Black or White. Hanspeter Künzler
praktisch unmöglich machte (die Töchter im Haus sollen von seinem Radar schon gar nicht mehr erfasst worden sein). So habe es das Wort „Daddy“ im Haus der Jacksons nicht gegeben, sagte Michael im Interview mit Martin Bashir: „Für dich bin ich Joe“, habe es geheißen. „Darum will ich es mit meinen eigenen Kindern anders machen. Meine Kinder sollen einen ‚Daddy‘ haben.“ Er habe seinen Vater nie richtig zu verstehen gelernt, schreibt Michael in den Memoiren: „Es gehört zu den wenigen Dingen, die ich sehr bedaure in meinem Leben. Nämlich, dass es mir nie gelungen ist, eine engere Beziehung aufzubauen mit ihm. Über die Jahre hinweg hüllte er sich in eine undurchdringliche Schale. Von dem Moment an, in dem wir aufhörten, über das Familiengeschäft zu reden, fand er es schwierig, einen Bezug zu uns herzustellen. Wenn wir alle beisammen waren, hat er einfach den Raum verlassen.“
Nie wird Michael Jackson müde, die Vorzüge seiner Mutter Katherine zu preisen. „Es ist eine alte Story“, heißt es in „Moonwalk“: „Jedes Kind glaubt, seine Mutter sei die beste Mutter auf der ganzen Welt. Wir Jacksons haben dieses Gefühl nie verloren. Wenn ich an die Güte, Wärme und Aufmerksamkeit von Katherine denke, kann ich mir nicht vorstellen, was es heißt, ohne die Liebe einer Mutter aufwachsen zu müssen.“ Katherine scheint die Gewalttätigkeit ihres Ehemannes mit erstaunlichem Gleichmut hingenommen zu haben – zumal Joseph sie selber mehr oder weniger in Frieden ließ nach einer frühen Episode, in der sie angedroht hatte, ihn zu verlassen. Auch scheint der Mann eine Art Dr. Jekyll/Mr. Hyde-Figur gewesen zu sein, die insbesondere im Umgang mit Frauen, die ihm gefielen – und dazu gehörte durch dick und dünn auch Katherine – mächtig den Charme aufdrehen konnte.
Katherine verfügte über starke religiöse Überzeugungen und wollte schon deswegen keine Trennung oder gar eine Veränderung in den viktorianischen Machtverhältnissen in ihrem Haushalt. So ist es bezeichnend, dass sie sich 1963 während einer Zeremonie in der Roosevelt High School zur Zeugin Jehovas taufen ließ. Die Sekte versteht sich als Gottes Organisation auf Erden und glaubt, der Mann sei durch göttliche Anordnung zum Oberhaupt der Familie bestimmt und als solches für alle Beschlüsse zuständig. Zuvor hatte Katherine den Baptisten, dann der lutheranischen Kirche angehört – aus beiden war sie ausgetreten, weil sie herausgefunden hatte, dass ihre Pfarrer außereheliche Affären hatten. Rebbie, LaToya und vor allem Michael waren die einzigen Sprösslinge, die in der Folge gern mit der Mutter am Sonntag die Gottesdienste in der örtlichen „Kingdom Hall“ besuchten – Joe und den anderen waren die Predigten zu langweilig. Die Zeugen Jehovas sind überzeugt, alle Aspekte ihres Glaubens aus Bibelzitaten herleiten zu können. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist ebenso strikt verboten wie Masturbation, Homosexualität, Alkohol, Tabak und andere Drogen. Verboten ist auch Götzenverehrung – es bedeutet, dass Jehovas Zeugen keine Flagge grüßen. Im neunzehnten Jahrhundert vermochte die Sekte einigen Einfluss auf gewisse Formulierungen in der amerikanischen Verfassung auszuüben, nicht zuletzt im Zusammenhang von Militärdienst und Gewissensfragen; Zeugen Jehovas sind seither von der Militärpflicht befreit. Konsequente Zeugen Jehovas verweigern jegliche Form von Bluttransfusion. In den Augen der Zeugen Jehovas wird die Welt derzeit von Satan regiert, der schon Adam und Eva mit seiner Schlauheit auf Abwege geführt hat. Bald aber werde die Erde durch einen von Gott geführten Weltkrieg und der alles entscheidenden Schlacht von Armageddon von ihrem Joch befreit. Exakt 144 000 Auserwählte – ausschließlich Zeugen Jehovas – würden danach im Himmel an der Seite Gottes Gutes leisten. Eine zweite Klasse von Glaubenden werde auf Erden paradiesische Zustände ohne Krankheiten, Gebrechen und anderes Elend erleben. Die Vorstellung eines solchen spirituellen Schlaraffenlandes ist nicht so weit entfernt von der Geschichte von Peter Pan, dem Knaben, der sich weigert, aufzuwachsen, und in seinem Neverland auf ewige Zeiten kindlichen Abenteuern nachhängt. Sie wird auf den fünfjährigen Michael Jackson mächtig Eindruck gemacht haben, so, wie sich jedes Kind in dem Alter von „großen“ Storys packen lässt.
Im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern, die doch schon auf einige Erfahrung im Umgang mit anderen Kindern und Lebenshaltungen zurückblicken konnten, war seine Welt zu dem Zeitpunkt fast ausschließlich auf die vier Wände des Bungalows an der 2300 Jackson Street beschränkt gewesen. Es erfordert keinen großen Gedankensprung, sich vorzustellen, wie intensiv Klein Michael, für den die Mutter alles bedeutete, dem Weltbild der Zeugen Jehovas Glauben schenken wollte. Wie verquer Michaels Verhältnis zu seiner Umwelt zu diesem Zeitpunkt war, zeigt eine Anekdote aus seinen Memoiren. Am Ende des Schuljahres, so erzählt er, hätten die Lehrerinnen geweint, wenn sie von ihm Abschied nehmen mussten. Die Zuneigung dieser Lehrerinnen war ihm derart wichtig, dass er ihnen zum Geschenk Schmuckstücke brachte, die er aus der Schatulle von Katherine stibitzt hatte: „Dass ich diesen Drang verspürte, ihnen etwas zurückzugeben für all das, was ich von ihnen erhalten hatte, zeigt wie sehr ich sie und die Schule liebte.“
Drei Stunden täglich dauerten die Proben der Jackson Brothers unter der Ägide Josephs. Zum Spielen im herkömmlichen, kindlichen Sinn blieb wenig Zeit. Wenn Joseph auf dem Heimweg von der Arbeit um die Ecke kurvte, ließen seine Söhne alles stehen und fallen. Wenn sie nicht bereit standen, sobald Joseph mit der Probe loslegen wollte, drohte „Trouble“. Michael, so sind sich alle Beteiligten einig, legte am meisten Enthusiasmus an den Tag. Dazu verfügte er über eine frappierende Fähigkeit, Gesten, Tanzschritte und gesangliche Tricks im Nu nachzuahmen. „Wenn es mir gelang, Jermaine nachzumachen, erntete ich ermunterndes Gelächter, wenn ich zu singen anfing, dann hörte man mir zu.“, schreibt Michael. Das Repertoire der Gruppe bestand aus Rhythm & Blues- und Soul-Hits, die sich zumeist um die üblichen, weltlich-fleischlichen Themen drehten. Der Knirps verstand die wenigsten Texte, aber sein Imitationstalent erlaubte es ihm zu lernen, wie er diese selbst mit seiner Babystimme einigermaßen glaubwürdig interpretieren konnte. Oder wenigstens so, dass sie trotz der unfreiwilligen Komik in der Situation, dass ein Kind Lieder mit der Thematik von Erwachsenen sang, nicht einfach nur ulkig wirkten. Die Nachbarjugend zeigte wenig Respekt vor den Ambitionen der Jacksons: Manchmal wenn sie zu üben anfingen, flogen Steine auf den Bungalow. Joseph Jackson investierte jeden Cent in die Zukunft seiner Söhne (und damit der Verwirklichung seiner eigenen Träume). Katherine wehrte sich dagegen. Während sie sich die größte Mühe gab, aus Zutaten wie „Chitterlings“ (geschmorte Innereien vom Schwein, ein traditionelles Gericht aus der „Soul Food“-Cuisine, der afro-amerikanischen Kochkultur), Kohl und dergleichen ungeliebtem Billigstgemüse einigermaßen schmackhafte Mahlzeiten auf den Tisch zu zaubern, kam Joseph laufend mit neuen Instrumenten und Mikrofonen heim. Er kümmerte sich nicht um ihre Einwände: „Ich war das Haupt der Familie. Ich hatte das letzte Wort. Ich habe Katherines Meinung in der Sache schlicht übergangen.“ Sein Weitblick – nicht zu reden von seiner Investition – zeigte Früchte. Zum Beispiel hatte er Mikrofone vor seine Söhne hingestellt, lange bevor sie diese wirklich gebraucht hätten. Als sie nun anfingen, sich an Talentwettbewerben zu beteiligen, zeigte sich, dass er ihnen damit zu einem unbezahlbaren Vorteil verholfen hatte. Die wenigsten Konkurrenten waren an den Umgang mit dem Mikrofon gewöhnt. Die Jacksons hingegen wussten nicht nur, wie man es am besten in der Hand hielt, sondern sie konnten es noch showgerecht durch die Luft schwingen. Vater Jackson verfügte zudem über ein für seine Generation ungewöhnlich offenes Ohr. Wenn Smokey Robinson und seine Miracles „Tracks of My Tears“ sangen, lauschte er mit genauso viel Aufmerksamkeit wie seine Söhne. „Obwohl er mit seiner Band den Chicago-Sound von Muddy Waters und Howlin’ Wolf pflegte“, erinnert sich Michael, „erkannte er, dass die beschwingteren, gradlinigeren Sounds, die uns Kids gefielen, durchaus ihren Reiz hatten. Wir hatten Glück, denn es gab Leute in seinem Alter, die nicht so hip waren. Wir kannten einige Musiker, die der Überzeugung waren, der Sixties-Sound sei unter der Würde von Männern in ihrem Alter. Dazu gehörte unser Vater nicht.“ Am Wochenende unternahm Joseph regelmäßig musikalische Entdeckungsreisen in die Clubs von Gary und Chicago. Am Sonntag konnte er es kaum erwarten, dass Michael vom Gottesdienst heimkam, um ihm von seinen neuesten Entdeckungen vorzuschwärmen. „Von der Kirche direkt ins Showbusiness, das war mein Sonntag“, hat Michael lakonisch festgestellt.
Im Frühjahr 1965 traten die Jackson Brothers erstmals in der Öffentlichkeit auf. Während einer Modenschau für Kinder trugen sie drei Lieder vor, darunter „Doin’ the Jerk“, ein brandneuer Hit von Don Julian &