondere in Film- und Fernsehdokumentationen. Doch zu wenige haben versucht, solch komplizierte und kontroverse Fragen im knappen Rahmen eines dreiminütigen Popsongs zu diskutieren.
Mehr noch: Als Sänger, Showman und Textdichter hat er sich innerhalb der Popkultur als einzigartige Stimme etabliert. Wie bei Michael Stipe, Bono, Kate Bush, James Brown, Bob Dylan, Youssou N’Dour, Al Green, Van Morrison, Stevie Wonder, Nina Simone, Brian Wilson, Michael Jackson, John Lennon (und ich würde hier auch Phil Ochs, Ismael Lo, Pete Docherty, Richard Hawley und Sandy Denny nennen, um vollends subjektiv zu werden) erkennt man Morrisseys Stimme sofort, wenn man sie hört. Sie wurde oft imitiert, aber nie erreicht – nicht einmal von Bernard Manning bei seiner bemerkenswerten Coverversion von „Girlfriend In A Coma“. Selten hat Morrissey die Widersprüchlichkeiten seines Privatlebens zur Werbung für sein Produkt ausgenutzt. Seine provokativen Interviews, sein umfangreiches Werk und sein charismatischer, sich auf der Bühne windender Körper reichten aus, um sich 25 Jahre im Rampenlicht zu halten. Warum sonst wäre er 2007 nach Sir David Attenborough, aber noch vor Sir Paul McCartney zur zweitgrößten lebenden Ikone Großbritanniens gewählt worden?
Oscar Wilde sagte einmal: „Ich werde einst ein Rätsel für die Welt der Freuden sein, aber ein Sprachrohr für die Welt des Schmerzes“, und zweifellos ist Wildes Leben, seine Philosophie und sein Umgang mit der Sprache eine Blaupause für Morrisseys Karriere als Agitator in der britischen Popmusik gewesen. Wenn Wilde erklärte, das Geheimnis des Lebens sei die Kunst, dann scheint Morrissey, anders als die meisten Sterblichen, sein Leben diesem Zweck gewidmet zu haben. Bei der Lektüre dieses Buches mögen viele Leser zu dem Schluss kommen, dass er sich ein wenig zu stark an Wilde orientiert oder vielleicht zu viele Ideen geklaut und zu viel von dem viktorianischen Stil, Witz und Verve übernommen hat.
Mit den Smiths und als Solokünstler hat Morrissey aber schlicht und einfach Wildes Manifest zu seinem eigenen gemacht, es in einen zeitgemäßen Kontext gesetzt und dadurch seinem Publikum des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nähergebracht. Das geht weit über ein simples Plagiat hinaus, ist über jeglichen Verdacht des Diebstahls erhaben und nähert sich bisweilen fast einer Reinkarnation. Sicher hat sich niemand in der Geschichte der Popmusik so perfekt, so wunderbar und so erfolgreich nach dem Vorbild einer Legende aus der Vergangenheit neu erfunden. Gott allein weiß, was aus Steven Patrick Morrissey geworden wäre, hätte ihn seine Mutter nicht mit dem Wilde’schen Evangelium großgezogen.
Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass auf Morrisseys Kunst im Bereich der Popmusik einige der Wahrheiten zutreffen, die Richard Ellmann im Schlusswort seiner Biografie Oscar Wildes zum Ausdruck bringt: „Was er uns hinterlässt, ist das Bemühen, die höchste Stufe der Erzählkunst zu erreichen, die Kunst mit sozialem Wandel zu assoziieren, individuelle und gesellschaftliche Impulse zu vereinen, das Exzentrische und Einzigartige davor zu bewahren, dass es keimfrei gemacht und standardisiert wird; das Bemühen, eine Moral der Unerbittlichkeit durch eine des Mitleids zu ersetzen … Er erlangte Bewunderung und wurde gleichermaßen verunglimpft. Legenden rankten sich um ihn, aber auch üble Gerüchte. Er wurde der Sünde der Effemination und des Plagiats bezichtigt. Dass er ein ausgesprochen gütiger Mensch war, war weniger bekannt.“
Einleitung: „Das hier ist das Cadogan Hotel“
Es beginnt und endet mit Oscar Wilde.
Als ich zum ersten Mal das Foyer des berüchtigten Cadogan Hotels in der Nähe des Londoner Sloane Square betrete, sitzt Morrissey alleine in einem einzelnen Ledersessel an der Wand, hat den Kopf gesenkt und wirkt nervös. Hinter der Rezeption starrt ihn eine Empfangsdame mittleren Alters misstrauisch an, als erwäge sie ernsthaft, diesen sonderbaren Bürger Manchesters aus ihrem respektablen Etablissement entfernen zu lassen. Alte Gewohnheiten halten sich hartnäckig.
Als mich Morrissey erblickt, steht er langsam auf und sagt leise und schüchtern hallo. Obwohl ich ihn schon viele Male zuvor auf der Bühne und im Radio sprechen gehört habe, scheint seine Stimme in persona tiefer, wärmer, voller und theatralischer als gedacht. Vielleicht hatte ich ein bisschen mehr Falsett erwartet. Wenn er einem gegenübersteht, klingt er mehr wie Albert Finney, vielleicht sogar wie Ian McKellen. Mein Kollege Paul Du Noyer vom NME beschrieb seine Stimme einmal als „sanfte Pflastersteinstimme aus dem Norden“.
Nervös strecke ich Morrissey meine Hand entgegen, die er sehr zögernd ergreift, als wäre ihm diese Handlung fremd. Darauf folgt das seltsamste, halbherzigste Schütteln, das man sich nur vorstellen kann. Er beobachtet, wie sich unsere verschlungenen Hände heben und senken, dann zieht er seine Hand zurück und lässt sie hastig wieder in der Jackentasche verschwinden. Das Ganze kommt einem vor wie ein krimineller Akt.
Der Hotelportier rettet uns. Als wären wir ein Ehepaar, das nicht zusammenpasst, weist er uns beide an, ihm auf „Ihr Zimmer“ zu folgen. An Bord des scheppernden Fahrstuhls stehen wir gezwungenermaßen so dicht beieinander,