Der Papst kommt. Andrea Hensgen
oder bloß an den nächsten Tag. Kaum steigt er am Abend die Treppe hinunter, an der blauen Pappfigur vorbei, verliert die Arbeit jede Bedeutung. Selbst während der Stunden im Büro denkt Kolja an dies und das, während er Analysen erstellt, Bewertungen verfasst, Änderungen vorschlägt, ganze Abschnitte niederschreibt, als hätte er sie auswendig gelernt. In diesem Unternehmen stellen sich die Dinge erstaunlich überschau- und lösbar dar, für Kolja nichts mehr und nichts weniger als eine halbjährige, recht entspannte Zwischenphase. Nach Karlsruhe wartet Wolfsburg, erst in einem Jahr wird er nach Frankfurt zurückkehren.
Kolja streckt seine Beine bis zum Ende des Liegestuhls aus, dehnt die Spitze des linken Fußes nach vorne und wendet ihn zu sich zurück, eine kleine Anspannung, um sich darauf einzustimmen, gleich aufzustehen. Selten sind seine nackten Füße der Sonne oder gar spitzen Steinen und Dornen ausgesetzt.
Zwei Wege gab es zu ihrem geheimen Versteck. Der gewöhnliche Weg führte an den Feldern entlang, mit freier Sicht über das Gewinkel der Häuser und Schuppen, ein erdiger, breit gefahrener Weg, staubiggelb im Sommer, tellergroße Pfützen später im Jahr. Zwei Mal am Tag traten ihn die Kühe fest und kahl. Das Kind lief ihn meist hinab, im Spiel, in Gedanken.
Den geheimen Weg hatten die Großen aufgegeben. Mit den Jahren hatte ihn einer der Bauern seinem Besitz zugeschlagen, als verwilderte Grenze an der Rückseite seines Hofs. Kopfhoch wucherten auf beiden Seiten Brennnesseln und verwehrten den Kindern einen Himmel voller Brombeeren.
Selbst nach einem Sommertag in der Grasmulde zwischen beißenden Blättern und dornigen Hecken waren zerkratzte Kinderbeine flinker als der lauernde Hund des Bauern.
Er streicht über Oberschenkel, Knie und Waden, über die glatte, trockne Haut und gibt sich dem Glauben hin, ohne sein Zutun habe sich nun eine Reinigung vollzogen, mit dem Schweiß sei der Schmutz aus ihm gedrungen, und diese Ruhe und Muße habe seinen Geist geklärt, von Banalem geleert – übertrieben laut stößt er den Atem aus.
Dabei gibt es keinen ernsthaften Gedanken, keine beständige Frage, die aufsteigen könnten, sobald das Alltägliche nicht weiter zerstreut. Karlsruhe erweckt in Kolja den Eindruck, als genüge es, ruhig seine Angelegenheiten zu betreiben, sieht man einmal von der Aufregung rund um den Papstbesuch ab – und diese Stimmung ist verführerisch. Wenn die Stadt schon nicht viel Spannendes zu bieten hat, warum denn nicht sich für ein halbes Jahr der Illusion überlassen, hier in der Provinz gingen die Dinge ihren rechten Gang, fernab der Krisen in der Welt.
Seine nächsten Stationen werden ihn früh genug aus dieser Enklave geistiger Trägheit vertreiben, wobei sich an seinem Zustand des Ungebundenseins so schnell nichts ändern wird. Mit dem Auszug der Kinder begann die Arbeit in wechselnden Städten und das Fehlen eines Alltags, wie ihn nur Familie schafft. Daran gewöhnte sich Kolja erstaunlich leicht und genießt es mittlerweile, dass es da niemanden mehr gibt, der mit Ansprüchen auf ihn warten könnte, Abend für Abend nach der Heimkehr aus dem Büro.
Kolja richtet sich auf, das Handtuch rutscht von den Hüften. Er lässt es zu Boden fallen und tritt darauf. Die Fußbodenkacheln sind unangenehm heiß.
Hier in Karlsruhe verschränkt es sich in seltsamer Weise, ein harmloses Umfeld und dazu keinerlei private Scherereien. Beides fehlt, Freunde und Bekannte mit den üblichen Sorgen und Nöten, und ebensowenig sind Kolja bislang Brüche oder Kerben im Stadtbild vor Augen geraten.
Aus anderen Städten kennt Kolja trostlose Viertel, mit seit langem aufgegebenen Fabrikhallen, Fenster und Türen mit Latten vernagelt, und Gebäuden, die unaufhaltsam der Rückkehr der Natur erliegen, Unkraut aus zerbrochenen Fensterscheiben und Efeu über eingefallenen Dächern. Im Umkreis der Stadt will man hier weder Gebäude noch Plätze der Verwahrlosung überlassen.
Es fühlt sich an, als zöge Karlsruhe einen Rand um sein Leben, einen leeren Streifen, der Woche um Woche breiter wird, dabei gibt es doch nichts in dieser Stadt, wozu Kolja Abstand schaffen, wovor er sich schützen müsste.
Zwei Mal hat Simona ihn in der vergangenen Woche angerufen um ihn einzuladen, sie auf ihren Stadterkundungen zu begleiten. Sie trägt es ihm zu offensichtlich an, als dass er diesen Wunsch erfüllen wollte.
Die Rezeption ist leer, Fernsehstimmen verraten die Anwesenheit des Abendportiers im Nebenzimmer. Mit einem Knopfdruck öffnet Kolja die Tür, geräuschlos gleiten die Glasscheiben zur Seite.
Während des kurzen Heimwegs begegnet ihm niemand auf der Straße. Kolja sieht in erleuchtete Zimmer. Geschwungene Lampen, bunt gefüllte Bücherregale, Landschaftsbilder und Fernsehflimmern, Zeichen der Geborgenheit am Abend, wenn alles getan ist und zwischen Eheleuten belanglose Sätze fallen, zu nichts weiter gut, als sich gedankenlos der jahrzehntelangen Vertrautheit zu versichern.
Immer wieder irritiert es Kolja, dass Leute dazu imstande sind, sich zwei, drei Stockwerke über Kneipen, Lokalen und Einkaufsläden ihr eigenes Leben einzurichten, unberührt von dem Treiben unter ihnen. Keine Stunde lang könnte sich Kolja einer Arbeit oder bloß einem Buch widmen, stiege zugleich der Lärm von Musik, klapperndem Geschirr oder lauten Gästen zu ihm auf.
In anderen Städten war es Kolja nicht aufgefallen, dass Gasthäuser und Kneipen sich zum größten Teil auf den überschaubaren Bereich in der Stadtmitte beschränken, innerhalb der Grenzen von Karlsruhes früheren Stadttoren. Gleich dahinter beginnen gediegene, gutbürgerliche Viertel.
Wie in Frankfurt, nur ein paar Schritte entfernt vom Bahnhof, hat Kolja hier eine Wohnung gefunden. Statt auf Züge und Gleise öffnen die beiden Fenster in seinem Zimmer die Sicht auf einen stillen Innenhof. In seiner Mitte eine große Rasenfläche, umringt von alten Kastanien und einem breiten, hellen Sandweg an allen Seiten. Bänke stehen dort unten, Spielgeräte und für die Jugendlichen eine Tischtennisplatte.
An den Wochenenden, an denen Kolja bislang tagsüber zuhause war, lag der Platz wie ausgestorben da. Wahrscheinlich haben die Kinder, deren Eltern vor Jahren die Einrichtung des Spielplatzes in Gang brachten, dieses Wohnkarree längst verlassen. Im Eingangsflur und auf der Treppe ist Kolja ein paar Mal älteren Leuten begegnet und Nomaden von seiner Sorte.
Zwei hohe Eisentore an den beiden Längstseiten des Karrees versperren mit Beginn der Dunkelheit Fremden den Zugang zu dem Hof.
Kolja hält inne, lehnt sich an das Tor und sucht mit den Augen tief in dieses Schwarz einzudringen. Hunderte von Menschen schlafen nun in den Zimmern in den Wohnungen in den vier Seiten des Karrees. Gäbe es einen Ort, der stumm umfasste, wovon die Schlafenden sich nun endlich lösen in der Nacht, könnte es dieser verlassene, finstere Hof sein, in dem es niedersänke, zur Ruhe käme, dieser unentwirrbare Rest, den man am Ende des Tages mitnimmt in den Schlaf.
Die Kunsthalle
Simonas Sohn öffnet die Tür. Stöpsel baumeln von seinen Schultern, auch ansonsten enttäuscht er nicht hinsichtlich der üblichen Attribute eines knapp Neunzehnjährigen. Die Haare fallen tief in die Stirn, bis über die halb geschlossenen Augen, am Kinn ein weicher, dunkler Flaum, die Hose hängt tief unter den Hüften, und ein lapidares „’n Abend, da geht’s lang!“ weist Kolja den Weg.
Da packt ihn der Übermut, mehr aus dem Kerl herauszuholen.
„Guten Abend. Mein Name ist Kolja. Was hörst Du denn gerade?“
Mit dem Kinn weist Kolja auf die Stöpsel, in dem Jungen pfeift alles zur Abwehr.
„Kennen Sie nicht.“
Mehr wird er nicht sagen.
„Und Du spielst Tennis?“
Koljas Blick springt zu dem Schläger in einer Hülle, die hinter dem Jungen zwischen Stiefeln und Regenschirmen klemmt.
„Nö, der gehört Fritz!“
„Und Du, machst Du was Richtung Sport?“
„Ich schwimme.“
„So richtig, ich meine wettkampfmäßig in einem Verein?“
„Ja.“
„Und, bist Du gut?“
„Bin zufrieden.“