Der Brockopath. Marie Kastner

Der Brockopath - Marie Kastner


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Wetterbedingungen wohl kaum erfüllen. An klaren Tagen konnte man leicht bis zum Großen Inselsberg in Thüringen, dem Köterberg im Weserbergland, und, auf der anderen Seite, zum Petersberg nördlich von Halle an der Saale schauen, gelegentlich sogar die Umrisse der Rhön und des Rothaargebirges erkennen. Doch am heutigen Feiertag war in punkto Aussicht definitiv nichts drin, das wusste Sven aus Erfahrung.

      Der als ›Brocken‹ bezeichnete Berg ist mit seinen 1.141,2 Metern, gemessen am höchsten Punkt seines Gipfelplateaus, die höchste Erhebung in Norddeutschland. Das raue, unwirtliche Klima wirkt sich massiv auf Flora und Fauna aus. An der Kuppe überleben keine Wälder, und daher findet man oberhalb einer Grenze von rund 1.050 Metern allenfalls kleinwüchsige Fichten und vereinzelte Zwergbirken, Sträucher sowie niederen Heidebewuchs mit Kräutern, Gräsern und Moosen vor. Einige der Arten sind vom Aussterben bedroht.

      Erhardt richtete sich nach einer weiteren halben Stunde Plackerei auf, stützte beide Hände in die Nierengegend und drückte stöhnend den schmerzenden Rücken durch. Den Greifer konnte man leider nur für Papier und kleinere Gegenstände nutzen, ansonsten kam man ums Bücken nicht herum. Das hinterließ in seinem Alter zunehmend Spuren.

      Sven bemerkte es, hielt bei der Arbeit inne.

      »Sollen wir eine kurze Pause einblenden? Ich habe eine Thermoskanne mit Kaffee dabei. Daniel öffnet seine Pforten ja leider erst später. Der wird noch in den Federn liegen.«

      Erhardt nickte dankbar. Sven war halt doch eine gute Haut.

      »Das wäre super! Gehen wir am besten einen Moment rüber zum Hexenaltar. Der flache Felshaufen taugt prima als Tischplatte. Der Teufel wird uns diese Zweckentfremdung bestimmt nachsehen … nun ja, das hoffe ich jedenfalls«, entgegnete er augenzwinkernd.

      Die etwa gleich großen Männer setzten sich in Bewegung. Vor den Gesichtern sah man immer noch die weißliche Fahne des Atemhauchs. Es wollte einfach nicht wärmer werden.

      Sie wussten beide genau, wo der sogenannte Hexenaltar lag, konnten ihn jedoch wegen der Nebelschwaden nicht entdecken. Erst kurz bevor sie direkt davorstanden, schälten sich die Umrisse schemenhaft aus dem milchigen Dunst. Von der umliegenden Berglandschaft des Harzgebirges war hingegen keine Spur zu erkennen, hierfür war die Suppe zu dicht.

      Aber etwas stimmte da nicht. Die Oberfläche des Hexenaltars schien heute keineswegs von flachen Felsblöcken gekrönt, sondern erhöht und sehr unregelmäßig geformt zu sein. Man sah lediglich verschwommene Konturen.

      »Was, zum Geier, ist das wieder … !«, murmelte Erhardt Wolters und hegte bereits eine gehörige Ladung Groll in der Brust, weil er eine weitere Müllablagerung hinter dem Gesehenen vermutete. Sein chronisches Magengeschwür machte sich unangenehm bemerkbar.

      Wenn das so weiter geht, werden wir vormittags gar nicht mehr fertig … alle Welt hat am Maifeiertag frei, nur wir dürfen in dieser eisigen Einöde Dreck wegräumen, dachte er missmutig. Wütend stapfte er zum vermeintlichen Abfallberg, gefolgt von Sven, der die Handschuhe ausgezogen hatte und sich die kalten Hände rieb.

      Doch Wolters täuschte sich, und zwar gewaltiger, als ihm lieb sein konnte. Es handelte sich bei der Auflage des Hexenaltars nämlich keineswegs um Abfälle.

      Als die Wernigeröder Arbeitskollegen in grauenhafter Deutlichkeit erkannten, was man da in der vorangegangenen Walpurgisnacht auf der charakteristischen Felsformation abgelegt hatte, stockte beiden vor Entsetzen der Atem. Mit einem scheußlichen Knacksen zerbrach der Stiel eines morschen Reisigbesens unter Svens stahlbewehrtem Arbeitsschuh.

      Die gestandenen Kerle zuckten jäh zusammen und verließen fluchtartig den Schauplatz des Schreckens. Der ›Tag der Arbeit‹ war für sie gelaufen.

      *

      Der Anruf kam zur Unzeit. Kommissar Bernd Mader hatte am Feiertag endlich einmal ausschlafen und die restliche Freizeit zur Renovierung des unansehnlichen Bauernhauses nutzen wollen, welches er seit sechseinhalb Wochen als Single bewohnte.

      Seit er in dieses marode Anwesen in Sachsen-Anhalt umgezogen war, nutzte er jede freie Minute, die ihm sein aufreibender Schichtdienst ließ, Haus und Hof wieder halbwegs bewohnbar zu machen. Kein leichtes Unterfangen, wie ihm zwischenzeitlich bewusst geworden war. Aber die angeranzte Bude am finsteren Ende der Welt hatte nun mal seiner Lieblingsoma gehört und er hatte diese fragwürdige Erbschaft spontan und aus purer Sentimentalität angenommen.

      »Kein Wunder, dass das nahe Dorf ›Elend‹ heißt. Nomen est omen, wie der Lateiner sagt. Die Leute werden sich bei der Namensfindung schon was gedacht haben«, hatte der Polizeibeamte voller Sarkasmus nach dem Einzug in seinen Bart gebrummt.

      »Und die Ortschaft ›Sorge‹ liegt auch nicht sehr weit von ›Elend‹ entfernt, es ist also fast wie im richtigen Leben.«

      Wenige hundert Meter vor der verwitterten Haustür verlief die Landesgrenze zu Niedersachsen und bis zur Wende war jenseits davon wirklich eine terra incognita gelegen. Seine Oma hatte die unbekannte Hochburg des Kapitalismus hinter den Grenzzäunen damals teils mit sozialistisch korrektem Schaudern, teils mit Neugierde betrachtet.

      Heutzutage allerdings kam es ihm, ihrem einzigen Enkelsohn, geradezu unwirklich vor, dass Deutschland jemals in zwei Hälften geteilt gewesen sein sollte. Ost und West waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten wie ungleiche Geschwister zusammengewachsen. Nur wenige Spuren des Sozialismus erinnerten die ortsansässige Bevölkerung jetzt noch an die dunkle Vergangenheit, doch in den Köpfen und Herzen mancher Leute mochte es ganz anders aussehen, was besonders für die sogenannten ›Wendeverlierer‹ galt. Manch einer hatte im alten System einen Job und sein Auskommen gehabt, war in den Neunzigern aber von der monetären Brutalität des kapitalistischen Systems überrollt worden. Nun sorgte der Sozialstaat für diese Leute.

      Was es tatsächlich bedeutete, in der kalten Jahreszeit am Fuße des Brockens zu wohnen, hatte er heillos unterschätzt. In seiner Kindheit war er während der Schulferien gerne hierher auf Besuch gekommen, war durch den halb verwilderten Garten voller wildwachsender Blumen, Erdbeerbeete und Johannisbeersträucher gestreift und auf sämtliche Bäume geklettert. Wenn Oma ihn früher zum Abendessen suchte, musste sie den Blick fast immer nach oben richten, wo er dann meist zerschrammt und schmutzig auf einem Ast saß.

      Durchwegs positive Erinnerungen fanden sich an jenes kleine, geduckt unter einer monströsen Fichte dastehende Bauernhaus mit den moosigen Dachschindeln, das früher noch nicht einmal über fließendes Wasser oder einen Kühlschrank verfügt hatte.

      Selbst das hölzerne Plumpsklo auf dem Hof war ihm als Junge abenteuerlich und irgendwie urig vorgekommen.

      Inzwischen gab es zwar ein bescheidenes Badezimmer sowie Stromund Wasseranschluss – aber das waren auch so ziemlich die einzigen Modernisierungsmaßnahmen, die seine Großmutter mit ihrer schmalen Witwenrente in Angriff nehmen hatte können. In diesem bescheidenen Haus war Oma Frieda 1929 geboren worden und hier war sie im vergangenen Februar im Alter von siebenundachtzig Lebensjahren plötzlich und unerwartet verstorben, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Großvater.

      Ihn gruselte immer noch ein wenig bei der Vorstellung, dass ihre Leiche nach einem Hirnschlag drei Wochen lang auf dem Küchenfußboden gelegen hatte, bis der Briefträger wegen des gekippten Küchenfensters auf den süßlichen Verwesungsgeruch aufmerksam geworden war und die Behörden alarmiert hatte.

      Auch wenn er als Kripobeamter durchaus an ekelhafte Anblicke gewöhnt war – die eigene Oma hätte er doch nicht madenübersät vorfinden wollen. Er behielt sie lieber so in Erinnerung, wie er sie als Junge gekannt hatte. Eine dickliche, stets fröhliche, aber resolute Frau war sie gewesen, die ihm gelegentlich auch schon mal den Hintern versohlte. Vermutlich hatte er, der ungezogene Lausbub, es wirklich gebraucht, dass man ihm ab und zu den Hosenboden stramm zog … na, jedenfalls hätte er ihr ein solches Ende nie und nimmer gewünscht. Wenigstens war es schnell zu Ende gegangen, sie hatte nicht leiden müssen.

      Mader schüttelte das ekelerregende Bild ab, das sich vor seinem geistigen Auge zusammengefügt hatte, setzte sich widerwillig im Bett auf, streckte sich vorsichtig und gähnte. Sein steifer Nacken hatte sich über Nacht trotz des großzügig aufgetragenen


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