Der Brockopath. Marie Kastner

Der Brockopath - Marie Kastner


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ihm Schmerzblitze die Halswirbelsäule hinunter. Es fühlte sich fast so an, als sei ein glühend heißes Kabel zwischen Hinterkopf und Rückenmuskulatur eingebaut, welches bei jedweder Bewegung am Knochen scheuerte und Schmerzreflexe auslöste.

      Verdammte undichte Fenster, sicherlich habe ich mir in der Nacht einen Zug geholt! Ich muss so bald wie möglich in den Baumarkt nach Wernigerode fahren, Material zum Abdichten holen. Das Dach müsste ebenfalls isoliert werden, auf alle Fälle noch vor dem nächsten Winter, sinnierte der dreiundvierzigjährige Kriminalbeamte seufzend, während er seinen schlafwarmen Kater vorsichtig von seinem Lieblingsplatz zwischen den Knien hob und ihn anderswo auf der Daunendecke platzierte.

      Stubentiger Felix öffnete eines seiner grasgrünen Augen, rollte sich dann wieder zusammen und gab einen zufriedenen Seufzer von sich. Anschließend befand er sich wieder im Katzentraumland. Ja, manchmal war Mader neidisch auf das silbergrau getigerte Fellbündel, das ihm erst vor vier Wochen zugelaufen und zu seinem verlässlichsten Freund geworden war.

      Im Badezimmer beschränkte er die Morgentoilette darauf, sich einen Schwall kaltes Wasser ins müde Gesicht zu werfen, sich die Zähne zu putzen und kurz durch die Haare zu fahren.

      Ich kenne dich Wrack zwar nicht, wasche dich aber trotzdem, dachte er schwarzhumorig beim Blick in den Spiegel. Ein attraktiver, aber mitgenommen aussehender Mann in den besten Jahren starrte ihm entgegen. Kantiges Kinn, leuchtend blaue Augen, braunes, stoppelkurz geschnittenes Haar und Dreitagebart … die Damen standen auf ihn. Dennoch hatte Sabine ihn wegen eines Anderen verlassen. Der Schichtdienst … viele Polizistenehen endeten bekanntlich auf ähnliche Weise. Er würde sich künftig nie wieder festbinden, aus die Maus.

      Er schlurfte in die Küche, fütterte die neu angeschaffte Kaffeemaschine mit einem Pad und kramte in einer der gelblich lackierten Schubladen unter der Arbeitsplatte der altmodischen Küchenzeile nach dem Fahrplan der HSB. Seit gestern galt der Sommerfahrplan und die Züge der Schmalspurbahn fuhren das Brockenplateau wieder häufiger an. Er würde sich sehr beeilen müssen, um rechtzeitig zur Abfahrt um zehn Uhr fünfundzwanzig am Bahnhof Wernigerode einzutreffen, stellte er erschrocken fest. Der Zug sollte laut Fahrplan, wie anno dazumal, mit einer Dampflok bespannt sein.

      Wenn seine Dresdner Kollegen wüssten, wie schwierig es hier sein konnte, überhaupt bis zu einem Tatort zu gelangen … nun, sie hatten ihn ja eindringlich davor gewarnt, sich in die tiefste Provinz versetzen zu lassen. Jetzt hatte er den sprichwörtlichen Salat, konnte nicht mehr kneifen.

      Natürlich hatte er die Kollegin von der Leitstelle gefragt, ob man nicht einfach mit dem Auto auf den Brocken fahren könne. Sie hatte verneint und angemerkt, dass man hierzu eine Sondergenehmigung der Naturschutzbehörde benötigen würde und die schlecht befestigten Wege um diese Jahreszeit ohnehin nur mit Schwierigkeiten befahrbar wären.

      Die andere Möglichkeit, eine Zugfahrt zu vermeiden, sei der Kremser, hatte Celia amüsiert gesagt. Man könne sich mit einem Pferdefuhrwerk in ›nur‹ zwei Stunden hinauf zum Gipfel chauffieren lassen.

      Na toll, er hatte sich zum Gespött einer Zwanzigjährigen gemacht.

      Hektisch schlüpfte Bernd A. Mader, wie auf seinem Klingelschild zu lesen stand, in verwaschene Jeans, einen groben flaschengrünen Strickpullover und seine heißgeliebten Doc Martens-Boots, angelte die gefütterte Rindslederjacke vom Kleiderrechen und nahm einen großen Schluck Kaffee aus der geblümten Jumbotasse. Die Eile brachte ihm eine verbrannte Unterlippe sowie eine schmerzende Zunge ein.

      Ei, verbibbsch … der Tag fängt ja gut an!, dachte er auf Sächsisch. Fluchend schnappte er sich den Autoschlüssel, zog die Haustür nur hinter sich zu, anstatt noch abzusperren. So abweisend, wie das Haus im Moment von außen aussah, würde sich ohnehin kein Einbrecher freiwillig damit abgeben.

      Mit quietschenden Reifen fuhr der pflaumenblaue Opel Corsa vom Hof. In Dresden war das alte, aber liebenswerte Fahrzeug als Zweitwagen und Winterauto genutzt worden. Die Familienkutsche, einen neuwertigen BMW X 5, hatte seine Frau Sabine behalten – so wie fast alles andere auch, inklusive der gemeinsamen Kinder.

      Am Bahnsteig traf Mader auf zwei Beamte von der Spurensicherung, den glatzköpfigen Gerichtsmediziner Rainer Müller und eine Horde Ausflügler, die auf bequeme Weise den Gipfel stürmen wollten.

      Klar, die werten Kollegen konnten ja auch nicht anders da hinauf gelangen … meine Güte, dann ist der Tatort vielleicht noch gar nicht abgesperrt. Hoffentlich haben die vier Typen vom Bauhof mitgedacht und lassen keine sensationsgierigen Touris in die unmittelbare Nähe der Leiche, dachte der Kommissar erschrocken.

      Der groben Beschreibung nach, die ein Herr Wolters abgeliefert hatte, war der grausige Anblick nichts für schwache Nerven. Zudem bestand die große Gefahr, dass an der Ablagestelle des Leichnams wertvolle Spuren achtlos zertrampelt wurden. Dieser Gedanke machte ihn nervös. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie lange der Bummelzug brauchen würde, um sich bis hinauf zum Brockenbahnhof zu mühen. Bis dahin war der Täter wahrscheinlich längst über alle Berge und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Zeit arbeitete in diesem Mordfall von Anfang an gegen ihn.

      Die Kollegen schienen all das lockerer zu nehmen. Sie scherzten ausgelassen miteinander, so als würden sie zu einem heiteren Regenausflug ins Grüne aufbrechen. Seine Wenigkeit hatten sie zwar alle mit Handschlag begrüßt – vermutlich, weil das Dienstrang und Höflichkeit geboten –, doch jetzt stand er wieder ein Stückchen abseits, wurde nicht mehr behelligt. Bislang hatten die eingeborenen Provinzler weder mit ihm noch er mit ihnen richtig warm werden können. Er wusste nicht einmal zu sagen, ob er das bedauerte.

      Endlich. Der Zug dampfte mit fünf Minuten Verspätung gemächlich auf dem Schmalspurgleis heran und es roch penetrant nach Öl und anderen Schmiermitteln. Drei historische dunkelgrüne Personenwaggons zog die kleine Lokomotive hinter sich her. Quietschend bremsten die Räder. Metall schleifte auf Metall und die Lokomotive stieß laut zischend eine riesige Dampfwolke aus. Aus einem Lautsprecher über dem Bahnsteig verkündete eine blechern schnarrende Stimme, dass der Zug 8925 abfahrbereit an Gleis drei stehe. Die Fahrgäste mögen bitte sofort einsteigen und an der Bahnsteigkante Vorsicht walten lassen.

      Am Bahnhof Wernigerode schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Keine hochmodernen, aerodynamischen Züge waren hier zu sehen, man hätte sich mit ein bisschen Fantasie auch in den Siebzigern oder Achtzigern befinden können. Die einzigen Zutaten, die für eine perfekte Illusion fehlten, waren Schlaghosen, Hemden mit riesigen Kragen und Vokuhila-Frisuren.

      Unter normalen Umständen hätte er sich näher für die Baureihe der Lok interessiert, Fotos geschossen und die Fahrt genossen, aber dies waren eben keine normalen Umstände. Es war für ihn vielmehr eine Reise ins Unbekannte und, in beruflicher Hinsicht, eine Art Bewährungsprobe. Die neuen Kollegen würden mit Argusaugen beobachten, was der Neuzugang aus der Stadt so draufhatte.

      Bislang hatte Bernd das Plateau des Brockens noch nie betreten, war seit seinem Umzug nicht dazu gekommen. Früher, zu DDR-Zeiten, war dies ohnehin militärisches Sperrgebiet gewesen, und nach der Wende hatte sich Omas Interesse an diesem Berg weiterhin in engen Grenzen gehalten. Sie war ein bisschen abergläubisch, auch das mochte bei ihrer Verweigerungshaltung eine Rolle gespielt haben. Weiter als bis nach Schierke zu ihrer alten Schulfreundin war sie mit der Brockenbahn niemals gekommen. Kein Wunder, der Harz strotzte nur so vor Sagen über Teufel, Hexen und andere Ausgeburten der Hölle.

      Der Kommissar stieg als erster ein, wählte einen Fensterplatz. Die restlichen Ermittler platzierten sich eine Reihe weiter vorn, genauso, wie er das erwartet hatte. Nicht zu weit entfernt, aber auch nicht direkt neben ihm. Man musste kein Psychologe sein, um diese Konstellation zu analysieren.

      Er musste sich eingestehen, dass er die eingeschworene Kameradschaft seiner Dresdner Dienststelle vermisste, besonders seinen Partner Maik. Abgesehen von einer prima Zusammenarbeit waren sie auch privat eng befreundet gewesen. Maikie hatte immer ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte gehabt. Während der belastenden Trennungsphase, als der Sorgerechtsstreit eskalierte, war er ihm hilfreich zur Seite gestanden und hatte bei Sabine umsichtig als Vermittler fungiert. Einen solchen Partner und Freund würde es kein zweites Mal geben.

      Der Zug füllte sich, war bald bis auf


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