Der Brockopath. Marie Kastner

Der Brockopath - Marie Kastner


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Was ist mit dem Wirt des Brockenhotels, der war doch sicher die gesamte Zeit vor Ort?

       Vielleicht kursieren im Internet Fotos aus dieser Nacht, in den sozialen Netzwerken oder auf You Tube. Heutzutage findet sich doch jeder Blödsinn im Netz, was für polizeiliche Ermittlungen gar nicht so übel ist. Falls meine Leute bei ihren Recherchen nachher fündig werden sollten, sähe man die genauen Wetterverhältnisse und womöglich hat jemand sogar zufällig das Leuchten des Feuerscheins aufgenommen.

      Mader ging kopfschüttelnd in die Hocke, schnupperte wie ein Spürhund. Falls ihn nicht alles täuschte, hatte das Feuer tatsächlich erst in der vergangenen Nacht gebrannt. Zwar fühlte sich der Boden darunter nicht mehr warm an, doch das war bei diesen Temperaturen und dem rauen Wind, der unablässig übers Plateau fegte, kein Wunder.

      Die Schüsseln beherbergten blutige Klumpen, dazu die Hände und Füße des Opfers. Die vier Gliedmaßen der bedauernswerten Toten schienen demnach nicht etwa ordentlich tranchiert, sondern dilettantisch auseinandergesägt worden zu sein, vermutlich in großer Eile. Es fanden sich keine glatten Schnittkanten.

      Mal abwarten, ob das Müller genauso sieht. Ein Metzger oder Chirurg scheint unser gestörter Killer also schon mal nicht zu sein, grübelte Mader und fotografierte das ekelerregende Szenario, wie üblich, von sämtlichen Seiten gleich mehrfach.

      Die beiden Kerle von der Spurensicherung waren noch eifrig beim Torso zugange, sie packten soeben einen zerbrochenen Reisigbesen ein. Den hatte Mader vorhin im Vorübergehen zwar liegen sehen, jedoch noch nicht bewusst mit dem Tatort in Verbindung gebracht.

      Jetzt aber dämmerte ihm, dass der Mörder wohl ein Meister der Inszenierung sein musste. Er hatte ganz bewusst eine Kulisse aufgebaut, das Opfer hingebungsvoll in Szene gesetzt. Aus welchen Motiven heraus oder zu welchem Zweck, das mussten sie nun in akribischer Kleinarbeit herausfinden. Dies hier sah wie eine Art krankes Abendmahl aus und die Zahl elf schien dabei eine tragende Rolle zu spielen.

      Zehn Schüsseln und dazu der Torso – das machte summa summarum elf … damit schieden religiöse Motive vermutlich aus. Sonst hätten es zwölf Teile sein müssen. Aber sicher konnte man bei Psychopathen halt auch nie sein, vorschnelle Schlussfolgerungen verboten sich grundsätzlich. Vielleicht hatte dieser Wahnsinnige sich in seiner Erregung nur verzählt.

      Hatte es mehrere Mittäter gegeben, ließ sich die Anzahl der Schüsseln vielleicht auf diese Weise erklären? Doch war es wirklich denkbar, dass sich sage und schreibe elf Personen an diesem Verbrechen beteiligt hatten?

       Eine Sekte, Teufelsjünger … was weiß ich, welche Gestörten hier meinten, in der Nacht zum ersten Mai eine Frau opfern zu müssen … ich werde die Kollegen fragen müssen, ob sie hier in der Gegend schon mit Kulthandlungen von Satanisten zu tun hatten. Das ist der Nachteil, wenn man als Zugereister keine Ahnung von der hiesigen Volksseele hat.

      Und welche Rolle spielte der kaputte Besen? Sein Gehirn weigerte sich, das Naheliegende in Erwägung zu ziehen. Eine beim Fliegen abgestürzte Hexe, die von ihren skrupellosen Artgenossinnen verspeist wird … eine solchermaßen alberne Idee schien ihm selbst für die kranke Fantasie eines oder mehrerer Psychopathen überzogen zu sein.

      Kommissar Mader unterdrückte aufkommende Übelkeit, entfernte sich ein Stück weit vom blutigen Menschenfrikassee. Er wollte sich in der näheren Umgebung nach den Klamotten des Opfers umsehen, denn schließlich war die Frau in dieser Kälte sicher nicht unbekleidet hierhergekommen, bevor sie auf ihren Mörder getroffen war.

      Er fand nichts dergleichen, obwohl er sein Suchgebiet immer mehr ausweitete. Der Irre musste die Kleidung mitgenommen und woanders entsorgt, oder als Trophäe behalten haben – was dann doch wieder für einen Einzeltäter gesprochen hätte. Bei dieser gestörten Sorte Mensch musste man mit allem rechnen.

      Mader stieß, einige Meter vom Tatort entfernt, unverhofft auf eine verwitterte Schautafel aus Holz, die den Touristen die Sehenswürdigkeiten des Brockenplateaus erläutern sollte. Genauer gesagt, wäre er im Nebel fast dagegen geprallt. Er studierte die Aufschrift:

       Hier im Bereich der Teufelskanzel und des Hexenaltars verbrachte Goethes Dr. Faust die Walpurgisnacht. Die Walpurgisnacht ist die Nacht zum 1. Mai, in der Hexen ganz Deutschlands den Winter vertreiben, indem sie mit ihren Reisigbesen den letzten Schnee vom Brocken fegen.

      

      Nun ja, diese Hexe würde jedenfalls nie wieder irgendwo fegen. Aber die Symbolhaftigkeit der Tatumstände konnte man kaum übersehen. Ein direkter Bezug zur Walpurgisnacht schien Mader nach alledem mit hinreichender Sicherheit zu bestehen. Diese Erkenntnis machte die Sache allerdings nicht einfacher.

      Er las weiter, auf der Tafel fand sich nämlich auch ein Reim:

       Die Hexen zu dem Blocksberg ziehn, die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün, dort sammelt sich der wilde Hauf, Herr Urian sitzt oben auf.

      

      Herr Urian? Wer, zum Teufel, war Herr Urian? Er würde später eine Menge an Informationen aus dem Internet googeln müssen, um bei der ersten Dienstbesprechung nicht gleich als völliger Depp dazustehen. Zudem musste er schleunigst eine Sonderkommission ins Leben rufen, um schnelle Fahndungserfolge vorweisen zu können.

      Um sich die Reaktionen der Presse auf die blutige Brockensensation vorzustellen, brauchte es nur wenig Vorstellungsvermögen. Dieser höchst mysteriöse Fall würde zweifellos bundesweit Beachtung finden, was natürlich ihn und seine Leute noch zusätzlich unter Erfolgsdruck setzte. Eine zügige und lückenlose Aufklärung dieses außergewöhnlich abscheulichen Verbrechens tat not, keine Frage.

      An diesem Fall würde sich seine weitere Karriere entscheiden, das war Mader sonnenklar. Dieser Punkt war für sein Ego nicht minder von Bedeutung, er konnte als ehrgeizig gelten und wollte nicht vor einem Haufen verschworener Provinzler kapitulieren. Er war damals aus purem Idealismus zur Polizei gegangen – und der wollte, nein, musste auch heute noch unverändert befriedigt werden. Ein Bernd Mader war eben keineswegs der Typ Polizist, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhte.

      Katastrophe oder goldene Chance zur Bewährung im Revierkommissariat Wernigerode? Bislang wusste Mader noch nicht, wie er diesen ersten und zugleich sehr komplexen Mordfall in seiner neuen Wahlheimat einschätzen sollte.

      Eine seiner Befürchtungen hatte sich damit jedenfalls erledigt. Er würde in dieser beschaulichen Ecke Deutschlands keine ruhige Kugel schieben und sich langweilen müssen, wie seine Dresdner Kollegen grinsend prophezeit hatten.

      *

       2. Mai 2016

      

      Das Revierkommissariat Wernigerode lag im Sonnenschein, nur ein paar harmlose Schönwetterwolken schoben sich wie eine Schafherde über den blassblauen Himmel. Auf dem Nicolaiplatz tummelten sich rund um den Göbelbrunnen, den eine riesige Steinkugel zierte, schon am frühen Vormittag eine Menge Leute. Vermutlich hatten viele Arbeitnehmer frei genommen und den Feiertag Christi Himmelfahrt dazu genutzt, sich in dieser Woche einen Urlaubstag einzusparen.

      Die Temperaturen sollten heute über fünfzehn Grad hinaus klettern, und so rüstete sich die angrenzende Gastronomie für sonnenhungrige Gäste, indem die Außentische eilig abgewischt und für das Mittagsgeschäft einladend hergerichtet wurden. Eine flinke Bedienung verteilte gerade cremefarbene Sitzpolster auf den hellbraunen Korbstühlen.

      Bernd Mader konnte die Frühlingsidylle nur durch sein Bürofenster betrachten. An Urlaub brauchte er wegen des Brockenmordes nicht im Traum zu denken. Dabei hätte er den für seine Renovierungsarbeiten benötigt und sich das Städtchen Wernigerode gerne etwas näher angeschaut. Auf der Fensterbank lag ein Farbprospekt, den das Revier im vergangenen Jahr anlässlich eines Jubiläums zum Tag der offenen Tür hatte drucken lassen. Das Dienstgebäude war auf der Titelseite abgebildet und auf Seite zwei gab es Erläuterungen für auswärtige Besucher:

       Mit ihren rund dreiunddreißigtausend Einwohnern hat die Stadt Wernigerode eine überschaubare Größe,


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