Black or White. Hanspeter Künzler

Black or White - Hanspeter Künzler


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der Reformschule entlassen, wo er wegen Diebstahls gelandet war. Er trat den Gospel Starlighters bei, die sich zur R&B-Combo The Flames wandelten und dann und wann die vorderen Positionen in den R&B-Charts erreichten. Erst 1960 war die Band aber richtig etabliert, 1962 kam das wichtige Album „Live at the Apollo“, das Brown selber finanzieren musste, weil niemand daran glaubte, dass sich ein Live-Album verkaufen lassen würde. Jetzt warf Brown die letzten Fesseln ab, die ihn mit der konventionellen schwarzen Pop-Musik verbanden. Seine Rhythmen wurden vertrackter, sein Gesang noch emotionsgeladener, die mit militärischer Präzision einstudierten Bläsersätze verbreiteten nichtsdestotrotz ein Gefühl von cooler, jazziger Anarchie. Im Juni 1965 veröffentlichte er die bahnbrechende Single „Papa’s Got A Brand New Bag“ (auf der B-Seite fand sich schlicht die Fortsetzung der A-Seite!), die gemeinhin als die Geburtsstunde des Funk gilt.

      Die Tatsache, dass Michael den wahren Sinn der Texte, die er sang, nicht verstand – und dies auch wahrnahm –, beeinflusste seine Karriere nachhaltig. Weil er sich bei seiner Lied-Interpretation nicht an die ihm rätselhaften Worte halten konnte, klammerte er sich umso stärker an die Ausdrucksmöglichkeiten von Tanz und Bühnenpräsentation. Deswegen war für ihn das Vorbild von James Brown besonders wichtig. Dessen klingenscharfe Tanzeinlagen waren kaum weniger atemberaubend und flexibel als sein Gesang. „Bis dahin hatte es sehr wohl Sänger gegeben, die auch tanzen konnten, und Tänzer, die auch sangen“, schreibt Michael. „Aber wenn man nicht Fred Astaire oder Gene Kelly war, konnte man das eine besser als das andere, besonders bei einem Live-Auftritt. Mit James Brown änderte sich das. Wenn er über die Bühne schlitterte, kam ihm kein Spotlight nach. Die ganze Bühne musste mit Scheinwerferlicht getränkt werden, damit man nichts verpasste. So gut wollte auch ich sein.“ Damit machte der kleine Jackson aus der Not – er verstand die Worte nicht, die er sang – ein Credo. Was zählte, war nicht der eigentliche Inhalt der Worte, die es zu singen galt, sondern die Wirkung dieser Worte sozusagen als klangliches Tanzelement im Rahmen der Gesamtshow. Künstler wie Bruce Springsteen und U2, so heißt es in „Moonwalk“ weiter, hätten ihr Metier „wohl auf der Straße“ gelernt (sprich: es gehe solchen Künstlern darum, die Gefühle des Alltages zu reflektieren). Der Ton der Passage deutet an, dass Jackson eine solche Perspektive nicht nur fremd war, sondern geradezu unverständlich. Er, Michael Jackson, sei im Herzen ein Performer – er habe seine Bildung am Bühnenrand genossen. Darin bestand für ihn die wahre Lehre der Bühnenkunst. Oft spricht er von seiner Idealvorstellung einer Show. In seinen Augen soll eine Show den Zuschauer so unwiderstehlich mit sich reißen, dass dieser in eine magische Überwelt transportiert wird, wo alle Sorgen von ihm abfallen, um ihn in eine Zustand unverbrämter Ekstase zu versetzen. Ein bisschen wie in der post-armageddonhaften Weltordnung der Zeugen Jehovas. Oder in einer Geschichte wie Peter Pan.

      Andere Bands verbreiteten alsbald das Gerücht, beim Sänger der Jackson 5 handle es sich um einen 42-jährigen Zwerg. Als dies zum ersten Mal an sein Ohr drang, brach Michael in Tränen aus. Sein Vater sei vor ihm auf die Knie gefallen, damit ihre Gesichter auf gleicher Höhe gewesen seien, und habe ihm erklärt, es sei dies doch ein großes, indirektes Kompliment! Es bedeute, dass die Leute nicht glauben könnten, ein neunjähriger Junge könne singen und tanzen wie er. Michael erzählt die Anekdote noch heute bei jeder Gelegenheit. Es ist eine der wenigen Erinnerungen, aus denen der Vater als ein Mensch mit Mitgefühl hervorgeht. Im Herbst 1967 brachte Joseph Jackson Demo-Aufnahmen von neuen Songs nach Hause, die ein gewisser Gordon Keith komponiert hatte. Dieser war wie Joseph in den Stahlwerken tätig, hatte sich aber ein kleines Studio eingerichtet und hegte Ambitionen, sich als Produzent und Songschreiber nach dem Vorbild von Berry Gordy zu etablieren. Er machte seine Absichten mit dem Namen deutlich, den er seinem Studio und seinem frisch aus der Taufe gehobenes Plattenlabel gab, „Steeltown“. Keith gab den Jackson 5 eine Woche Zeit, einige seiner Songs einzuüben. Die Resultate gefielen ihm. Daraufhin lud er die Band ein, ein paar Samstage lang in seinem Studio Aufnahmen zu machen. Er heuerte für die Sessions sogar Bläser und Begleitsängerinnen an. Die erste Jackson 5-Single hieß „Big Boy“ und erschien im Januar 1968 auf Steeltown Records. Gordon Keith schaffte es, mit der Plattenfirma Atco einen Vertrag für einen landesweiten Vertrieb abzuschließen. Die Aufnahme tat Michaels Stimme keinen Gefallen, aber ein knackiger Bass-Riff von Jermaine sorgte dafür, dass sich das Stück dennoch zum Lokalhit mauserte. Gordon Keith und seinem Geschäftspartner Ben Brown sei eine Foto-Session mit der Familientruppe in besonders guter Erinnerung geblieben, schreibt J. Randy Taraborrelli in seiner monumentalen Michael Jackson-Biographie. Nachdem sich die Boys den Anweisungen des Fotografen entsprechend hingestellt hätten, habe sich Michael plötzlich schmollend abgewendet. So gebe das höchstens ein Familien-Porträt und ganz bestimmt nicht eine glamouröse Publicity-Aufnahme ab. Joseph hielt seinen selbstbewussten Sohn dazu an, die Gruppe nach seinen eigenen Vorstellungen umzustellen. Dieser platzierte sich selber im Vordergrund, wo er eine lässige James Brown-Pose einnahm – und das war denn auch genau die Aufnahme, die es für einen appetitanregenden PR-Text brauchte. „Er war eine so reife Seele, dass es den Anschein machte, er sei schon in einem früheren Leben ein Superstar gewesen“, sagte Ben Brown, der in späteren Jahren für die Jackson-Familie arbeitete.

      Im Mai 1968 durften The Jackson 5 ein weiteres Mal im Apollo auftreten – diesmal gegen Bezahlung. Etta James trat als Hauptattraktion auf, und wiederum stand Klein Michael hinter der Bühne und verfolgte jede Bewegung mit. Etta James ging das auf die Nerven und sie verscheuchte den Dreikäsehoch mit den großen Augen. Nach der Show klopfte Michael an ihre Tür, um sich zu entschuldigen. James sei vom Charme und dem abgeklärten Selbstbewusstsein des Buben derart angetan gewesen, dass sie ihn zu einer Privatlektion in Sachen Bühnenkunst in ihre Garderobe bat. Die Jackson 5 nahmen noch eine zweite Single für Steeltown Records auf, „We Don’t Have To Be Over 21 (To Fall in Love)“. Ob sie überhaupt zu diesem Zeitpunkt je erschienen ist, bleibt unklar – denn jetzt überstürzten sich die Geschehnisse. Im Juli wurden die Jackson 5 von Bobby Taylor & The Vancouvers eingeladen, im High Chaparral Club in Chicago ihr Vorprogramm zu bestreiten. Die Band war Taylor im Verlauf einer weiteren „Battle of the Groups“ im Regal Theater aufgefallen. Wie Gladys Knight waren auch die gemischtrassigen Kanadier bei Motown unter Vertrag. Taylor war von den Jacksons so beeindruckt, dass er Ralph Seltzer anrief, den Direktor der „kreativen Abteilung“ von Motown, und ihm dringlich empfahl, die Gruppe zu einer Vorspielprobe ins firmeneigene Studio in Detroit einzuladen. Seltzer war nicht auf Anhieb begeistert von der Idee. Schließlich klang das Konzept einer Familiengruppe mit einem neunjährigen Lead-Sänger doch sehr nach „Gimmick“. Außerdem konnte es gut sein, dass die Boys nach dem Stimmbruch nicht mehr zu gebrauchen waren, da wäre dann jede Aufbauarbeit verschwendete Liebesmühe gewesen. Aber er ließ sich von Taylor überreden. Daheim bei den Jacksons herrschte schon große Aufregung. Die Band war eingeladen worden, nach New York zu fahren, um in der TV-Show von David Frost aufzutreten. Alle waren sie sich einig, dass dies den Start zu einem großen Durchbruch darstellte. Als die Boys samt Aufgaben, die ihnen die Lehrer speziell für den Trip nach New York zusammengestellt hatten, aus der Schule heimkamen, wurden sie von Joseph kurz und trocken informiert, die Reise sei abgeblasen. Nach einer Kunstpause, während deren den Boys das Herz in die Hosen rutschte, fügte er hinzu: „Motown hat angerufen.“ Ein kalter Schauer sei ihm da den Rücken hinuntergefahren, schreibt Michael. Am 23. Juli 1968 erschienen die Jacksons zur Vorspielprobe bei Motown Records in Detroit.

      (Fußnote: es ist nicht einfach, aus den diversen Beschreibungen der frühen Tage der Jacksons die richtige Variante auszusuchen. So könnte man aus „Moonwalk“ schließen, die Single „Big Boy“ sei vor dem dreifachen Talentshow-Triumph in Chicago und dem Auftritt mit Gladys Knight erschienen – aber es ist erwiesen, dass „Big Boy“ erst im Januar 1968 veröffentlicht wurde, während aber der „neue“ Gladys Knight-Song „I Heard it Through The Grapevine“ bereits im September 1967 in die Läden kam. Anderen Quellen zufolge fand das Superdogs Final im Apollo erst am 14. Februar 1968 statt. Wieder andere behaupten, Joseph sei mit den Boys ohne Einladung von Motown auf Geheiß von Bobby Taylor nach Detroit gefahren. Taylor soll darauf bestanden haben, dass Suzanne de Passe – eine Nachbarin, die vor wenigen Wochen eine Stelle bei Motown angetreten hatte – einer Accapella-Darbietung der Jacksons beiwohnte; daraufhin habe diese postwendend eine offizielle Vorspielprobe organisiert.)

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