Black or White. Hanspeter Künzler

Black or White - Hanspeter Künzler


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dem Einrücken von Elvis in die Armee). Wie schon in den frühen Rhythm & Blues- und Country & Western-Jahren gab es nur noch zwei Möglichkeiten, wie Außenseitermusik einen Weg in die Pop-Charts finden konnte: Wenn die großen Plattenfirmen ihre etablierten Stars verwässerte Versionen der Underground-Hits einspielen ließen oder wenn die kleinen Fische – Sänger, Musiker, Manager, Produzenten – zur Selbsthilfe schritten und ihr eigenes, unabhängiges Plattenlabel gründeten, um ihre Platten selber an den Mann zu bringen. Eine schöne Illustration für diesen Vorgang liefert der (weiße) Comedian Tom Lehrer. Seine 1953 auf eigene Kosten aufgenommene und in Studentenkreisen populäre LP „Songs by Tom Lehrer“ wurde noch Jahre später von RCA Records abgelehnt mit dem Argument, man könne es nicht riskieren, dass die Kundschaft brüskiert werde und gar die Kühlschränke und Kochherde boykottiere, welche die Firma ebenfalls noch herstellte. Kein anderes Major-Label wollte das Album veröffentlichen, das heute zu den Klassikern des Genres zählt, und so vertrieb es Tom Lehrer weiterhin selber. Abseits der Zwänge des „Big Business“ verdrängte im Rhythm & Blues nun der Einfluss von Gospel die alten Blues-Elemente. Dadurch wurde ein neuer Stil kreiert – Soul. Sam Cooke war der erste schwarze Sänger, der Gospel auf diese Weise in die Hitparade brachte („You Send Me“, 1957). Ray Charles’s „What’d I Say“, „Shout“ von den Isley Brothers und Jackie Wilsons „Lonely Teardrops“ (Co-Autor: Berry Gordy Jr.) erschienen alle 1959 und waren weitere Meilensteine.

      Kurz nach dem Hitparadenerfolg von „Reet Petite“ saß Berry Gordy Jr. im Büro von Nat Tarnopol, der nach dem Tod von Al Green Jackie Wilson allein managte, als eine Gruppe von Teenagern zur Vorsingprobe erschien. Tarnopol schickte The Matadors alsbald weg, aber Gordy eilte ihnen nach und kam mit ihnen ins Gespräch. Erstaunlicherweise stammten die Songs der Gruppe aus der Feder des 17-jährigen Lead-Sängers William „Smokey“ Robinson. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich ein außergewöhnlich starkes Band zwischen den beiden ambitionierten Songschreibern. Gordy verbrachte Stunden damit, die ungehobelten, aber einprägsamen Lieder Robinsons so zurechtzustutzen, dass sie ins Schema eines Pop-Songs passten. Das erste erfolgreiche Resultat war im Januar 1958 die Single „Got a Job“, ein Antwort-Song auf den Silhouettes-Hit „Get a Job“ (allerdings ließ sich Gordy als alleiniger Komponist auflisten). The Matadors hießen nun The Miracles. Zur gleichen Zeit bemühte sich Gordy, Nachwuchssänger zu finden, mit denen er Demo-Aufnahmen der Songs machen konnte, die er weiterhin mit Billy Davis komponierte, um sie potentiellen Kunden vorzuspielen. Auf seiner Suche stieß er auf David Ruffin, Melvin Franklin (später beide bei den Temptations) sowie Brian und Eddie Holland. Dann kam für Berry Gordy Jr. der große Aha-Moment. Sein Bruder Robert hatte ihn dazu überredet, ihn ein Lied einspielen zu lassen, das er selber komponiert hatte, „Everyone Was There“. Die Studiomusiker waren skeptisch – sie meinten, der Song klinge „zu weiß“ für einen schwarzen Sänger. Dennoch konnte ein respektables, unabhängiges New Yorker Label gewonnen werden, die Single zu veröffentlichen. Die Radiostationen spielten sie auch häufig. Ein Auftritt in der samstagabendlichen TV-Sendung von Dick Clark sollte Robert Gordy (alias Bob Kayli) den Durchbruch sichern. Das Gegenteil passierte: Auf der Stelle interessierte sich niemand mehr für die Platte. Für Berry Gordy war klar, was passiert war: Dem schwarzen Publikum war das Stück tatsächlich „zu weiß“ (sprich: poppig), während das weiße Publikum nicht verstand, warum ein Pop-Song von einem Schwarzen gesungen wurde. Berry Gordy betrachtete die Situation aus einer anderen, geradezu revolutionären Perspektive. So gesehen war die Diskussion, ob Elvis Presley „Rock’n’Roll“ oder „Rhythm & Blues“ gesungen hat (eine Diskussion, die in gewissen Kreisen heute noch geführt wird), unsinnig: Für Gordy war die Musik von Elvis Presley schlicht „Pop“. Fortan erachtete er es als seine große Herausforderung, Popmusik zu kreieren, die von Schwarzen gesungen und gespielt wurde. Er nahm ein Darlehen von $ 1 000 aus der Familienkasse auf und startete Motown Records. Mit seiner neuen Lebenspartnerin Raynoma Liles zog er an die Nummer 2648, West Grand Boulevard, Detroit und gab dem netten Häuschen gleich einen neuen Namen: „Hitsville USA“ – es wurde das Hauptquartier des brandneuen Labels, samt Studio. Die Gebrüder Holland hatten sich unterdessen mit dem Songschreiber Lamont Dozier zusammengetan. Holland-Dozier-Holland wurden alsbald als Hausproduzenten erachtet, während aus der Feder von Smokey Robinson am laufenden Band hochklassige Schlager flossen. Ein Unterlabel – Jazz Workshop – wurde gegründet. Sein Zweck war es, den Kontakt zu lokalen Jazzmusikern aufzubauen, um jederzeit auf einen Pool von Begleitmusikern zurückgreifen zu können. Tatsächlich kristallisierte sich eine hervorragende Hausband heraus – The Funk Brothers. Die Platzverhältnisse im Studio waren prekär. Alle Beteiligten mussten flexibel, tolerant und improvisationsfähig sein. Musiker und Sänger standen sich praktisch auf den Füßen. Die Enge war dem Groove nur förderlich, denn alle hörten genau, was der andere tat, und eine heiße Passage wirkte ansteckend. Berry Gordy hatte ein geniales Auge für praktische Aspekte der Musik, die sonst niemand beachtete. So war ihm aufgefallen, dass das Autoradio zu einem der wichtigsten Pop-Medien avanciert war. Er richtete im Studio eine Anlage ein, die es ihm ermöglichte, zu testen, wie seine neuesten Aufnahmen über ein billiges Autoradio klingen würden. Er erkannte die Wichtigkeit von – schwarzen – Discjockeys und besuchte sie persönlich im Studio: Ein schwarzer Plattenlabeldirektor hatte selbst bei den Independent Labels absoluten Seltenheitswert, und Gordy konnte auf Unterstützung bauen, selbst dann, wenn seine Musik dem jeweiligen Discjockey nicht gefiel. Indem sie die Singles spielten, verpassten sie dem Motown-Sound automatisch Glaubwürdigkeit. Gordy hatte genaue Vorstellungen, wie eine Motown-Single aufgebaut sein musste. Während für die meisten zeit- und stilgenössischen Produzenten der Beat und das Image des Künstlers am wichtigsten waren, stellte er den „Song“ in den Vordergrund. Er verlangte von sich und seinen Komponisten, dass in den Texten kein überflüssiges Wort auftauchte und dass sie im Präsens geschrieben waren. Slangausdrücke waren verboten. Jeder Song musste über mehrere „Hooks“ verfügen, melodische oder textliche Momente, die unweigerlich im Ohr hängen blieben. Das konnte nebst einem eingängigen Refrain ein kurzer Bassriff sein, eine gelegentliche Bläsersalve, ein „oooh-aaaah“ von den Begleitsängern oder auch nur irgend ein Geräusch, das Gordy im Studio mit dem machte, was gerade zu Hand war. Bei den Refrains kannte Gordy keine Hemmungen: Sie wurden endlos wiederholt und durch Händeklatschen oder Perkussion noch stärker hervorgehoben. Im Oktober 1960 feierte Motown Records mit „Shop Around“ von Smokey Robinson & The Miracles den ersten Crossover-Pop-Hit. Es ist typisch für Gordy’s instinktive Sorgfalt im Umgang mit Details, dass die zuerst in Detroit veröffentlichte Lokalversion 3’04 dauerte, die nationale Popversion hingegen nur 2’50. Auch das ein Motown-Credo: Die Singles mussten zu kurz sein, damit sie jeder gleich nochmal hören wollte. Innerhalb kürzester Zeit hatte Gordy zehn Künstler um sich geschart, welche ohne weiteres imstande waren, die Pop-Top-10 zu knacken: The Temptations, The Miracles, The Four Tops, Marvin Gaye, Junior Walker, Stevie Wonder, Mary Wells, The Marvelettes, Martha and the Vandellas (Martha Reeves hatte als Sekretärin im Büro von Hitsville USA gearbeitet) und The Supremes. In den Popcharts von 1964 gehörte Motown zu den drei erfolgreichsten Plattenfirmen. In der Tat war der Motown-Sound nun dermaßen omnipräsent, dass die Fachzeitschrift Billboard die separaten R&B-Charts eine Zeitlang einstellte. Während der ersten zehn Schaffensjahre gelangen Motown Records nicht weniger als 79 Top-10 Crossover-Pop-Hits. Weil Gordy zudem nicht nur ständig neue Stimmen suchte, sondern auch junge Songschreiber, die er heranziehen konnte, blieb der Nachschub an Songs frisch. Der Ruf von Motown garantierte, dass jedes lokale Jungtalent zuerst hier anklopfte. Vor Motown hatte es kaum ein schwarzer Künstler über das Chitlin’ Circuit hinaus geschafft, jetzt füllten sie die gleichen Hallen wie alle anderen Top-Stars. Motown profitierte vom Erfolg der Beatles. Mit ihrer so stark vom Rhythm & Blues beeinflussten Musik weckten die Beatles bei ihren Altersgenossen das Interesse an diesem Musikstil, zumal die ersten Beatles-Singles in den USA auf dem unabhängigen R&B-Label Vee-Jay erschienen waren und John Lennon Smokey Robinson als Lieblingssänger nannte. Dank der Gehhilfe der Beatles fanden weiße amerikanische Popfans den Zugang zum Pop von Motown leichter (raubeinige Gruppen wie die Rolling Stones, die Yardbirds und Them verhalfen Ike & Tina Turner, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf zu einem neuen Publikum). „Mir gefällt es nicht, wenn man unsere Musik „schwarze Musik“ nennt“, sagte Berry Gordy Jr., „Ich ziehe es vor, sie als Musik mit schwarzen Stars zu bezeichnen.“ Er war überzeugt, dass 70% aller Motown-Platten von weißen Musikfans gekauft wurden. Das war für ihn ein Zeichen des Erfolges. „Was


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