Der Brockopath. Marie Kastner

Der Brockopath - Marie Kastner


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zu bestaunen. Es thront markant über dem Stadtbild und ist schon aus der Ferne gut zu erkennen. Durch die günstige Lage auf der Regenschattenseite des Harzes ist die Stadt begünstigt; es fällt verhältnismäßig wenig Regen und gelegentlich profitiert sie von Föhnwetterlagen, ähnlich dem Voralpenland.

       Das heutige Revierkommissariat befindet sich in einem Gebäudekomplex auf dem Gelände des ehemaligen Nicolaihospitals, das beim großen Stadtbrand 1851 vernichtet worden war. Das denkmalgeschützte, dreigeschossige Hauptgebäude wurde an seiner Stelle im klassizistischen Baustil mit einfachem, funktionalem Fachwerk errichtet.

       Bis zum Jahr 1873 hatte sich direkt davor noch die Nicolaikirche befunden, die aber komplett abgerissen wurde. Noch heute sind deren einstige Grundrisse im Pflaster des heutigen Nicolaiplatzes zu erkennen.

      

      »Stimmt, von außen sieht die Dienststelle gut aus. Aber innen ähneln sich wahrscheinlich alle Polizeibehörden. Kaltes Neonlicht, unmoderne Büromöbel … ich wollte, man würde für die Sicherheit der Bürger ein wenig mehr Steuergelder locker machen. Finanzminister Schäuble soll sich seine heilige ›schwarze

      Null‹ sonst wohin stecken«, brummte Kommissar Mader. Momentan weilte er alleine im Zimmer und in solchen Momenten verfiel er oft in sarkastische Selbstgespräche.

      Er riss sich aus seinen negativ angefärbten Gedankengängen, trat vom Fenster zurück und griff missmutig nach seiner frisch angelegten Fallakte, die bis dato lediglich einen Bericht und ein paar Fotos enthielt. In fünf Minuten musste er sich im Besprechungsraum einfinden und sich über die ersten Ermittlungsergebnisse der Spurensicherung aufklären lassen.

      Bei dieser Gelegenheit konnte er auch gleich die Sonderkommission ins Leben rufen. Er würde einige ausgewählte Beamte ausschließlich auf den mysteriösen Brockenmord ansetzen und sie von ihren übrigen Pflichten befreien, damit sie sich ungestört darauf konzentrieren konnten. In Dresden war sowas gang und gäbe, meistens mit effektiven Ergebnissen gesegnet gewesen.

      Sein Vorgesetzter Walter Remmler hatte zwar bei der Berichterstattung heute Morgen die Stirn ob dieses Ansinnens gerunzelt, aber er hatte ihn von der Notwendigkeit überzeugen können. Jener Chef würde bei der Besprechung höchstpersönlich anwesend sein; vermutlich wollte er sich ein schärferes Bild von seinem Neuzugang aus der Großstadt machen. Das sorgte bei Mader im Vorfeld für eine gewisse Anspannung.

      Er musste jetzt los. Die stark profilierten Sohlen seiner Boots erzeugten auf dem lindgrünen Linoleumboden Knarzgeräusche, als er über den Flur zum Besprechungsraum eilte. Er trat nichtsahnend ein – und viele Köpfe fuhren herum, Augenpaare hefteten sich, unverhohlen neugierig, auf ihn. Dem Anschein nach waren alle anderen Teilnehmer bereits vollzählig eingetroffen.

       Scheinen durch die Bank von der überpünktlichen Sorte zu sein, meine werten Kolleginnen und Kollegen. Muss ich mir unbedingt merken.

      Er postierte sich vor der großen Magnettafel, die die gesamte Rückseite des Raumes einnahm und begann unverzüglich damit, über die bislang bekannten Fakten zu referieren. Er pinnte Tatortfotos auf die noch schneeweiße Fläche und schrieb routiniert ein paar Bemerkungen darunter. Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch die Reihen seiner Kollegen, als die Fotos mit den Schüsseln dran waren.

      »Nach diesen ersten Erkenntnissen müssen wir davon ausgehen, dass der Täter … sagen wir mal, psychisch nicht gesund ist. Der Sinn seiner sorgfältigen Inszenierung verschließt sich mir bislang noch, aber die Darstellung weist auf einen Zusammenhang mit der Walpurgisnacht hin.«

      Gemurmel machte sich breit, manch einer tuschelte mit seinem Sitznachbarn. Auf Maders Stirn bildete sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.

      »Leute, bitte! Wenn es zum Fall etwas zu sagen gibt, würde ich es ebenfalls gerne erfahren. Über das heutige Mittagessen in der Kantine können Sie sich auch nach der Besprechung unterhalten«, rügte er, nur halb im Scherz.

      Eine der eifrigsten Schwätzerinnen meldete sich zu Wort, eine junge Frau von vielleicht Anfang dreißig. Sie besaß eine süße Himmelfahrtsnase und braune Kulleraugen, trug ihr langes Haar zum Pferdeschwanz gebunden.

      »Ja?«

      »Marit Schmidbauer, ich bin Ihnen bislang noch nicht vorgestellt worden. Wir … ähm … haben uns gefragt, ob Sie mit den Sagen und Legenden dieser Gegend hier schon genauer vertraut sind. Weil Sie doch nicht aus dem Harz stammen … «

      »Sie meinen diesen Hexenblödsinn? Ich habe davon gehört. Ob der zerbrochene Besen überhaupt zum Tatort gehört oder einfach nur von einer Feiernden dorthin geworfen wurde, müssen wir erst noch herausfinden«, antwortete Mader in abfälligem Tonfall.

      Die Schmidbauer verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

      »Dann wissen Sie also auch, was es, jedenfalls der Sage nach, mit den Schüsseln auf sich hat?«, fragte sie trotzig.

      »Nein, aber Sie anscheinend. Dann mal raus mit der Sprache«, sagte Mader, jetzt etwas freundlicher. Er durfte es sich mit der Belegschaft keinesfalls gleich zu Beginn verderben.

      »Also gut. Ich gebe eine Geschichte wieder, die bei uns in der Region bereits jedes Kleinkind kennt. Klar, es ist nur eine Sage, aber sie scheint auf frappierende Weise zu unserem Tatortszenario zu passen. Eventuell könnte das ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass der Täter aus der näheren Umgebung des Brockens, zumindest aber aus dem Harz stammt. Also:

      Jährlich findet in der letzten Nacht des Aprils eine schauerliche Zusammenkunft auf dem Brocken statt. Der Teufel höchstpersönlich lädt seine Hexenund Zauberdiener zum wichtigsten Hexensabbat ein. Daher nennt man den Berg auch Blocksberg.

      Sobald Mitternacht vorbei ist, kommen von allen Himmelsrichtungen die teuflischen Bundesgenossen auf ihren Untieren, Mistforken und Besen herbeigeritten. Sind alle beisammen, tanzt die Gesellschaft unter lautem Jauchzen bis zur Erschöpfung um ein loderndes Feuer. Anschließend begibt sich der Regent der Unterwelt zur Teufelskanzel, von wo er über Gott, dessen Lehre und die Engel lästert. Danach lädt er die Anwesenden zu einem teuflischen Mahl, das auf dem Hexenaltar zubereitet wird.

      Das Mahl besteht nur aus einer einzigen, scheußlichen Zutat. Jene Hexe, welche zuletzt den Brocken erreicht, muss wegen sträflicher Vernachlässigung der teuflischen Etikette nach einer letzten glühenden Umarmung mit dem Höllenfürsten sterben. Dann wird ihr in Stücke gerissener Körper in die Hauptschüsseln des Festessens verteilt und den Gästen vorgesetzt.

      Sobald sich der Morgen ankündigt, bricht die Schar der Hexen überhastet in alle Windrichtungen auf. Die Menschen, die rund um den Brocken wohnen, schützen sich in diesen Tagen, indem sie drei Kreuze an Haustüren und Ställen anbringen. Die bösen Geister sollen so auf ihrem Hinund Rückflug von Zaubereien an Unschuldigen abgehalten werden.«

      Anstelle einer Äußerung drehte sich der Kommissar zur Magnettafel um, schrieb die Worte Hexensabbat: zerbrochener Besen, 11 Portionen Hexenfleisch neben die Tatortfotos. Um die Zahl 11 zog er schwungvoll einen roten Kreis. Danach wandte er sich wieder Marit Schmidbauer zu.

      »Ich muss sagen, Ihre Theorie klingt insoweit logisch. Aber wieso ausgerechnet elf? Ist diese Zahl mythologisch belegt?«

      Die Angesprochene schüttelte ratlos den Kopf und er sah aus dem Augenwinkel auch andere Kollegen die Schultern zucken.

      »Okay, dann lassen wir das mal so stehen. Sobald wir die Identität der Toten geklärt haben, müssen wir nachforschen, ob sie vielleicht mit einem hiesigen Heimatkulturverein in Verbindung stand oder welchen Bezug sie sonst zu dieser Hexensage gehabt haben könnte.«

      Maders Blick wanderte in den hinteren Teil des Raumes, wo Revierleiter Remmler, gleich einem unbeweglichen Felsbrocken, dasaß und zuhörte. Seiner Miene konnte man weder Zustimmung noch Ablehnung entnehmen. Scheinbar war das bei ihm normal, er hatte neulich Kollegen auf dem Flur schon scherzhaft über eine sehr wahrscheinliche Gesichtslähmung spekulieren hören. Nun wusste er warum.

      Plötzlich überkam ihn eine Eingebung.

      »Herr Müller, haben Sie


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